Im Konkurrenzkampf der Weltanschauungen

[109] Primärgruppe Menschheit

Kommunikation ist alles. Information gehört zur Kommunikation, Information reicht aber nicht aus. Zudem: Wie ist Information überhaupt zu leisten? Darauf ist doch wohl jeder gekommen, der mit den Medien umgeht, daß nichts so manipulierbar ist wie gerade die Information, daß in der Kombination der Ausschnitte, daß in der Reihenfolge und im Kontext des „objektiv“ Dargebotenen ungeheuerliche Möglichkeiten liegen, den Konsumenten zu programmieren, sein Urteil zu beeinflussen. Und doch wäre es billig, auf die „bösen Informationsmacher“ einzuschlagen; denn wie immer sie es anstellen, Information ohne Deutung gibt es gar nicht. Man kann sogar sagen: Information ist in doppelter Hinsicht stets einseitig. Einmal eben deswegen, weil Information ohne Interpretation nicht möglich ist; zum anderen aber deswegen, weil Information auch sachlich immer nur eine Auswahl aus dem darbietet, worüber an sich zu informieren wäre. Wohl vielen von uns ist es schon so ergangen: Man hat von jemand etwas gelesen oder gehört, ihn vielleicht sogar am Fernsehen sozusagen „persönlich vor sich gehabt“, aber wenn man direkt mit ihm zu tun hat, ist es ein ganz anderer Mensch. Man sollte halt alle kennen, mit allen umgehen können, dann wäre die Sache einfacher. Daß das aber nicht geht, liegt [110] auf der Hand. Und außerdem erschöpft sich ja auch die Wirklichkeit des Menschen nicht in dem, wie er persönlich ist und was er privat tut, seine Außenwirkung, das, was von ihm in den „neutralen“ Apparat der Gesellschaft, der Wirtschaft, der Kultur einfließt, gehört mit zu ihm, der Mensch ist nicht nur Intimwesen. Was die Sache aber vor allem kompliziert macht, ist das notwendig fortschreitende Ausmaß der Verflechtungen, in denen alle mit allen in der Welt stehen. Um informiert zu sein, müßte man von immer mehr Menschen immer mehr wissen. Dadurch aber werden die Beziehungen zu den einzelnen neutralisiert und formalisiert. Die Kontaktschwemme führt zur Kontaktarmut. Der Mensch sucht sich Auswege. Entweder er kuschelt sich hinein in eine kleine Gruppe, in der er sich wohlfühlt, und betrachtet sie als Fluchtburg vor der schlimmen Welt, die er eben bestehen muß. Aber was ihm in dieser Welt begegnet, das behandelt er neutral, dienstlich, teilnahmslos. Arbeit und Leben, Gesellschaft und Privates sind streng getrennt, fallen auseinander. Daß dies nicht zur Klimaverbesserung in den Bezirken des Lebens führt, in denen alle miteinander zu tun haben, liegt auf der Hand: das isoliert gehütete Private, das Idyll der wunderbaren Intimgemeinschaft kann aber auch seinerseits auf die [111] Dauer nicht leben ohne die Luftzufuhr, die nur durch offene Fenster und Türen garantiert ist. Es bilden sich heute viele kleine, in sich geschlossene Clubs und Gemeinschaften; sie fallen aber recht bald wieder auseinander. Oder – ein anderer Ausweg – man macht in Menschheit. Gewiß, das soll man tun. Doch manchmal tut man es unbemerkt so, daß man die Fernsten nicht erreicht und die Nächsten übersieht. Wirklich informiert zu sein, Probleme allseitig zu sehen und dabei doch so profiliert, daß sich noch klare Handlungskonzepte ergeben, wird ständig schwerer. Plakatives Denken und Agieren verfehlen aber immer mehr die Wirklichkeit und machen insgesamt ungerecht. Wie aber soll man das schaffen: zugleich weltweit offen sein, über alles allseitig Bescheid wissen – dabei aber kein Roboter werden, sondern ein Mensch bleiben, der menschlich seinem Nächsten begegnet, der den kleinen Platz, den er konkret auszufüllen hat, nicht überspringt? In der Tat, die Menschheit müßte heute zur Primärgruppe werden! Etwas, das mich immer wieder merkwürdig berührt: Ich gehe in einer großen Stadt über eine belebte Straße, bin eingesponnen in meine Gedanken und Ziele, in meinen festgelegten Stundenplan. Außer mir, und das ist es gerade, gehen aber soundso viele [112] andere über dieselbe Straße. Sie tupfen nur wie flüchtige Punkte mein Aufnahme- und Reaktionsvermögen an – und damit hat es sich, damit sind sie vorbei. Und doch ist jeder einzelne von diesen anderen genauso die Mitte seiner Welt, wie ich die Mitte der meinen bin. Ich