Die Bedeutung der Kantschen Kritik der Gottesbeweise

[101] Die Mitte des Kantschen Ansatzes in sich selber

Wir gehen, auf diesen geschichtlichen Horizont als auf seine Peripherie aufmerksam geworden, nun auf die Mitte des Kantschen Ansatzes in sich selber zu. Wir tun es in drei Etappen: Zunächst blicken wir auf die Grundbeobachtung, welche Kants Verständnis der theoretischen Erkenntnis in Gang bringt, sodann auf den Begriff dessen, was Gott hier heißt, als auf das äußerste Ende und die weittragendste Konsequenz solchen Ansatzes, schließlich auf das Verständnis und die Kritik, welche von solchem Anfang her und auf solches Ende zu die überlieferten Gottesbeweise in Kants Gedanke erfahren.

  1. Um auf Kants Ansatz zu stoßen, achten wir vorderhand, nochmals absehend von Kant, unmittelbar aufs Phänomen der Erkenntnis – wir stecken das Feld ab, in welchem sein Ansatz sich birgt. Ich erkenne etwas, das heißt doch: ich erkenne, wie es ist. Wenn ich erkennen will, so geht es mir um die Wahrheit, darum, daß ich mir denke, wie es ist, daß ich aber dabei nicht nur denke, wie es ist, sondern daß es ist, wie ich denke. Es ist, wie ich denke, das heißt: Es ist in Wahrheit so, mein Gedanke entspricht dem, was kein bloßer Gedanke ist, sondern die Wahrheit. Indem ich die Wahrheit aber erkenne, ist das, was nicht nur mein Denken ist, in meinem Denken, ist es selbst mein Gedachtes geworden.

    Genauer betrachtet, verhält es sich auch schon beim bloßen Denken entsprechend: Wenn ich mir bloß etwas denke, so habe ich noch keineswegs die Gewähr, daß es ist, wie ich es mir denke, aber mein Denken, und wäre es auch nur ein phantasierendes Denken, meint doch, was ist. Ich denke etwas, das heißt, im Ernst oder spielerisch: So könnte es sein. Der Gedanke, jeder Gedanke ist geleitet von der Hinsicht aufs „ist“, auf mehr als den bloßen Gedanken also, der bloße Gedanke ist schon an sich Selbstüberschreitung im Entwurf, im Vorgriff des Seins.

    Wir können in dieser ersten Beobachtung des Phänomens Erkenntnis drei konstitutive Elemente unterscheiden. Einmal ist es die Wahrheit als das, worum es geht, was zur Erkenntnis ruft, was aber je größer ist als alle einzelne, wenn auch in sich wahre [102] Erkenntnis. Das zweite Element ist das Begegnende, das zur Erkenntnis und so in seine Wahrheit gebracht werden soll, das, was ich erkennen will. Das dritte Element bin ich, der erkennen will, bzw. ist mein Erkenntnisvermögen, in welchem das Begegnende zum Erkannten und so in seiner Wahrheit offenbar wird. Diese Aufzählung der Elemente ist noch gänzlich unkantisch, läßt den Raum für andere Analysen und Selbstbegriffe der Erkenntnis als die Kants offen. Wie nun setzt in diesem Fall der Gedanke an?

    Zwei Grundentscheide Kants zeichnen sich ab, und sie hängen miteinander zusammen.

    Der eine ist der Grundentscheid für die Richtung der Analyse: Sie geht nicht etwa auf das zu, was wir als das erste Element am Phänomen des Erkennens bezeichneten, nicht zu auf die Wahrheit als solche und allem Wahren gewährend überlegene, sie geht vielmehr auf das Wahre zu, auf das, von dem man sagen kann: Es ist wahr. Wenn man aber von ihm sagen kann: Es ist wahr, so läßt sich das Wort „wahr“ auch weglassen, es genügt zu sagen: Es ist – so oder so, dieses oder jenes. Das Urteil als die Stätte der Wahrheit, genauer: das synthetische Urteil, das nicht ein Gedachtes durch sich selbst, sondern ein Gegebenes durch ein Gedachtes bestimmt, somit aber der Gegenstand, das Objekt, dessen Erkenntnis sich im Urteil wesenhaft verfaßt, weist der Kantschen Erkenntnisanalyse ihren Richtungssinn.

    Da es im Zugehen aufs Urteil Kant um den Erkenntniswert dieses Urteils, ums Urteil als wahres geht, gilt sein Interesse jedoch nie primär den zufälligen Einzelurteilen über dieses und jenes, sondern dem, was sie ermöglicht, was ihnen ihre Gewißheit gibt.

