Enzyklika und Dialog

[4] Schlimm wäre nur eines: wenn jene recht hätten, welche die neueste Enzyklika Pauls VI. „Humanae vitae“ als den Grabstein innerkirchlichen Gesprächs bezeichnen. Schlimm wäre es aber nicht bloß für jene, die mit dieser Enzyklika nicht oder nicht ganz zufrieden sind, sondern auch für jene, die ihr spontan zustimmen. Wieso? Ein gestopptes Gespräch stoppte notwendig zugleich die Möglichkeit einer weiteren und freien Zustimmung.

Ein Gespräch kann indessen nicht nur am Druck von oben, es kann auch am Druck von unten sterben. Es stirbt, so oder so, in dem Augenblick, da man nicht mehr aufeinander hört. Hören ist die Grundtugend des Gesprächs, und nur der hört gut, der ganz hört. Ganz hört aber nicht schon, wer alles hört, es sogar so hört, wie es gemeint ist; ganz hört erst, wer im Hören wägt, was er hört. Es besteht nicht nur Gefahr, daß mancher bloße Jubel über die Enzyklika an der ernsten Frage und Gewissensnot anderer vorbeihört; es ist zumal bedenklich, wie manche nur ein paar Sätze der Enzyklika hören und so weder ihren Gedanken, noch ihrem Anliegen, noch gar dem gerecht werden, der es sich wahrlich nicht leichtgemacht hat, sie zu schreiben, und der seinerseits gewiß nicht gefühllos an der genannten Gewissensnot vieler vorbeigeredet hat.

Bedenklich auch, wie manche mit ungleichem Maß hören: sei es, daß sie nobel darüber schweigen, wenn andere Worte anderer Enzykliken – man denke an „Populorum progressio“ – munter attackiert werden, während sie in einem fragenden Wort an einige Sätze von „Humanae vitae“ ein Verbrechen gegen die Kirche wittern; sei es, daß sie zum Teil von päpstlichen Keulen schlagen gegen die Gewissensfreiheit reden, dabei aber so tun, als ob der Papst nur eine Enzyklika geschrieben habe und in ihr nur ein Wort, das imaginäre Wort gegen die „Pille“.

Der erste Dienst an der Enzyklika, am Ansehen des Papstes, am kirchlichen Lehramt, an der Kirche selbst ist im gegenwärtigen Augenblick, die Türen des Gesprächs zueinander in der Christenheit und in der Welt offenzuhalten. Ein Dienst an diesem Dienst will es sein, wenn im folgenden gänzlich von der Sachdiskussion um den Inhalt der neuesten Enzyklika abgesehen und grundsätzlich nach dem Stellenwert des lehramtlichen Wortes im kirchlichen Gespräch gefragt wird.

Doch geht solches angesichts dieser Enzyklika an? Erwartet sie nicht eindringlich und beschwörend Einheit und Gehorsam (vgl. besonders Nr. 23)? Gewiß tut sie dies. Wer jedoch aufmerksam und ganz liest, kann im Text der Enzyklika selbst die Notwendigkeit weiteren Gesprächs angedeutet finden: im Appell an die Männer der Wissenschaft (Nr. 24), aber auch an die Ärzte (Nr. 27). Man wird einwenden, das Gespräch, dem hier stattgegeben wird, beschränke sich auf die Fragen der pastoralen Anwendung und der Findung neuer, „erlaubter“ Methoden der Empfängnisregelung; was aber die Prinzipien der Erlaubtheit einer Methode angehe, so versperre das einsinnige Reden der Enzyklika den weiteren Gesprächsraum.

Gegenfrage: Ist christlich verstandener Gehorsam nicht selbst eine Form des Gesprächs? Gehorsam ist doch keine Reaktion, sondern eine Antwort. Antwort gibt es aber nur in der freien Übersetzung des Vernommenen ins eigene Wort. Im Falle des Gehorsams ist dies zwar „dasselbe“ Wort, aber doch ein reflektiertes, in der eigenen Freiheit und Besinnung des Gehorchenden reicher und „neu“ gewordenes Wort. Gewiß geht das Gespräch des Gehorsams dem kirchlichen Lehramt gegenüber nicht nur um der Gründe willen auf das Gebotene oder Gelehrte ein, aber es geht gleichwohl auf dieses Gebotene und Gelehrte und auf seine Gründe ein.