bin genauso nebensächlich und flüchtig für sie wie für mich. Wie wäre das, wenn ich nun plötzlich umsteigen könnte in den anderen? Ist das, was mich bewegt, überhaupt die Wirklichkeit, oder gehört nicht die des anderen genauso dazu? Wo ist überhaupt die Wirklichkeit? Seit es Jesus Christus gibt, heißt die Antwort: in einem menschlichen Herzen. Gott „synchronisiert“ nicht nur die vielerlei Wirklichkeitserlebnisse in einer quantitativen Allwissenheit; er schaltet nicht nur in einer neutralen Relaisstation alles, was passiert, parallel. Seine Allwissenheit ist, wenn man so sagen darf, keine bloß informative, keine, die nur objektiv registriert, sie ist teilnehmende, sie ist kommunikative, alles als ihr Eigenes in sich nehmende, alles mittragende und begleitende Allwissenheit, Allwissenheit, die sich nicht tiefer zeigen konnte als darin, daß sie sich ein menschliches Herz erbildet, um in ihm alle Welten und alle Zeiten miteinander zu verbinden in demselben Leiden und in derselben Liebe, die alle und alles in sich schließen. [113] Von hier gewinnen wir Zugang auch zu den großen Aussagen etwa des Epheserbriefes, nach denen Gott in Jesus alles zusammengefaßt, der ganzen Schöpfung ein neues Haupt und einen neuen Sinn gegeben hat. Jesus ist das „Aggiornamento Gottes“; in ihm sind alle Zeiten und Räume der Menschheitsgeschichte eingebracht in die Liebe des Vaters, in Gottes einen Tag. Und Gott selbst bringt sich in ihm ein in die eine Nacht der Menschheit, in alle offenen Fragen, in alle unerfüllten Einsamkeiten, in alles offene Warum, in alle Isolierung und Zersplitterung, die Menschen je erfahren haben. Kardinal Suenens hat es erst kürzlich einmal so ausgedrückt: es gehe heute nicht nur um das „Aggiornamento“, also nicht nur darum, up to date zu sein, alles auf den laufenden Tag zu bringen, sondern um das „Annottamento“, um den Mut, die Nacht des Heute auszuhalten in Gemeinschaft mit der Nacht des am Kreuz Verlassenen, der unsere und alle Nacht auf sich genommen hat. Suenens sagte das im Blick auf die Kirche, Und in der Tat ist es auch in der Sicht des Epheserbriefes die Berufung der Kirche, Jesu „Gleichzeitigkeit“ mit aller Menschenzeit in die Geschichte hinein zu inkarnieren, durch die Geschichte hin zu bewegen. In der Kirche gehört das Getrennte und das Zerrissene, in der [114] Kirche gehören – aus der Problemperspektive des Epheserbriefes gesagt – Juden und Griechen zusammen. In der Kirche begegnen sich die Zeiten, die Traditionen und Generationen. Kirche ist, zeitlich und räumlich, eine Zusammenfassung der Welt, der Menschheit und gerade darin Leib des Herrn, an dem alles Menschliche, das sich glaubend ihm überläßt, Glied zu werden vermag: Wer die Not um Information und Kommunikation, die unsere Stunde zeichnet, jedoch ernst nimmt, wird sich mit diesem Hinweis auf Jesus und die Kirche nicht begnügen. Was nützen diese objektiven Vorgegebenheiten, wenn sie – und dies ist gerade heute der Fall – kaum mehr verständlich zu machen, kaum mehr übersetzbar zu sein scheinen in den Horizont der heutigen Menschheit? Wir müssen Jesus Christus schon, biblisch gesprochen, „anziehen“, wir müssen Kirche schon leben, damit Jesus und seine Kirche als das „aggiornamento und annotturnamento Gottes“ verständlich werden können. Doch wie sollen wir das tun? Anfangen muß es bei jedem einzelnen. Der einzelne muß in die Lebensform Jesu sich hineingeben, um seinen universalen Kontakt, seine menschheitlich umfassende und doch je persönliche, je einmalige Kommunikation zu verwirklichen. Das ist doch das Un-[115]glaubliche bei Jesus: Er ist der Mensch für alle, und darin ist er gerade und nicht weniger der Mensch für mich. Dieses Maß Christi ist auch unser Maß. Ist das nicht die bare Überforderung? Und doch gibt es einen Weg: das Leben im jeweiligen Augenblick, das alles, was war, und alles, was kommt, weggibt an Jesus, um ganz frei zu sein für den, der gerade mein Nächster ist. Dies erlaubt, mehr Menschen zu begegnen und den Menschen mehr zu begegnen. Der gegenwärtige Augenblick, das ist der gemeinsame Nenner, der es uns ermöglicht, für alle und doch für jeden einzelnen da zu sein. Dieses Leben im Augenblick aber ist kein