    Dieses ist auf der einen Seite die Gegebenheit des Gegebenen, das im Urteil als Subjekt durchs Prädikat begriffen und bestimmt ist, andererseits ist es die Gesichertheit des Prädikatsbegriffes, seines Zukommens zum Subjekt, das heißt aber: die Rückführung der konkreten Einzelurteile auf die Bedingungen ihrer Möglichkeit, aus denen sie ihre Notwendigkeit und ihren Zusammenhang erhalten.

    Es geht Kant also um die Möglichkeit von Wissenschaft, verstanden als Wissenschaft von Gegenständen. Die Möglichkeit von [103] Wissenschaft als Möglichkeit gesicherter, in ihrer Notwendigkeit und in ihren Zusammenhang durchsichtig gefügter Gegenstandserkenntnis ist zuletzt die Möglichkeit von synthetischen Urteilen a priori, d. h. von Urteilen, die nicht analytisch aus dem Subjektsbegriff zu gewinnen sind und die gleichwohl alle mögliche Erfahrung umfassen, der Einzelerkenntnis also grundsätzlich voraufgehen, da nie alles, alle Gegenstände begegnen können und am Begegnenden als einem solchen die Notwendigkeit nicht abzulesen ist. Sie liegt im Verstand als dem Inbegriff der Strukturen, durch die das Subjekt im „Ich denke“ die Mannigfaltigkeit des Gegebenen unter die Einheit seiner Apperzeption zu bringen vermag.

    Solches liegt also in der ersten Grundentscheidung auf das Wahre, auf den wahren Gegenstand zu. Wir können sie auch nennen: Entscheidung für Wahrheit als Gesichertheit; denn Wahrheit als die unsicherbare Gewähr schlechthin liegt nicht in dieser Richtung des Hinblicks, sie reflektiert sich nur in der Gesichertheit des Wahren durch sie, an sich selbst aber entgeht sie in die Unsicherbarkeit und kann für die so verstandene Erkenntnis nicht Gegenstand werden. Wir können dieselbe Grundentscheidung auch nennen: Entscheidung für den Grund, in welchem die Gesichertheit selbst beruht, und das heißt: fürs erkennende Subjekt, fürs „Ich denke“.

    Mit dieser ersten hängt eine zweite Grundentscheidung notwendig zusammen: Wenn das Wahre, der Gegenstand, der seine Wahrheit im synthetischen Urteil erbringt, den Richtungssinn der Analyse der Erkenntnis bestimmt, so stellt diese unmittelbar die Frage nach dem Anteil des Satzsubjektes oder Gegebenen und des Prädikates oder Begriffs an der im „ist“ vollzogenen, das Urteil und also den Gegenstand in die wahre Erkenntnis vollbringenden Synthesis. Wir können diese zweite Grundentscheidung bezeichnen als Grundentscheidung für die subtraktive Methode; d. h. die Kritik der Erkenntnis erfolgt, indem vom Gesamtphänomen der Erkenntnis, das sich im Urteil verfaßt, genetisch der Anteil des Begegnenden als eines solchen ermittelt wird und indem umgekehrt stufenweise die Gegebenheit des Gegebenen subtrahiert wird, so daß der gegliederte Beitrag des Erkenntnisvermögens zur Erkenntnis und so dieses selbst in seiner immanenten Gliederung sichtbar [104] werden. Auf dessen Selbstbegriff, aufs Selbstverständnis des „Ich denke“ läuft diese Methode alsdann hinaus, die zweite Grundentscheidung enthüllt sich als Vollzug der ersten.

    Aus der auf dieser Basis ungemein scharfsinnig und einläßlich von Kant durchgeführten Analyse lesen wir nur drei einzelne Züge heraus, die für die Hinsicht unserer Untersuchung entscheidend sind.

    Der erste dieser Züge läßt sich in Kants Satz zusammenfassen: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ (B 75 / A 51) Radikal gefaßt heißt dieses: Das Gegebene, das sich in die Erkenntnis mitbringt, läßt sich an sich selbst gar nicht bestimmen, sondern nur unter den Bedingungen, die es fürs Erkennen bestimmbar machen und die das Erkenntnisvermögen ihm entgegenbringt. Umgekehrt sind Begriffe in sich selbst zwar denkbar, aber ohne Anwendung, wenn sie sich nicht an Begegnendem bewähren.

    Hiermit berühren wir bereits den zweiten Zug: Der Sinn der reinen Verstandesbegriffe ist das Begreifen des Erfahrbaren, theoretische Erkenntnis ist nur innerhalb der Grenzen der Erfahrung, ist nur als Erfahrung möglich. Die im Fall der Gotteserkenntnis wichtigste Anwendung dessen betrifft den Satz der Kausalität, der demnach an der Grenze der Erfahrbarkeit und also Gegenständlichkeit auch die Grenze seiner gesicherten Geltung fürs Erkennen findet. Er bestimmt nur die Regel der Folge innerhalb des Bereiches der Erfahrung.

