Sinnfrage, Glaube und Engagement
[517] HK: Herr Professor Hemmerle, Rückzug, Sammlung oder Aufbruch war die Frage vor dem Katholikentag. „Man war unter sich“, hieß es nach Mönchengladbach. War dieser Katholikentag trotz aller Aufbruchsermunterungen introvertiert?
Hemmerle: Dieser Katholikentag war so introvertiert, wie ein Katholikentag sein muß, der zum Aufbruch sammelt. Wenn ich Menschen in den Dienst der Gesellschaft hineinrufen will, muß ich diese Menschen dort abholen, wo sie sind. Der Katholikentag hat versucht, die Katholiken in Räten, Verbänden, in Organisationen, Gruppen und Gemeinden, wo sie sich mit manchen Unsicherheiten und Zweifeln plagen, dort abzuholen, wo sie sind, und sie zu diesem Aufbruch zu ermuntern. Die Stoßrichtung des Katholikentags war gerade davon gekennzeichnet, daß wir, die Veranstalter, in der neuen Wendung nach innen nicht nur, wie sehr viele, eine Chance erblicken, sondern auch eine Gefährdung. Wir haben mit der Gefahr zu rechnen, daß Meditation und Innerlichkeit, so hoch sie zu veranschlagen sind, den Weg nach außen auch versperren können. Es wäre aber auch sehr problematisch, aufs Geratewohl nach außen zu gehen, ohne sich darum zu kümmern, wie und wo die Menschen tatsächlich sind. Der Katholikentag sollte gerade diese kritische Umschlagsituation von innen nach außen und von außen nach innen bei denen, die ihn mitmachen, aufgreifen. Dies sollte durchaus in Offenheit für andere geschehen. Und wenn ich mir ansehe, was z. B. an jungen Leuten da war, dann würde ich doch nicht von einer bloßen Introvertiertheit sprechen. Ich weiß, daß durchaus Leute, die kritische Fragen haben, und nicht nur Profis mitgemacht haben.
HK: In der Stoßrichtung werden wahrscheinlich die meisten, die mit dem Katholikentag zu tun hatten, sich mit Ihnen treffen. Doch brachte dieser Katholikentag nicht mehr Öffnung auf Themen und weniger auf die Dynamik von Meinungen und Überzeugungen?
Hemmerle: Auch die Öffnung auf Meinungen war vorhanden. Erstaunt hat das Ergebnis: Die Einmütigkeit bei vielen Positionen war größer als auf früheren Katholikentagen. Ich hatte mehr Spannung und Widerspruch erwartet. Wir waren bei der Anordnung der Sachthemen und bei der Einladung von Referenten durchaus bemüht, unterschiedliche Standpunkte zur Geltung zu bringen, aber das Gespräch hatte mehr Konvergenzlinien als vorauszusehen waren. Das war für uns selber eine Überraschung.
HK: Wenn das so ist, wie beurteilen Sie diese Konvergenz, und welche Konsequenzen ziehen Sie daraus?
Hemmerle: Was daraus für Konsequenzen zu ziehen sind, läßt sich nicht so einfach sagen. Falsch wäre der rein negative Schluß: Solche, die anders denken, machen eben nicht mehr mit. Es rückten tatsächlich Meinungen von auseinanderliegendem Stand näher zueinander.
HK: Strebten wirklich gegensätzliche Kräfte zueinander, oder erklärt sich die größere Konvergenzbereitschaft nicht in erster Linie aus dem Traditionshintergrund des niederrheinischen Katholizismus, der Mönchengladbach, wenn nicht gemacht, so doch geprägt hat?
Hemmerle: Daß der Ort und das Umland den Katholikentag geprägt haben, steht außer Frage. Mönchengladbach bot aber auch die interessante Chance, etwas zu erreichen, was die beiden letzten Katholikentage nicht in dem Ausmaß erreicht hatten. Wir hatten in Essen sehr darauf gehofft, daß die Leute, die sich mit der Arbeitsproblematik, mit den Lebensfragen der Industriegesellschaft auseinandersetzen, sich mehr zu Wort melden würden. Sie taten es nicht. In Trier war der Akzent sehr stark auf jene gelegt, die im Blick auf die damals kommende Synode in den Gemeinden und den neuen Räten mitarbeiteten. In Mönchengladbach bestand nun die Chance, daß eine arbeitende Bevölkerung, so wie sie ist, sich auch mit zu Wort meldet und sich auch mitbeteiligt. Ich glaube, der Anteil an Arbeitnehmern war im ganzen nicht gering zu veranschlagen.
HK: Ein uns allen wohlbekannter und sehr geschätzter Kultusminister beklagte sich allerdings über die vielen Gymnasiasten unter seinen Diskutanten. Jungarbeiter und Lehrlinge wären ihm lieber gewesen …
Hemmerle: Die Gymnasiasten haben sich im Endeffekt mehr artikuliert. Das Problem war nicht nur eines der Präsenz, sondern auch eines des Artikulierungsvermögens. Darin ist nun einmal die studierende Jugend stärker. Gerade in den Foren und manchen Arbeitskreisen, zumal in dem Forum, in dem Hans Maier sprach, war ein großer Prozentsatz an Schülern. In der zweifellos nicht so breit vertretenen mittleren Generation waren die Verhältnisse vermutlich anders. Die Teilnehmer am Gesamtprogramm des Katholikentags repräsentierten die Gesamtbevölkerung durchaus in der Nähe des lokalen Querschnitts. Unter ihnen war viel arbeitende Bevölkerung. Im Forum von Hans Maier mit dem Thema Freiheit überwog natürlich das gymnasiale und studentische Element. Bei Norbert Blüm, wo über die Humanisierung der Arbeitswelt gesprochen wurde, fand sich sicher mehr arbeitende Bevölkerung.
