Das Wort für uns
[106] Befreit zum Sterben
Wer mit Jesus lebt, der bereitet sich nicht bloß auf eine gute Sterbestunde vor. Er bereitet sich aufs Leben vor, aber er tut es, indem er lebt. Vom heiligen Carl Borromäus wird erzählt, beim Würfelspiel habe ihn einer gefragt: Was würdest du tun, wenn du wüßtest, in einer Stunde mußt du sterben? Seine Antwort hieß: Weiterspielen. Wer mit Jesus lebt, der hat dem Tod schon ins Gesicht geschaut. Er ist befreit, und das heißt, er ist befreit zum Sterben. Er braucht den Tod nicht zu verdrängen.
Gewiß, auch ihm kann es widerfahren, daß er das Wort Jesu an seinem Leib verspüren muß: Der Jünger ist nicht über seinem Meister. Auch sein Tod ist vielleicht ein Tod in Angst und Zittern. Aber sein Alleinsein im Tod ist Gemeinschaft mit dem, der in seinem Tod allein war für uns, mit Jesus, der für uns den Tod und seine Einsamkeit auf sich genommen hat. Erlöst sein zum Sterben, das heißt erlöst sein zum Vertrauen, wo sich nur der Schrecken zu erfahren gibt, erlöst sein zur Gemeinschaft, wo wir in die äußerste Einsamkeit gestoßen sind, erlöst sein [107] zur Liebe, die das Höchste vermag, wo uns nur die Starre unserer Ohnmacht zu bleiben scheint.
Wer zum Sterben erlöst ist, der ist so zum Leben erlöst. Zum Leben hier und jetzt, aber gerade so auch zum Leben aus dem Tod und über den Tod hinaus. Der Standort erlösten Lebens ist die Gemeinschaft mit dem Gott der Lebenden. Und dieser Standort kann uns auch durch den Tod nicht entzogen werden. Der Gott des Lebens kündet uns seine Gemeinschaft im Tod nicht auf.
Wer erlöst ist zum bleibenden Leben, der ist erlöst zur bleibenden Gemeinschaft, und das heißt: zur Gemeinschaft mit Gott, aber auch mit den Menschen. Das ist nicht rührselige Wiedersehensvertröstung, das ist die nüchterne Konsequenz daraus, daß Gott ein Gott der Lebenden ist. Ihm leben alle, auch jene, von denen wir Abschied nehmen müssen. Es gibt Gemeinschaft über den Tod hinaus.
Können Christen also beruhigt aussteigen aus dem Wettlauf mit dem Tod, dem Wettlauf mit der modernen Technik, der modernen Medizin, der modernen Gesellschaft? Sollen sie sich auf die bloße Zuschauertribüne zurückziehen? Kei- [108]neswegs. Jesus jedenfalls hat das nicht getan und auch jene nicht, die ihm gefolgt sind. Paulus kannte alle Erfahrungen des Erschöpftseins, des Gehetztseins, des Am-Ende-Seins. Und doch sagt er: „Wer wird uns trennen von der Liebe Christi? Bedrängnis, Angst, Verfolgung, Hunger, Blöße, Gefahr oder Schwert? Wie geschrieben ist: deinetwegen werden wir den ganzen Tag dem Tod ausgeliefert und wie Schlachtschafe gezählt. Aber in alldem bleiben wir überlegen durch den, der uns geliebt hat. Denn ich bin überzeugt, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwart noch Zukunft, weder Höhe noch Tiefe noch sonst etwas uns trennen kann von der Liebe Gottes in Christus Jesus, unserem Herrn“ (Röm 8,35–39). Ja, wir sind erlöst zum Sterben, wir sind erlöst zum Leben, wir sind erlöst zu einer Gemeinschaft ohne Grenzen.