Trick einer erlernbaren Lebenskunst; es ist Gemeinschaft mit Jesus, Hineingehen in sein Leersein von sich, in seine Bereitschaft, die „Stunde“ zu leben, die der Vater ihm schickt. In solcher Jeweiligkeit, in solchem Leben, das uns einerseits beständig Abschied nehmen läßt und darin andererseits frei und leicht macht wie die Kinder, die Vögel und die Lilien, wird die müde, verplante, in ihrem eigenen Umtrieb sich langweilende Welt wieder aufgebrochen. Sie wird zum Raum der Begegnung und der Nähe. Gerade an der Stelle, die uns das Leersein Jesu von sich, sein radikales Abschiednehmen von sich, sein gehorsames Offensein für den Willen des Vaters bis [116] zum Tod am Kreuz als Maß dafür vorstellt, wie das Leben in Christus aussieht (vgl. Phil 2,1–11), ist aber die Rede von der Gegenseitigkeit: wir sollen diese Haltung Jesu einander entgegenbringen, wir sollen Gemeinschaft werden in ihm. Das erfordert, daß jeder so leer für den anderen, jeder so hinhörend auf den anderen, jeder so verfügbar für den anderen wird wie der Sohn dem Vater gegenüber. Christliche Gemeinschaft wächst daraus, daß ihre Partner sich immer wieder an den Nullpunkt ihres Ich begeben, an jene Grenze des eigenen Meinens, Mögens und Urteilens, an der sie sich selbst verlassen, wie der Herr sich verlassen hat in den Vater hinein. Wir haben uns zu verlassen aneinander und aufeinander, aber nicht in der Fixierung aneinander und aufeinander; der, um den es dabei allein geht, ist der Herr. Gerade wenn wir uns auf ihn einstellen, so daß er die Mitte ist, verfangen wir uns nicht in der Einbahnstraße menschlicher Sympathien, wird Gemeinschaft nicht zum Club. In der gemeinsamen Orientierung an ihm allein wird es auch möglich, über die bloße Information, Über die bloße gemeinsame Planung und Aktion hinauszuwachsen und sich etwas zu schenken, was weder nur funktional ist und darum allein läßt noch bloß privat und darum nur aneinander bindet: Erfahrung mit dem Herrn, Erfahrung, [117] in der er, in der das eigene Ich und in der die Welt lebt. So miteinander lebend, wird christliche Gemeinschaft nicht weltlos, sondern weltoffen. In der Beziehung zueinander, im beständigen Einüben des gegenseitigen Liebens, wie Jesus uns geliebt hat, wird es uns unmöglich werden, andere, die „außerhalb“ stehen, weniger zu lieben. Solche christliche Gemeinschaft ist naturgemäß auch nicht Fixierung auf einen bestimmten Personenkreis: nur wir können es miteinander, wir wollen für immer so beieinander bleiben! Nein, in der Gemeinschaft um den einen Herrn ist der einzelne unersetzlich und auswechselbar zugleich. Unersetzlich: denn für ihn hat der Herr alles, sich selbst, sein Blut eingesetzt; auswechselbar: denn die Gemeinschaft, in der es um den Herrn allein geht, kann ich mit jedem leben, dem es um ihn allein geht. Die Menschheit wächst so in die Gemeinschaft jener hinein, die um Jesu willen und in seinem Namen eins sind. Wenn sie ihr Leben einander schenken, schenken sie einander auch ihren Anteil an der menschheitlichen Erfahrung. Damit diese christliche Gemeinschaft aber tatsächlich Sauerteig in der Menschheit werden kann, muß sie Kirche sein im umfassenden Sinn. Gewiß, Kirche lebt in der konkreten einzelnen hier und jetzt um den Herrn versammelten [118] Gemeinschaft. Kirche ist aber zugleich das Zusammengehören aller Glaubenden, gleichviel in welcher Kultur und unter welchen Bedingungen sie ihr Menschsein und Christsein verwirklichen. Diese umfassende Einheit darf nicht im Organisatorischen stecken bleiben, auch nicht in der weltweiten Hilfe füreinander, auch nicht in der Gleichheit des Bekenntnisses, des Rechtes, der Liturgie; es braucht lebendige Kommunikation. Für solche Kommunikation aber ist es entscheidend, daß es „Gruppen“, daß es „Bewegungen“ gibt, Gemeinschaften, die hier und jetzt ein konkretes Miteinander, geöffnet zur ganzen Gemeinde, eingepflanzt ins Gesamt der Kirche, leben; leben aber im Austausch und in der Verbundenheit, die hinüberreicht in andere Nationen, hin zu anderen Mentalitäten, Kulturen und Formen des Christseins. Auf solche Weise wird Menschheit konkret, und wird der „konkret“, der die Einheit und Gleichzeitigkeit der ganzen Menschheit ist.