[518] HK: Über die zahlreiche Anwesenheit Jugendlicher zeigte man insgesamt freundliches Erstaunen. Aber führten gezielte Einladungen und Freistunden nicht zu einem etwas gar zu lieblichen Bild?
Hemmerle: Ich habe an der einen oder anderen Stelle auch den Eindruck gehabt, daß eine naive Freude von Schülern, einmal frei zu bekommen und irgendwo zu sein mit im Spiel war …
HK: Und die naive Freude der Älteren angesichts jugendlicher Sänger und Diskutanten …
Hemmerle: Das traf wohl auf die Foren zu. Ich halte deswegen von der Beteiligung Jugendlicher an anderen Veranstaltungen, die außerhalb der Schulzeit lagen, und das, was dort von den Jugendlichen gesagt wurde, für aufschlußreicher. Wer am Nachmittag oder am Abend da war, kam wirklich aus Interesse.
HK: Wenn wir die Architekten dieses Katholikentages richtig verstehen, so war die Sinnfrage sozusagen das Fundament und die Sachthematik, das Diskussionsmaterial, das Gerüst für den Wiederaufbau eines „ausgeprägteren“ und „entschiedenen“ Christentums. Die schlichte Frage: Hat man sich damit nicht ein bißchen zu viel zugemutet?
Hemmerle: Das Ziel war eine Überforderung der Möglichkeiten, aber diese Überforderung sich nicht zuzumuten hieße auf etwas Wesentliches verzichten. Niemand hatte damit gerechnet, daß das Ziel voll eingelöst würde. Wohl aber hofften wir, einige Schritte in diese Richtung gehen zu können. Das Ziel sollte nicht unmittelbar erreicht, sondern wieder ins Bewußtsein gerückt werden. In dieser Beziehung – meine ich – ist es keineswegs schief gelaufen.
HK: Ist dieser Katholikentag, um beim Fundament anzusetzen, zu einem neuen Sinnverständnis und zu einer neuen Sinnerfahrung vorgedrungen, oder ist es – wir denken da an so manche Meditationen, Referate und Foren – zum Schluß bei einem suchenden Klagen über zerbrochene Sinnbezüge und Leitbilder geblieben?
Hemmerle: Der Katholikentag hat tatsächlich die Situation, wie sie ist, zum Ausdruck gebracht. D. h., Ratlosigkeit und Klagen über zerbrochene Leitbilder standen im Vordergrund vieler theoretischer Aussagen. Die positiv wegweisenden Aussagen artikulierten sich behutsam, aber deutlich – und dies sowohl in theoretischen Reflexionen als auch in den konkreten Vollzügen. Das soll nicht als ein Alibi verstanden werden. Aber ich habe in manchen Gottesdiensten, manchen Gesprächen mit jungen, aber auch mit älteren Leuten neue Impulse der Sinnorientierung gefunden – nicht nur in den Referaten. Die Referate brachten ausgezeichnete Analysen, und diese waren Voraussetzung dafür. Aber wo die Richtung wirklich weiterläuft, ist mir bei „einfacheren“ Veranstaltungen nicht weniger deutlich geworden als bei anspruchsvolleren. Wenn ich an das Zeugnis eines jungen Paares in einer Diskussionsgruppe denke, das vor der Ehe steht, so habe ich das Gefühl, daß dort mehr sichtbar geworden ist als theoretische Ausführungen. Was in der Diskussionsgruppe „Ordensleute“ gesagt wurde, brachte mehr Wegweisung als manches große Referat. Wir stehen in einer Situation, in der der praktische Vollzug im positiven Sinn wiederum eine normative Kraft für die Reflexion erhält. Und die Reflexion wird manches an dieser Praxis wieder aufzuholen haben.
HK: Führt diese Hinwendung zum Vollzug, zur Sinnerfahrung und zum Sinnerlebnis im Vollzug, zugleich zu einer neuen, sagen wir religiöseren Qualität der Sinnfrage? Sie selbst hatten in Ihrer Eingangsbetrachtung zum Katholikentag gewarnt vor der neuzeitlichen Verfangenheit des Subjekts, „das auch noch bei der Frage nach dem Sinn dazu neigt, Gott zum Erfüllungsgehilfen seiner individuellen und sozialen Selbstfindungsbedürfnisse zu degradieren“. Blieb es nicht doch auch in manchen Vollzügen, ich denke z. B. an das „Gebet zur Sache“ vor Mitternacht bei dieser Situation?
Hemmerle: Die Verfangenheit des Subjekts in sich selber und die Nachwehen der Neuzeit waren durchaus und sehr deutlich zu spüren. Insofern möchte ich Ihnen großenteils recht geben. In manchen Veranstaltungen, die sich so gaben, als würde mit ihnen neuer Aufbruch zu neuen Horizonten kommen, hat sich Neuzeitliches sehr spätneuzeitlich bestätigt. Dennoch glaube ich, daß bescheidener, schlichter und unmittelbarer, als es in solchen sehr gewollten Attitüden zum Ausdruck kam, sich neue Situationen abgespielt haben, in denen nicht mehr spätneuzeitlich, sondern nachneuzeitlich gedacht, gefeiert und gebetet wurde. Ich meine, daß sich von unten her die Notwendigkeit einer Umartikulierung der Sinnfrage aus der bloßen Frage des Subjekts nach sich selber anbahnt. Es gibt da noch keine großen theoretischen Konzepte. Aber man weiß a) um die Notwendigkeit, und b) es zeigen sich konkrete Ansätze.