    Ein dritter Zug, Kants Verständnis der Zeit als des Schematismus der reinen Verstandesbegriffe, verdient wegen seiner Folgen fürs Gottesbild Erwähnung. Die Weise seiner selbst, in welcher das Erkenntnisvermögen das Andere seiner selbst, das Gegebene, berührt, es in sich hineinnimmt und dem begreifenden Verstand erst vermittelt, ist die Sinnlichkeit. Die reinen Formen der Anschauung, in denen sich der Sinneneindruck erst sich gliedernd, unterscheidend und einend zum Angeschauten vermittelt, sind Raum und Zeit, wobei die Zeit als der innere Sinn umgreifender und näher bei der Tätigkeit des Verstandes ist. Die Zeit als reine Anschauungsform des Subjektes ist nun die Stelle der Übersetzung, in welcher die Verstandesbegriffe, in sich schlechterdings unsinnlich, auf Sinnliches anwendbar werden. Differenz und Zu- [105] sammenhang der „Folge“ im zeitlichen und kausalen Sinn mag das als Beispiel veranschaulichen.

    Wir halten fürs Folgende fest: Die Zeit ist der vom erkennenden Subjekt geleistete Vorgriff auf das ihm Begreifbare. Durch die Zeit erst wird für den Verstand etwas zum Seienden, zum Gegenstand; in der umgekehrten Richtung gesagt: was etwas ist, das steht dadurch notwendig unter der Zeit.

  2. Die genannten Züge der Kantschen Analyse des Erkennens geben nun den Blick frei auf den Begriff Gottes, der ihr entspricht.

    Die Grundsätze des Verstandes gewähren der Erkenntnis innerhalb der Grenzen der Erfahrung zwar insofern ihre Einheit, als alle Erkenntnisse, um solche zu sein, unter ihrer Regel stehen. Das Erkannte seinerseits aber ist von ihnen noch nicht zur umgreifenden Einheit gebracht. Diese objektiv vorgestellte Einheit alles Erkannten kann wesenhaft nie im eigentlichen Sinn erkannt werden: alle Gegenstände – dem entspricht nie eine mögliche sinnliche Gegebenheit, Allheit im Sinne alles Möglichen übersteigt per definitionem die Möglichkeit wirklichen sinnlichen Vorkommens, an welcher aber die Objektivität als solche hängt.

    So weisen die Einzelerkenntnisse zwar in sie objektiv umfassende Einheiten, diese selbst entziehen sich aber der Erkennbarkeit, haben also nur regulative Bedeutung für die Erkenntnis. Konkret angewandt: Kant gewahrt über den Begriffen für die Erkenntnis des Verstandes die drei Ideen der Vernunft als die äußersten Horizonte der Einheit des Erkannten, auf welche die Erkenntnis notgedrungen zugeht, ohne sie als Gegenstände bewähren, also theoretisch sichern zu können: die Welt als Inbegriff alles Objektiven, die Seele als Inbegriff und Zusammengriff alles Subjektiven, alles einzelnen „Ich denke“ zum bleibenden Subjekt, schließlich Gott als unbedingter Inbegriff aller Bedingungen aller möglichen Gegenstände. Wenngleich diese Ideen nicht als Gegenstände antreffbar und bewährbar sind, eignet ihnen, nach Kants Ansatz notwendig, doch Gegenstandsstruktur: Es wird in ihnen also ein Was, ein Begriff gedacht, und es wird hinzugedacht, dieser Begriff sei Begriff von etwas, das ist. Nur so sind sie als objektive, wirkliche Einheit dessen, was ist, vorstellbar. Gott wird hier zum transzendentalen Ideal, d. h. zum allervollkommensten Wesen – zur omnitudo [106] realitatis –, dem zugleich notwendige Existenz zukommt, in anderer Richtung gelesen: Er ist notwendige Existenz, welche sich als allervollkommenstes Wesen auslegt.

    An diesem Kantschen Begriff Gottes soll uns noch ein Zug beschäftigen, der ihm verborgen innewohnt und der uns an die Grenze, ja an das Scheitern dieses Gottesbildes hinführen mag. Wir sahen: Wenn etwas ist, so steht es fürs Erkennen unter der Zeit, und die Zeit selbst ist der Vorgriff des Subjekts auf das, was ist. Der Gott Kants ist in der Tat ein Gott unter der Zeit. Entweder er ist gedacht zunächst als reine notwendige Existenz schlechthin, der dann ihr Begriff, ihr Was hinzugeführt werden muß. Als Gott, wahrhaft Gott ist er so erst infolge der Lichtung seines absoluten Daß durchs allervollkommenste Wesen. Oder umgekehrt ist Gott die zeitlos alle Gegenständlichkeit garantierende omnitudo realitatis, zu der dann Existenz als eine dieses Wesen vollendende, so aber zur Göttlichkeit bringende äußerste Vollkommenheit hinzukommt, welche also seine Gottheit – zeitigt.