Das gilt ganz allgemein, auch dort, wo ein „letztes Wort“ gesagt ist. Selbst ein Dogma ist nicht nur Ende, sondern immer auch Anfang einer Entwicklung, Entwicklung, die diesen Anfang nicht umdeutet, aber deutet und weiterbildet.

Wiederum stellt sich indessen eine Gegenfrage: Ist mit dem Hinweis auf den Gesprächscharakter auch des Gehorsams die Frage nach dem Stellenwert einer Enzyklika bereits beantwortet? Darauf ist grundsätzlich ein Nein zu sagen. Dieses Nein bedarf, indessen einer differenzierenden Reflexion.

Eine Enzyklika ist als solche eine authentische Äußerung des ordentlichen Lehramts des Papstes, die nicht nur ein äußeres Sich-Fügen, sondern eine innere Zustimmung fordert, ohne jedoch unrevidierbar oder gar unfehlbar zu sein. Die Frage der Übersetzung in den Vollzug heißt für den Gläubigen hier also nicht immer nur: Wie ist das zu verstehen? Sie kann auch heißen, wenn schwerwiegende Gründe das fordern: Ist das so? Wenn eine solche Frage sich dem Gewissen auferlegt, muß dieses freilich immer bereit sein, eigene Vor-meinungen durch die Gründe des Lehramts überholen zu lassen und nicht den eigenen Überlegungen oder auch denen angesehener Theologen mehr Erleuchtung zuzutrauen als denen des Lehramts. Allerdings kann sich aus solcher redlich bestandenen Situation im Grenzfall auch einmal die Pflicht des Gewissens zum Abweichen von der Lehraussage ergeben. Wichtiges und Klärendes sagt zu diesen Fragen der untenstehende Abschnitt des „Schreibens der deutschen Bischöfe an alle, die von der Kirche mit der Glaubensverkündigung beauftragt sind“. Er erläutert, die einschlägige Stelle der Kirchenkonstitution des II. Vaticanum (Nr. 25).

Es bleibt noch zu sagen, daß in zwei Fällen auch eine Enzyklika an der Unfehlbarkeit des kirchlichen Lehramts teilhat: Entweder wenn ein Papst innerhalb einer Enzyklika die feierliche Verkündigung einer unfehlbaren Kathedralentscheidung vornimmt – dies müßte deutlich am Text abzulesen sein. Oder wenn eine Enzyklika Sätze enthält, die zum unfehlbar sicheren Gehalt der ordentlichen Lehrverkündigung der Kirche gehören – dann läge die Unfehlbarkeit nicht an der Form, sondern am Inhalt der Enzyklika –; der theologische Nachweis dieses Tatbestands wäre indessen jeweils eigens zu erbringen, erfordert also gerade klärendes Gespräch.

Unsere Frage ist indessen damit noch nicht erledigt: Was ist der Stellenwert einer Enzyklika im kirchlichen Gespräch? Die objektiven Auskünfte über die Verbindlichkeit einer Enzyklika umreißen mehr nur formal den Rahmen der konkreten Situation des Gesprächs, in dem sich das Gewissen, die Seelsorger und die Theologen dem kirchlichen Lehrwort gegenüber befinden. Auf der einen Seite ist gewiß das kirchliche Lehramt mehr als der bloße Makler theologischer Argumente. Auf der anderen Seite schließt die grundsätzliche Bereitschaft des Gewissens, einem authentischen, aber nicht unfehlbaren Lehrwort zu gehorchen, die ebenso grundsätzliche Möglichkeit des Abwägens der Argumente nicht aus. sondern ein. Wie ist dieser „Spielraum“ zu füllen? Das ward in den meisten Fällen sinnvollerweise nicht zum Problem, es kann jedoch zum Problem werden, und es ist für zahllose Gewissen heute ein Problem.

Gäbe es Patentantworten, wie man den Zwischenraum zwischen dem Anspruch des kirchlichen Lehrworts und der Frage des eigenen Gewissens überbrückt, so wäre ja das Gespräch überflüssig, ersetzbar durch ein sicherndes Ritual, welches das fertige und richtige Ergebnis liefert. Gott sei Dank, daß es dieses Ritual nicht gibt, sondern eben: die unabnehmbare Freiheit, die erfordert, das Gespräch zu führen und zu bestehen; zu führen und zu bestehen freilich nicht nach Gutdünken, sondern in sauberer, ehrfürchtiger, durchgeklärter Argumentation. Das ist ein Gespräch freilich eigener Art. Sie erschließt sich in der Frage: Wie kann die Einheit mit dem kirchlichen Lehramt Gespräch, und wie kann das Gespräch Gestalt dieser Einheit sein?