HK: Hat man gerade unter diesem Bezug nicht die Chance eines echten Gesprächs und Mitvollzugs mit den Kräften versäumt, die in Essen und auch noch in Trier in der innerkirchlichen Opposition standen. Wenn wir das sog. „Magnifikat“ im Böckelbergstadion oder das schon erwähnte „Gebet zur Sache“ mit dem Gottesdienst der „Solidaritätsgruppen“ am Samstag vergleichen, so haben wir den Eindruck, bei diesen sei die Heraufkunft des Nachneuzeitlichen deutlicher zu spüren gewesen. Verkürzt gesagt, war dort ein Wandel von der Politik zum Gebet festzustellen bei durchaus überzeugender Spontaneität.
[519] Hemmerle: Die Chance zum Gespräch war, glaube ich, grundsätzlich geboten und gesucht. Inwieweit das Gespräch auch wahrgenommen wurde und Inwieweit nicht und auf wessen Konto es geht, daß es nur unvollkommen gelang, das alles genau zu analysieren fällt mir schwer. Es gab, so meine ich, so etwas wie eine apologetische Scheu bei manchen in dem Sinne: Wir kommen doch nicht an, wir werden doch nicht im Gespräch eingebunden, sogar wenn wir zum Gespräch gebeten werden. Angst vor institutioneller Vereinnahmung spielte mit …
HK: Scheu und Angst gab es wohl auch aus umgekehrter Richtung, bei den Veranstaltern …
Hemmerle: Sicher, was ich sagte, ist die eine Seite, die andere, die ich nennen wollte, war die Frage, ob man unter Umständen manche Gruppe nicht fixiert hat auf ihr Bild von gestern. Insgesamt, meine ich, war bei der Vorbereitung recht unbefangen geplant worden. Man wollte möglichst viele und auch unterschiedliche Strömungen und Gruppen heranziehen. Wenn ich an das Verhältnis von Zusagen und Einladungen denke, so tut es mir leid, daß manche Einladung nicht zu einer Zusage geführt hat.
HK: Können wir das konkretisieren?
Hemmerle: Ich glaube, das zu konkretisieren ist ein bißchen schwierig, weil persönliche Vorwürfe gegen den einen oder anderen daraus abgelesen werden könnten.
HK: Es hat auch von evangelischer Seite – es liegt uns gerade ein epd-Kommentar vor – Klagen gegeben über die geringe ökumenische Öffnung des Katholikentags. Fehlte es auch da an Einladungen oder an Resonanz?
Hemmerle: Ich bin jedenfalls sehr erstaunt, daß eine geringere ökumenische Öffnung als bei irgendeinem früheren Katholikentag konstatiert wird. Die Zahl der Einladungen evangelischer Referenten und Diskutanten jedenfalls war erheblich, was sich in der faktischen Beteiligung nur teilweise widerspiegelte. Aber ich meine, Ökumene muß uns heute so selbstverständlich sein, daß wir sie nicht nur in Sonderveranstaltungen zelebrieren, sondern im nüchternen Hineinbeziehen der evangelischen Partner in die Sachdiskussion und in die Sacharbeit praktizieren. In dieser Beziehung ist in Mönchengladbach auch wirklich einiges geschehen. Der spontane und herzliche Applaus – nicht nur in der Schlußkundgebung – bei allen Gelegenheiten, die einen Hinweis auf Ökumene enthielten, scheint mir überdies für das Gesamtklima signifikant zu sein.
HK: Dieser Katholikentag zeigt insgesamt einen deutlichen Zug zu Feier und Spontaneität. Man konnte feststellen, daß Fest, Feier oder Dank, im theologischen Klartext auch Gnade, Kreatürlichkeit, Vergebung keine Fremdworte mehr waren. Sind das Zeichen nicht nur eines neuen Sinnsuchens, sondern wirklich einer neuen Religiosität, oder signalisieren sie nur die Abkehr auch bei der jüngeren Generation von einer intellektuell und psychologisch unbewältigten Theorieüberfrachtung?
Hemmerle: Ich würde sagen, es gibt in sehr vielem eine Vermischung der Motive. Es gibt so etwas wie äußerliche Alliteration des Unterschiedlichen, und das führt gerade zur Ausbildung neuer Trends. In diesem Wandel scheint mir das Satthaben des bloß Theoretischen, das Satthaben des bloß Intellektuellen, das Satthaben des bloß Äußerlichen, auch eines bloß auf Aktion hinsteuernden Sozialen eine Wurzel zu sein. Zum anderen glaube ich, daß in dieses Satthaben und dieses Suchen nach neuer Ursprünglichkeit und Belebtheit, nach neuer Selbstgestaltung und nach Erfahrung von Freude und von Tiefe echte religiöse Impulse mit eingehen und mit am Werke sind. Ich würde aber nicht sagen, wir stehen in einem neuen religiösen Frühling, sondern in einer Phase, in der sich vieles klären muß. Der Katholikentag war ein Stückweit unsere Frage danach, ob die neue Bewegung zu Sinn einerseits, zu Religiosität andererseits, ob dieser neue Aufbruch eine modische Sache, ein neuer Zug zur Introversion ist oder ob sich doch mehr anbahnt. Weil mit dieser Kehre nach innen zugleich in einem von mir nicht erwarteten Ausmaß auch Bereitschaft zum mitmenschlichen Engagement verbunden war, habe ich ein bißchen den Eindruck, daß doch auch echte Religiosität dahintersteckt. Zudem habe ich einzelne konkrete Erfahrungen in dem oder jenem Gottesdienst gemacht, die mir sagen: Hier wurden die Leute nicht nur mitgerissen von irgendeinem psychologischen Sog, sondern hier war doch Bereitschaft zu einer neuen Begegnung.