    Man mag hier einwenden, Kant verstehe doch die Zusammenführung von Existenz und Wesen nicht im Sinne eines zeitlichen Nacheinander. Dies gewiß nicht. Dennoch dürfen, ja müssen wir die Rede vom Sein dieses Gottes unter der Zeit aufrecht erhalten; denn die Gottheit Gottes ist Kant eben die Folge der beiden Konstituentien, Gott ist als causa sui – und somit als causatum sui – gedacht. Er kommt dann aber als Gott, gerade auch wenn er als „ewig“ gedacht ist, innerhalb des Horizontes der Zeit vor, ist aus ihm erst sich zugekommen. Eine eindrucksvolle Stelle der Kritik der reinen Vernunft tut uns das dar: Der Gott Kants ist genötigt, daß er „gleichsam zu sich selbst sage: Ich bin von Ewigkeit zu Ewigkeit, außer mir ist nichts, ohne das, was bloß durch meinen Willen etwas ist, aber woher bin ich denn?“ (B 641 / A 613).

    So eignet im Blick auf die Zeit dem Gott Kants eine eigentümliche Zwiespältigkeit. Er ist einerseits der Garant der Gegenständlichkeit als solcher funktionaler Punkt im Organismus der Erkenntnis, nicht aber primär Partner einer Beziehung, in welcher der Mensch sich, seine Zeit, sein Leben und Sterben ihm verdankt und anheimgibt, er ist also ein in diesem Sinne – im Sinne einer „qualitativen“ Zeit – „zeitloser“ Gott. Andererseits steht sein Gottsein unter dem Horizont der Zeit, verstanden als [107] quantitative Zeit, indem er als höchster Gegenstand vorgestellt, indem sein Sein als aus dem Wesen oder sein Wesen als aus dem Sein folgend verstanden wird. Beide Hinsichten aber, einerseits seine Zeitlosigkeit als Inbegriff und Garant aller Wasgehalte, andererseits seine Zeitlichkeit als „seiender“ Gott verstellen und verfremden seine Göttlichkeit.

  3. Von Kants umrissenem Begriff Gottes ergibt sich der Blick auf seine Kritik der Gottesbeweise von selbst. Im Grunde ist sie – und ist die Einsicht in ihr Recht und ihre Grenze – im Ausgeführten bereits enthalten. Ihr Kern läßt sich in zwei Aussagen zusammenfassen:

    Erstens: Wenn der Grundsatz der Kausalität sich nur auf den Bereich möglicher Erfahrung, auf die Gegenstandserkenntnis also, anwenden läßt, so trägt er naturgemäß nicht hinter diese zurück auf eine erste Ursache hin, die der Erfahrung schlechthin entzogen ist. Eine im Bereich der Gegenständlichkeit erfahrene Wirkung weist je nur auf eine grundsätzlich ebenfalls erfahrbare, somit zeitlich-endliche Ursache, dem regressus in infinitum steht, so betrachtet, logisch nichts entgegen. Also ist der kosmologische Gottesbeweis nicht stringent.

    Zweitens: Wenn Erkenntnis als Existenzerkenntnis nur in der Konkretion von Anschauung und Begriff möglich ist, wenn beide fürs Zustandekommen der Erkenntnis durchgängig und erschöpfend aufeinander verwiesen sind, so führt ein Begriff von sich her nie zur Existenz, auch nicht der Begriff von Existenz, der als Supplement des allervollkommensten Wesens angestrebt wird. Also geschieht im ontologischen Beweis Gottes eine metabasis eis allo genos. Dasselbe gilt vom physikotheologischen, sofern er ein Faktisches mit einer Idee vergleicht.

    Fügen wir dieser Zusammenfassung noch eine dritte Bemerkung hinzu, welche die Kantsche Position noch in schärferes Licht setzt: Kant führt alle Beweise Gottes auf den ontologischen zurück. Die Existenz von etwas als zufällig ansetzen, um so von ihm auf notwendige Existenz zurückschließen, das heißt doch: notwendige Existenz setzen, also eine solche, bei der das Existieren aus der einzigen Quelle möglicher Notwendigkeit – aus dem Begriff – folgt. [108]

    Im Grunde bleibt also die Kritik Kants an den Gottesbeweisen eine Erläuterung seines Satzes: „Gedanken ohne Inhalt sind leer [...]“ (B 75 / A 51).