Dein Herz an Gottes Ohr

[108] Mit der Stimme der anderen

I

Ein Jünger sagt zum Meister: „Warum beten wir so oft nicht mit unseren eigenen Worten, sondern mit den Worten anderer, mit den Gebeten, die uns die Väter und die Heiligen gelehrt haben? Wenn ich die Stimme anderer annehme, bin wirklich ich es, der da betet?“

Der Meister antwortet: „Die Gebete der Väter und der Heiligen sind Schlüssel, die das Herz Gottes aufzuschließen vermögen. Und wenn wir uns von diesem Schlüssel das Herz aufschließen lassen, dann werden in uns Worte erwachen, die Gottes Herz aufschließen und anderen das Herz aufschließen.“

II

Manchmal wird es uns schwer, vorgegebene Gebete zu vollziehen. Sicher, niemand ist genötigt, gewisse Formen und Formeln, mit denen er nicht leicht etwas anzufangen weiß, seinem persönlichen Gebet aufzuerlegen. Gott liebt die Vielfalt und die Unmittelbarkeit der menschlichen Herzen und Stimmen.

Es gibt da zwei Nöte, zwei Schwierigkeiten.

Die eine: in der Liturgie. Vieles an ihr ist fremd; vielleicht noch fremder, wenn es in der Mutterspra- [109] che an mich herankommt. Die Spannung zu meiner, unserer Lebenswelt wird noch deutlicher. Kann ich, wahrhaft ich so beten?

Die andere: beim freien Beten in Gemeinschaft, auch bei der Gestaltung der „Freiräume“ in der Liturgie. Daß ich da hineingenommen werde ins Ich eines anderen, in den Stil und die Empfindungen einer Gruppe, die „etwas vorbereitet hat“, kann mir mitunter schier das eigene Atmen blockieren.

Doch genau hier haben wir die entscheidende Stelle erreicht.

Daß in der Liturgie ich mich von der Sprache der anderen Epoche, von der Sprache der Kirche im Ganzen in meinem Eigenen „beengen“ lasse, ist, tiefer betrachtet, Herzerweiterung. Ich bete mit einem größeren Herzen als nur dem meinen. Ich überspringe und verdränge die Spannung nicht, aber ich halte sie aus – und so wird sie fruchtbar. Deine Stimme, die Stimme des Ganzen, gehört zu meiner Stimme.

Und so kann es auch bei den Gliedern einer Familie, eines Kreises, einer Gemeinde kostbar sein, wenn wir im Ringen um das Eine, Ganze, Gemäße über uns hinaushorchen, um uns zuerst bedrängen und um uns sodann beschenken zu lassen vom anderen in seiner Andersheit.

Hier wird ein neuer Sinn dafür erwachsen, daß Treue zu vorgegebenen Formen mehr ist als ein Legalismus; hier wird zugleich die Fähigkeit wach, sich selbst im anderen, den anderen in sich selbst und so den Herrn in der Mitte beim Gebet gegenwärtig zu halten.