HK: Gingen nicht die Trends zwischen den Generationen weiter auseinander, als zugegeben wurde? Bei den Älteren war es, wenn ich an manche liturgische Formen und auch an manche spontane, ja mehr als spontane Äußerungen zu politisch relevanten Fragen denke, doch mehr eine Rückkehr zum Dagewesenen, eine Zuflucht zur Religiosität der eigenen Vergangenheit. Und die große Spontaneität der Jungen blieb wohl doch meist innerhalb der eigenen Subkultur. Die Szenerie im Stadtkern mit den Gottesdiensten mit ganz überwiegend Älteren in den großen Kirchen und dem Treiben der Jungen auf den Plätzen und in den Kneipen war zwar ein suggestives Bild für den Betrachter. Bei näherem Hinsehen fehlte aber doch der Zusammenhang.
Hemmerle: Ich glaube, daß wir die Unterschiede der Generationen in der Tat deutlich zu sehen bekamen und daß nicht einfachhin ein gemeinsames Zueinander in eine einzige neue Bewegung hinein festgestellt werden kann. Dennoch gab es Erfahrungen in dieser Richtung, die hoffnungsvoller und erfreulicher sind als vieles, was ich frü- [520] her erlebt habe. Man war auf beiden Seiten wenigstens bereit, sich nicht zu isolieren, sondern aufeinander zuzugehen, auch wenn die Vorstellungen zwischen den Generationen von der anderen jeweils nicht deren wirkliche Motive sofort trafen. Man duldet sich gegenseitig mehr. Man fängt etwas miteinander an. Aber man plant den anderen kritisch oder „sympathetisch“ noch in sein eigenes Konzept mit ein. Die Tatsache, daß man überhaupt wieder aufeinander zugeht, kann ein Anfang sein, eine mögliche Basis für das Gespräch. Aber es ist noch nicht dieses Gespräch selber. Übrigens: die Jugendgottesdienste waren bis zum Bersten gefüllt, gerade bei der Jugend sprach „Geistliches“ überraschend stark an. Doch gibt es bereits ein anderes Problem, das Sorge macht.
HK: Und das wäre?
Hemmerle: Auch manche jungen Leute flüchten sich wieder in die Bedürftigkeit der Älteren nach Bergung und Solidität zurück. Ich habe allerdings den Eindruck, daß diese Flucht zurück auf dem Katholikentag etwas weniger deutlich war, als man sie von anderswo kennt. Dort erlebt man mehr von einer neuen und recht fragwürdigen Konservativität junger Leute.
HK: Anderswo mehr? Beim Katholikentag weniger?
Hemmerle: Ja, in der Tat. Ich kann aber nicht sagen, hier sei bereits etwas geschafft. Ich sehe aber eine Chance gegeben, daß Spontaneität und Eigenleben bei den jungen Leute zunehmen und trotzdem eine Wendung zu Traditionen, zu mehr Verständnis für Tradition überhaupt, stattfindet, ohne daß es sofort nur dieses angsthafte Sich-bergen-Wollen und Nicht-mehr-mitmachen-Wollen ist.
HK: Es gab ein großes Angebot an Beratungshilfen, an Möglichkeiten, sich über Fragen zur Kirche auszusprechen, aber auch ein großes Angebot an Beichten und Beichtgesprächen. Von der Beratung wurde, wie es hieß, großer Gebrauch gemacht. Blieb es bei der Beratung, oder war auch eine Hinwendung zur sakramentalen Form der Vergebung erkennbar?
Hemmerle: In den ersten Tagen war die Bilanz ungefähr die: Es kamen Leute, die gern wieder einmal beichten, weil sie es zu Hause schwer können. Die Beratung stand im Vordergrund. Während der letzten Tage hat sich der Eindruck zusehends gewandelt. Fünf Beichtväter hatten alle Hände voll zu tun. Aus Gesprächen weiß ich, daß gerade hier die Begegnung in der Beichte ausdrücklich und tief aufgesucht wurde. Von der Jugend allerdings weniger. Die Jungen haben – wenigstens was die Beichte angeht – die Schwelle zum Sakramentalen offenbar noch nicht wieder genommen.
HK: Hat man daran gedacht, u. a. auch im Blick auf die teilnehmende Jugend „erleichternde“ Formen und Zugänge zu öffnen?
Hemmerle: Das wäre sicher eine wichtige Aufgabe. Ein kleiner Schritt dazu ist wohl geschehen. Servitinnen haben im Zusammenhang mit dem „Jugendzentrum“ ein dauerndes Meditations- und Gesprächsangebot gemacht, das spezifisch ins Religiöse hineinging und offenbar von den jungen Leuten auch gut wahrgenommen wurde.
HK: Aber man hätte auch einen Schritt weitergehen können. Man hätte Bußgottesdienste abhalten können mit begleitender oder anschließender Beichtgelegenheit, die auch diejenigen ansprechen, die zunächst einmal sakramental entwöhnt sind …
Hemmerle: Das war leider nicht der Fall. Der neue „Ordo Poenitentiae“ gibt diesbezüglich einige Anstöße und Möglichkeiten, die ungenützt blieben. Wir sind wohl in der Tat ein bißchen hinter dem zurückgeblieben, was vielleicht nötig gewesen wäre.
HK: Nun zur gesellschaftspolitischen Seite des Katholikentages. Thematisch hat der Katholikentag ein breites Spektrum von Fragen und Aussagen gerade unter diesem Aspekt geboten. Von der Marktwirtschaft bis zur Landwirtschaft, von der Humanisierung des Arbeitsplatzes bis zum „Hausmütterchen“ war alles drin. Hat man sich aber nicht gerade mit dieser Breite um die nötige Vertiefung und Fernwirkung gebracht?
