Fastenhirtenbrief 1986

[2] Liebe Schwestern und Brüder!

Ein Tourist, der die Glasfenster einer Kathedrale anschauen wollte, hatte wenig Glück; er blieb nämlich vor der Kirche draußen stehen. Wer die Herrlichkeit eines bunten Glasbildes sehen will, der muß schon in den Kirchenraum eintreten und die Fenster gegen das Licht betrachten. Wenn Licht in die Scheiben fällt, dann werden sie selber hell.

So ist es auch mit unserem Leben. Vielleicht haben wir den Eindruck, es sei farblos und stumpf. Versuchen wir, es ins Licht zu halten, in jenes Licht, das nicht wir selber uns geben können, ins Licht Gottes. Dann wird unser Leben licht. „In deinem Licht sehen wir das Licht“, sagt uns ein Psalm (Ps 36,10).

Ich kenne viele Menschen, die äußerlich kein besonders glückliches Schicksal hatten. Aber weil sie mit Gott lebten, wurde ihr Leben durchscheinend wie ein leuchtendes Glasfenster, das nicht nur in sich selber hell ist, sondern auch anderen Licht gibt. Wie gerne bin ich etwa mit einem älteren Menschen zusammen, der die schmerzlichen Erfahrungen seines Lebens durchdringen läßt vom Licht der Hoffnung auf den Herrn und so zur Quelle des Friedens und der Gelassenheit für andere wird. Es ließe sich da noch vieles Ermutigende erzählen, gerade von Leidenden, Kleinen, Unscheinbaren. „In deinem Licht sehen wir das Licht.“

Liebe Schwestern und Brüder, das ist nicht nur Anruf und frohe Botschaft für den einzelnen, es geht uns alle an, es geht uns gemeinsam an. Das Licht der Hoffnung und der Zuversicht, das Ja zu Leben und Zukunft drohen in unserer Gesellschaft und auch in unserer Kirche schwächer zu werden. Müdigkeit, Resignation, Mißtrauen, abgründige Ängste breiten sich aus. Da hinein trifft nun die Botschaft aus dem dritten Teil des Jesajabuches: „Auf, werde licht, Jerusalem!“ (Jes 60,1)

Als dieses Wort zum ersten Mal erklang, war es nicht gut bestellt um Jerusalem. Düstere Zeiten, Zerstörung und Verbannung lagen hinter der Stadt und ihren Bewohnern. Die Zukunftsaussichten waren keineswegs rosig. Doch in dieses Dunkel hinein erging die Stimme: „Auf, werde licht!“

Was rechtfertigte solche zukunftsfrohen Töne? Der nächste Satz des Prophetentextes sagt es: „… denn es kommt dein Licht, und die Herrlichkeit des Herrn geht leuchtend auf über dir.“ Gott schien sein Volk und seine Stadt verlassen zu haben. Nun aber wendet er sich ihnen wieder zu. Er selber will kommen und Heil bringen. Es ist, wie wenn nach dunkler Nacht die Morgensonne durch ein Glasfenster dringt und seine Farben zum Spielen und Glänzen bringt.

Auch für uns gilt das: Es genügt nicht, von außen auf die Verhältnisse zu starren, wir dürfen und können unser Leben, unsere Zeit, unsere Welt ins Licht Gottes halten – und wir werden Licht sehen und anderen Licht geben.

[3] Liebe Schwestern und Brüder! „Auf, werde licht, Jerusalem!“, so heißt das Leitwort der Aachener Heiligtumsfahrt 1986. Ich möchte zu ihr wie zu den Heiligtumsfahrten in Kornelimünster und Mönchengladbach, die ebenfalls 1986 stattfinden, herzlich einladen. Diese Heiligtumsfahrten können uns helfen, unser Leben in Gottes Licht zu sehen.

Wieso? werden Sie fragen. Sind die Heiligtümer, diese alten Stücke Stoff, die uns da gezeigt werden, das große Licht, das zu uns kommt? Schauen wir auch diese Heiligtümer einmal nicht von außen an, sondern halten wir sie gleich einem Glasfenster in das Licht Gottes. Dann sehen wir in ihnen Zeichen der Menschwerdung unseres Herrn, seiner dienenden Liebe, seines Leidens und Sterbens.

Er hat uns sein großes Licht nicht angezündet in auffälligen Wundern und Machttaten, sondern in der Demut und Kleinheit seiner armen Menschwerdung und seines ohnmächtigen Leidens und Sterbens. Er hat ganz einfach unser Leben geteilt aus Liebe und so das einzige Licht, das wahrhaft hell macht, uns geschenkt: Gottes Liebe.

Das Evangelium des 1. Fastensonntags zeigt uns dies: Satan möchte Jesus versuchen, durch auffällige Wunder zu Macht und Erfolg zu kommen. Jesus aber lehnt ab. Der Weg der Erlösung, der Weg, auf dem er uns das große und bleibende Licht anzündet, ist der kleine Weg; seine Marksteine heißen Krippe und Kreuz.

So klein ist Jesus geworden, so nahe ist er uns gekommen, er hat uns in unserem Elend, in Schuld und Tod nicht verlassen, sondern gesucht und getragen: dies ist das große Licht, das unser eigenes Leben und unsere eigene Welt hell macht und uns befähigt, Zeugen der großen Hoffnung zu sein.

1986 werden viele Menschen nach Aachen kommen. Mit der Heiligtumsfahrt ist der Deutsche Katholikentag verbunden, der unter dem Zeichen der Zukunftssuche steht: „Dein Reich komme.“ Werden sie ein Jerusalem finden, das licht ist und Licht gibt? Wir sind aufgerufen, miteinander die oft matten und dunklen Scherben unseres eigenen Lebens zusammenzufügen zu einem einzigen, großen Glasfenster und es in das Licht Gottes zu halten, ins Geheimnis dessen, der für uns Mensch geworden, gestorben und auferstanden ist. Dann werden viele hier ein Bild des neuen, kommenden Jerusalem entdecken. Sie werden Licht sehen und anderen Licht weitergeben können.

Gehen wir miteinander den Weg in Gottes Licht.

Ihr Bischof

+ Klaus Hemmerle

Bischof von Aachen