So gestellt, erscheint diese Frage heute vielen zu „brav“. Man erinnert gerne an die Situation des Paulus, der dem Petrus zu Antiochien mutig ins Angesicht widerstand (Gal 2,11–14). In der Tat ist nicht auszuschließen, daß jene Situation sich immer wieder einstellt. Aber es kann – wie auch ein falsch verstandener Gehorsam – zum Komplex werden, wenn man vermeint, sie immer und überall erwarten, gar herbeiführen zu müssen. Die eindringlichsten Mahnungen desselben Paulus zur Einheit müssen genauso gern und genauso gut gehört werden. Vielleicht hegt in ihnen sogar der Schlüssel.

Die Einheit der Kirche ist für Paulus zwar ein ganz konkretes und ganz radikales Erfordernis. Sie ist aber keine blockhafte Einheit, sondern die Einheit der vielen Glieder an einem Leibe, von denen jedes seine eigene Funktion, seine eigene Funktion aber gerade fürs Ganze hat. Der eine Geist, der einen Leib der Kirche fügt, gibt vielerlei Gaben. Wem er seine Gabe gibt, den bindet er an seine Gabe, bindet ihn eben dadurch jedoch zum Dienst an den anderen Gaben und zur Hinordnung auf sie. Das schließt also ein, daß nicht jeder in der Kirche Zuständigkeit fürs selbe, jeder aber Zuständigkeit fürs Ganze hat.

Von hierher wird sofort deutlich, daß das Lehramt seine Aufgabe nicht erfüllt, wenn es sein Wort als bloßes Produkt der vielen Meinungen in der Kirche vorlegte. Nur aus der Distanz seiner eigenen Gabe vermag es der Kirche zu schenken, was es ihr schuldet. Gleichwohl steht dieses Lehramt in einem doppelten Gespräch: Es spricht nie aus sich allein, es schafft nie Wahrheit, es legt nur gegebene, der ganzen Kirche gegebene Wahrheit aus, allerdings mit der Gabe der Verbindlichkeit.

Das erste und grundlegende Gespräch des Lehramts ist also das Gespräch mit dem Wort Gottes, das unverfügbar in der Offenbarung ergangen und in der Schöpfung geborgen ist, auf welche diese Offenbarung und in der Schöpfung geborgen ist, auf welche diese Offenbarung sich bezieht und innerhalb derer sie erst verständlich wird. Das auslegende, das ausgelegte, verbindlich vorliegende Wort ist aber notwendig auch Wort des Gesprächs mit jenen, denen es sein Wort aus- und vorlegt. Dem Hören auf Gottes Wort muß das Hören auf das Leben dieses Wortes in den vielen Gaben des Geistes innerhalb der Kirche entsprechen. Die neu in der Kirche sich herausbildenden Strukturen der Zusammenarbeit zwischen Hierarchie und Laien und das theologische Gespräch sind Stellen, an denen sich solches Hören ereignen kann. Doch noch einmal, es wäre ein Verkennen der unabnehmbar eigenen Funktion und Gabe des Lehramts, wollte man dem Lehramt die differenzierende Distanz der eigenen Verantwortung zur gehörten Meinung einfachhin absprechen; gerade dies müßte das Gespräch ja einebnen. Noch [4] ein Weiteres ist ferner klar: Ein Wort des Lehramts ist demnach mehr als ein Diskussionsbeitrag, und nur wenn es als mehr denn ein Diskussionsbeitrag gehört und verstanden wird, geht das Gespräch mit dem Lehramt weiter. Ein Wort des Lehramts entbindet umgekehrt das Lehramt nicht vom Weiterhören in die Kirche hinein; die Fragen aus der Kirche an dieses Wort wiederum dürfen ebensowenig das bereite Weiterhören auf dieses Wort und auf das Lehramt schwächen. Was Paulus von der Eucharistiefeier in Korinth sagt, gilt auch vom innerkirchlichen Gespräch: „Wartet aufeinander!“ (1 Kor 11,33). Man ist versucht, paradox zu formulieren: Wartet aufeinander – denn es ist höchste Zeit!