Hemmerle: Die Problematik dieses breiten Spektrums ist durchaus zu sehen. Die diagnostische Aufgabe des Katholikentages scheint mir aber nur durch ein so breites Spektrum, wie es geboten wurde, lösbar zu sein. Es gehört jedesmal zum Interessantesten, festzustellen: Welche Fragen werden spontan durch Interesse quittiert und welche nicht? Und dies läßt sich im Grunde nur feststellen, wenn die Möglichkeit zu allem geboten wird.
HK: Eine gewisse Aussonderung hat ja stattgefunden, indem einige wenige Arbeitskreise bzw. Diskussionsgruppen ohne Teilnehmer blieben …
Hemmerle: … eine Diskussionsgruppe und zwei oder drei Arbeitskreise. Daß dieser Aussonderung ausgerechnet „Europa“ zum Opfer fiel, ist doch eine ziemlich bedenk- [521] liche Sache, die uns einen Anstoß gibt. Daß das Thema Orden und geistliche Gemeinschaften so überaus gut besucht war, ist wiederum hoch interessant …
HK: Ja, der Arbeitskreis mußte mit ca. 1000 Teilnehmern sogar geteilt werden. Aber daraus Schlußfolgerungen auf ein neu erwachtes Interesse an den Orden zu ziehen, wäre doch wohl verfrüht. Im großen Arbeitskreis waren ja auch die Ordensfrauen beinahe unter sich …
Hemmerle: Nein, auf eine neue Zuwendung zu den Orden nicht. Aber das Phänomen als solches ist interessant. Diejenigen, die in den Orden verunsichert sind, suchen konkret nach einem neuen Verständnis ihrer eigenen Rolle. Die Verunsicherung geht heute vielleicht weiter als noch vor Jahren. Aber zugleich wird deutlicher, daß es mit ein paar Modernisierungen nicht getan ist. Man fragt sich nunmehr, wie die Orden wieder zu einer plausiblen Gestalt ihres eigenen Lebens und Zeugnisses kommen.
HK: Oder die Ordensleute suchen zunächst einmal Rat im Kirchenvolk, ein geschichtlich etwas ungewöhnlicher, für die Kirche unserer Zeit aber nicht unbedingt erfreulicher Vorgang …
Hemmerle: So könnte man es sagen, aber man braucht es nicht unbedingt so zu sagen. Die Benediktinerin Corona Bamberg, die in dem Arbeitskreis sprach, war für viele ein Fanal. Hier war jemand, der aus einem kontemplativen Leben kommt, in die Kirche hineinwirkt, jemand, der die Situation der Orden und die Situation der Kirche insgesamt kennt und verständlich machen kann. Es war doch signifikant, daß so viele Ordensleute kamen und gerade deswegen kamen, weil sie sagten: Wir wollen uns wieder an der Gesamtkirche orientieren. Aber sie wollen dabei durchaus auch von ihresgleichen etwas erwarten. Zudem, daß Ordensleute sich wieder „hinauswagen“, daß sie Kontakt mit anderen und nicht nur mit ihresgleichen suchen, werte ich grundsätzlich positiv.
HK: Diese Frage verdiente, daß man ihr weiter nachgeht, aber kehren wir zum gesellschaftspolitischen Katalog zurück. Müßte ein Katholikentag nicht auch den Mut haben, „unpopulär“ zu sein und Themen wie Entwicklungshilfe, Gastarbeiter, Wehrdienstverweigerer, die wir auf jeder Tagung als unser permanent schlechtes Gewissen herumtragen, vom Themenkatalog eines Katholikentages einmal zu streichen. Sie kommen der Sache nach ohnehin an anderen Orten und bei anderen Themen zur Sprache. Gastarbeiter beispielsweise könnte man auch gezielt einladen, zudem gibt es Sonderkongresse und –aktionen …
Hemmerle: Man wäre versucht, es einmal so zu machen. Wir haben selber allerhand Fragen gestellt, ob man so etwas tun solle. Ich habe selber dafür plädiert, es nicht zu tun, und zwar aus folgender Überlegung: Das eigentlich Neue der Thematik sollte dieser innere Zweitschritt sein, a) die Sinnfrage, b) die Zuwendung über die Sinnfrage zu allen gesellschaftlichen Bereichen. Andernfalls würden wir Themen wie Gastarbeiter oder Dritte Welt kavernieren und zu einer Sache von Profis werden lassen, die immer und immer wieder dieses eine Thema und kein anderes behandeln. Wir glaubten, es gehöre in diesen Kontext der Sinnfrage hinein. Deswegen sollte man die Leute sozusagen zwingen, noch durch einen anderen Schritt hindurch-zugehen und diese Themen so aus ihrer Engführung herauszuholen.
HK: Eine löbliche Absicht, die aber nicht verhindert, daß gerade in solchen Arbeitskreisen Fachleute und Querulanten unter sich sind und sich beide Gruppen allmählich kennen …
Hemmerle: Es wäre ohnehin mein nächster Satz gewesen, daß diese Absicht nur ein Stückweit gelungen ist. Es gab – um Ihr Bonmot aufzugreifen – durchaus qualifizierte Nichtfachleute und qualifizierte Nichtquerulanten in den Arbeitskreisen, aber die Tatsache, daß man doch zu „seinem“ Thema geht und damit doch unter sich bleibt, ist immer und immer wieder gegeben. Ich meine aber doch, wir sollten beim Katholikentag jene Breite bieten, die den Markt aller Meinungen und aller Probleme riskiert und auch zeigt, wo wir auf den verschiedenen Gebieten stehen.
HK: Der Markt aller Probleme ist gut, aber die große Breite kann die innere Dynamik, gerade die Meinungsdynamik, lähmen. Uns hätte – das ist aber zugegeben ein sehr subjektiver Wunsch – an Stelle der vielen Themen wie Lebensqualität, Marktwirtschaft, Mitbestimmung, betriebliche Partnerschaft, die wichtig sind, in denen aber Christen auch keine Bäume ausreißen, ein konzentrierter Disput zwischen Kurt Biedenkopf und Heinz O. Vetter meinetwegen über Unternehmertum und Gewerkschaftsstaat viel mehr interessiert. Unterm Strich wäre dabei vielleicht mehr an Sinnorientierung herausgekommen als in der Einzelorientierung all dieser Themen. Kann oder will sich ein Katholikentag so etwas nicht leisten?
Hemmerle: Ein Katholikentag soll sich so etwas ruhig leisten. Doch stand dieser Katholikentag unter dieser anderen Grundthematik und ihrer relativ strengen Konstruktion, und es schien uns wichtig, diese Thematik einmal so durchzuziehen. Das kann nicht heißen, jeder Katholikentag muß so konstruiert und orientiert sein. Ich könnte mir denken, daß ähnliche Dispute bei anderen Anlässen durchaus auch im deutschen Katholizismus stattfinden können. Ein pragmatisches Problem beim Katholikentag ist natürlich immer auch das Verhältnis zwischen [522] der konkreten Möglichkeit, sich zu treffen an diesem bestimmten Ort zwischen den Menschen, die zu etwas Bestimmtem herkommen, und dem, wie man das ganze Thema gliedert. Trifft man sich in einer großen Universitäts- oder Kongreßstadt mit vielen großen Sälen, so kann man sich durchaus einmal auf große Foren mit großen, sozusagen symptomatischen Disputen beschränken. In einer Stadt, die viele kleine Räume hat, muß man auch das Thema etwas kleinzelliger aufgliedern, damit überhaupt Begegnungen in dem notwendigen Ausmaß stattfinden können. Ich meine aber, man hätte trotzdem in der von Ihnen gezeigten Richtung einiges machen und sich darauf beschränken können und hätte dann eine weiterweisende Orientierung über verschiedene Einzelfragen erreicht. Aber was beim Katholikentag herausgekommen wäre, wäre dann weniger der Gradmesser für die angezielte Begegnung zwischen Innerlichkeit und sozialem Dienst.
HK: Wir sehen nicht, wie das unserem Anliegen widersprechen soll und wieso mehr dialogische Dynamik, von den Orts- und Platzverhältnissen abgesehen, nicht in eine solide Strukturierung der Sinnfrage passen soll. Wir meinen, es gäbe so mehr an Realitäts- und indirekt sogar mehr an Sinnerfahrung.
Hemmerle: Ihr Hinweis wäre eine Möglichkeit gewesen, und vielleicht wird man bei einem der nächsten Katholikentage auch mehr in diese Richtung gehen. Ich glaube, es ist eine Ermessensfrage, welche Vor- und welche Nachteile man der einen oder anderen Programmstruktur jeweils abgewinnt, und es ist jedesmal ein bestimmter Vorentscheid mitgegeben. Wir haben diesesmal den getroffen, der nach meiner Meinung am ehesten durch die Aufstellung „Dienste der Kirche“ sichtbar wurde. Nach manchen deklamatorischen Erklärungen und nach vielen Fragen des bloßen Möchte-gern und Wäre-schön z. B. in Mitbestimmungsdebatten innerhalb der Kirche schien uns diese Struktur und das Herangehen an die konkreten Einzelaufgaben eine durchaus aktuelle Sache; auch ein neuer Aufbruch, in dem die Sinnfrage eine etwas nüchterne, vielleicht auch bescheidenere Realität gewinnt. Ich würde aber sagen, das eine tun und das andere nicht lassen.
HK: Allem, was Sie sagten, würden wir ganz und gar beipflichten. Aber der deutsche Katholizismus, soweit er repräsentiert wird vor allem vom Zentralkomitee, zeigt insgesamt wenig Lust, sich mit anderen Meinungen zu konfrontieren. Das Eigene finden kann ja nicht bedeuten, dieses Eigene vom Gespräch mit den anderen, auch wenn es uns hart ankommt, zu trennen. Aber es werden Tagungen, Kongresse abgehalten über Familienpolitik etwa, da wird die von der „kritischen Theorie“ herkommen Familiensoziologie und werden andere Familiensoziologien durchaus mit Recht attackiert, aber der Part nicht da. Indessen käme ein Gespräch mit dem Gegner der Selbstfindung durchaus zugute.
Hemmerle: Es ist sicher eine Aufgabe, dies zu tun …
HK: … aber eine Aufgabe, zu der man sich nicht so recht bekennen will …
Hemmerle: … eine Aufgabe, die sehr notwendig ist, die aber doch aus manchen Gründen nicht so unmittelbar in Szene zu setzen ist. Wir finden sehr oft, daß es mit anderen Positionen auch recht plakative Auseinandersetzungen gibt, die, wenn man sie in einer größeren Breite ansetzt, eher zu einer Verhärtung der eigenen Position führen, als wenn zunächst die eigene Position ohne plakative Umrahmung oder plakative Absetzung mit anderen Gesichtspunkten verglichen wird. Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken vereinigt in sich unterschiedliche Kräfte aus den Diözesen, aus den Verbänden und aus dem, was es sonst an katholischer Aktivität gibt. Deswegen ist es sehr oft notwendig, daß wir überhaupt einmal jene Grundinformation und jene Grundauseinandersetzung miteins leiten innerhalb der eigenen Positionen, die erst differenziert zu diesem Gespräch mit anderen befähigen.
HK: Das Beispiel war zugespitzt, das Anliegen, das dahintersteht, ist, daß das Gespräch überhaupt stattfindet …
Hemmerle: Und ich habe den Eindruck, daß es angesichts der zum Teil sehr harten gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen hier tatsächlich ein schwer zu bewältigendes Problem gibt. Um sich mit ganz anderen Positionen auseinanderzusetzen, bedarf es immer wieder auch der Klärung unter sich. Diese Aufgabe muß, so glaube ich, zuerst geleistet werden.
HK: Der Katholikentag hat die Sinnfrage gestellt und sie in die verschiedenen Lebensbereiche hinein auszulegen versucht. Dabei fiel auf, daß ethische Grundfragen, auch wenn sie dem Stoff nach vorhanden waren, nur wenig zum Zuge gekommen sind. Nun sind aber ethische Entscheidungssituationen für die meisten Menschen das eigentliche Material, an dem die Sinnfrage erst so richtig virulent werden kann. Wurde hier nicht etwas übersprungen, vielleicht sogar religiös usurpiert?
Hemmerle: Das ist zweifellos ein bedenkenswerter Einwand, wenngleich ich ihm nicht einfachhin nur zustimme. [523] Der von Ihnen geforderte Zwischenschritt ist für unsere konkrete Arbeit ungemein bedeutsam. Ich stimme Ihnen auch zu, daß die ethischen Fragen die Sinnfrage sehr deutlich und sehr stark artikulieren können. Und ich habe selber etwas dagegen, wenn man von der Situation sofort ins Religiosum hinüberspringt. Mir scheint aber, daß die konkrete Situation, an die wir angeknüpft haben, zwei Dimensionen hat. Und es ist nicht möglich, beide Dimensionen gleichzeitig programmatisch zu materialisieren: Aufarbeitung der ethischen Dilemmata, in die einen die Situation bringt, und zugleich die Ermittlung der konkreten Aufgaben, die sich in den verschiedenen Lebenssituationen und Sachbereichen stellen. Ich hatte den Eindruck, daß für einen Katholikentag gerade angesichts des Rückzugs oder einer bloß äußeren interessengebundenen Usurpierung mancher Sachbereiche das von uns gewählte Kürzel in die Situation paßt und daß dieses auch konkret zu einer neuen Motivierung führen kann: für das Dienen, für den Mut, sich in die verschiedenen Sachbereiche hineinzuwagen. Ich gebe aber zu, die andere Möglichkeit müßte auf andere Weise auch aufgeholt und nachgeholt werden.
HK: Wir dachten an das Thema Leben, das ja Stichwort und ursprünglich auch Programm war. Wir dachten dabei nicht einmal so sehr an die Paragraphen 216 und 218, sondern an die auf uns zukommende Gefahr der gesellschaftlichen und biologisch-genetischen Manipulierung des Menschen, durch die nicht nur Selbstbestimmung und Freiheit gestört, sondern personale Strukturen überhaupt zerstört werden können …
Hemmerle: Ich habe selber einmal bei der Überlegung darüber, worauf es in nächster Zeit besonders ankomme, betont, daß gerade diese Frage eine der Grundfragen für unsere Weiterarbeit sein müsse. Ursprünglich war das Gewicht auch sehr stark darauf gelegen. Es hat sich aber alsbald verlagert auf die Weise, wie Leben in den konkreten Diensten in jedem Lebensbereich gestaltet wird. Diese Verschiebung hat sich in der konkreten Situation als sehr dringlich erwiesen. Durch diese Vorentscheidung ist ein wichtiges Stück tatsächlich ausgefallen. Aber hätten wir beides miteinander verbunden, wäre es zweifellos zuviel gewesen.
HK: Katholikentage haben, wie ihr Veranstalter, das Zentralkomitee, eine deutliche Nähe zur Politik und sind allein schon durch die amtierenden Repräsentanten parteipolitisch ganz überwiegend unionsgefärbt. Wäre hier ein kräftiger Wandel nicht dringend anzuraten?
Hemmerle: Diese Nähe ist für uns selber ein Problem, aber ein Problem, aus dem ich beim besten Willen außerordentlich schwer einen Ausweg sehe. Denn gegenwärtig werden in der Politik Grundsatzentscheidungen gefordert, bei denen ein hohes Maß an christlicher Identifikation eines Politikers nicht nur privat gefordert ist, sondern sich auch in Ordnungsvorstellungen hinein übersetzen muß. Wir hätten wirklich den Wunsch, und zwar den leidenschaftlichen Wunsch, mehr Repräsentanten aus anderen Parteien zu finden, die glaubwürdig politisches Engagement mit der Übereinstimmung in fundamentalen Ordnungsfragen des Dienstes am Leben heute verbinden. Ich bin sehr froh um jeden Repräsentanten anderer Parteien, der sich zu dieser Identifikation bekennt. Es ist außerordentlich schmerzlich, daß es nicht mehr sind. Aber wenn man vor der Alternative steht, eine Orientierung zu bieten und dabei in die Nähe zu einer Partei zu geraten oder sie überhaupt nicht zu bieten und dabei parteipolitisches „Gleichgewicht“ zu wahren, ist eindeutig, wie die Entscheidung auszufallen hat.
HK: Aber muß man denn dabei alles auf eine Karte setzen?
Hemmerle: Daß das Gespräch mit allen Kräften innerhalb der Gesellschaft und mit allen politischen Parteien eine dringende Aufgabe ist, wird auch von denjenigen gesehen, die persönlich eine deutliche Nähe zur Union haben. Und es hat mich tief beeindruckt, daß auch führende Parteipolitiker, die sich im Zentralkomitee voll engagieren, diese Aufgabe der Offenheit zu anderen Positionen und Parteien deutlich sehen und sich auch darum bemühen.
HK: Wir befinden uns in der Spätphase einer verschärften Auseinandersetzung über den § 218. Diese Situation hat offenbar auch dazu geführt, daß die Schlußkundgebung nicht ganz so verlaufen ist, wie man es sich erwartet und wie es sich wohl auch mancher Unionspolitiker innerhalb und außerhalb des Zentralkomitees gewünscht hätte … Ein Mangel an Toleranz gegenüber Repräsentanten der Nation?
Hemmerle: Daß es an Toleranz fehlte, war sehr bedauerlich. Aber wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, daß in einer breiten Schicht der Bevölkerung Erregung darüber herrscht, daß mit der Entscheidung für die Fristenregelung im Falle des Schwangerschaftsabbruchs Fundamente in Mitleidenschaft gezogen werden, von denen man geglaubt hatte, daß sie jenseits des politischen Disputes stehen. Diese Erschütterung und Hinweise, daß sich Ausweitungen in andere Gebiete hinein abzeichnen, haben in Mönchengladbach einfach ihre spontane Resonanz gefunden. Und ich glaube, man muß diese Resonanz respektieren. Aber man kann sie – insofern zeigte Heinz Kühn durchaus Mut – nicht einfach höflich übergehen, sondern sie muß ausgestanden und durchgestanden werden. Dieser Mut muß aber damit rechnen, daß entsprechend reagiert wird.
HK: Bei allem Verständnis für spontane Resonanz sollte man doch auch diejenigen Politiker im Auge behalten, die sich in einem Gewissenskonflikt zwischen ihrer Position als Christ oder Katholik und der Parteiräson befinden. Wenn in Mönchengladbach ein SPD-Abgeordneter mit seinem CDU-Kollegen in die sonst nicht so ganz verständliche Klage einstimmte, Politiker fühlten sich von der Kirche allein gelassen, dann mochte er wohl daran gedacht haben …
Hemmerle: Die Aufgabe, Politiker nicht allein zu lassen, sehe ich auch sehr deutlich. Aber ich glaube, daß Verständnis und Nahesein nicht durch ein Herunterspielen der eigenen Position geschehen kann.
HK: Nachdem der Sozialkatholizismus totgesagt war, hörte man in Mönchengladbach wieder häufig und besonders pointiert in der Schlußrede von der katholischen Soziallehre. Wenn es mehr als eine Reverenz an den genius loci und an die einstige Tradition des Katholischen Volksvereins war und man an eine wirkliche Revitalisierung denkt, was verspricht man sich davon?
Hemmerle: Es wird sicher noch näher zu prüfen sein, was die zweifellos sehr knappe Formel von einer Revitalisierung der katholischen Soziallehre konkret bedeuten kann. Sie kann verstanden werden als ein Hervorholen alter Bücher und als das Übersetzen von alten Büchern in neue Vokabeln. Sie kann aber auch ganz anders verstanden werden. Wenn z. B. in der bildungspolitischen Diskussion gesagt wird, daß wir bislang nur eine Bildungspolitik für Abiturienten und Studenten getrieben haben und keine für die arbeitende Bevölkerung, oder wenn u. a. auch in der Schlußrede des Präsidenten von der Notwendigkeit gesprochen wurde, an die Familienpolitik, die eine entsprechende Politik für die Alten und für die Jugend miteinschließt, ganz neu heranzugehen, so sind damit Programme genannt, die so fundamental sind, daß man sie nicht sofort mit einzelnen Aktionen auf den Tisch legen kann, die aber auf lange Strecken, so glaube ich, doch etwas Neues bedeuten. Zudem: ich glaube, was Sie selbst angedeutet haben, als Sie von den ethischen Problemen sprachen, in die uns die Sinnfrage heute stellt, und was Sie zu den fundamentalen Fragen bezüglich des Themas „Leben“ ausführten, zeigt doch, in welcher Richtung eine Erneuerung – nicht Aufwärmung – katholischer Soziallehre fällig ist. Das hat nichts mit Abkapselung und Rückwendung zu tun, sondern neue Ansätze sind da gefordert.
HK: Bernhard Vogel sprach zum Schluß von der „Chance eines neuen Anfangs“. Erwarten Sie davon den Aufbruch, wie es Vogel nannte, hinein in die Verbände, Gewerkschaften und Parteien oder nur einen Rückgewinn an Sicherheit, oder folgt gar die vielzitierte „Befriedigung im Monolog“?
Hemmerle: Was daraus wird, haben wir nie in der Hand. Daß eine Befriedigung im Monolog nicht daraus werden darf, ist mir klar. Daß es nicht dazu kommt, erfordert freilich eine große Anstrengung. Die Befriedigung darüber, daß es in Mönchengladbach verhältnismäßig „gut“ gegangen ist, „besser“ als frühere Male, kann nicht sozusagen das letzte Wort sein. Wir müssen uns gerade auch all die Spannungen, die Sie genannt haben, ganz ernstlich hinter die katholischen Ohren schreiben und daraus die Konsequenzen ziehen. Und ich denke, daß jene, die den Katholikentag mitgetragen haben, dazu auch gewillt sind, ohne daß ich nun sozusagen ein prophetisches Wort für die Zukunft riskiere.