Fragen nach Gott
[11] Frage nach Gott: im Rückzug oder im Kommen?
1.1 Man könnte darüber streiten, ob die Gottesfrage dabei sei, aus dem allgemeinen Bewußtsein der Zeit zu verschwinden, oder ob sie dabei sei, in dieses allgemeine Bewußtsein gerade zurückzukehren. Anzeichen gibt es für beides. Um mit dem letzteren zu beginnen: Immer wieder hat sich die Frage nach Gott im menschlichen Bewußtsein durchgesetzt, und wenn heute viele aufs neue nach einem letzten Sinn des Lebens fragen, wenn sie mit bloßen Programmen für eine bessere Welt und eine machbare Zukunft nicht zufrieden sind, so scheint sich wenigstens der Raum zu öffnen, in den die Botschaft von Gott eintreten kann; die Unruhe des Menschen nach einem Mehr gegenüber allem Durchsetzbaren, Berechenbaren, Leistbaren könnte als zumindest „anonyme“ Frage nach Gott gedeutet werden.
Dem steht freilich Gewichtiges entgegen. Wir finden uns im Zuge einer von langer Hand her sich anbahnenden Geschichte, die sich als Geschichte des Rückzugs Gottes aus seiner selbstverständlichen Gegebenheit für den Menschen verstehen läßt. Schon am Anfang der Neuzeit waren die Pensées eines Pascal seine Materialsammlung, sein Vorentwurf einer großangelegten Apologie des Christentums, die mehr als bloß akademische Hintergründe hatte.[1] Es soll im damaligen Paris einige tausend Atheisten gegeben haben, und es ging das Gerücht, der Generalvikar sei der prominenteste unter ihnen gewesen. Atheismus konnte, wenigstens latent, in einer sich durchaus als christlich gebenden Kultur wu- [12] chern, und im 18. Jahrhundert formierte er sich immer mehr in eine, wenn auch esoterische, gebildete Öffentlichkeit hinein. Je mehr es aber durchaus honorig wurde, gegen die Existenz Gottes fragende Einwände zu formulieren oder gar sie zu bestreiten, desto „uninteressanter“ wurde Atheismus. Die Frage, die sich heute weithin stellt, lautet nicht mehr in erster Linie, ob es Gott gebe, sondern ob die Frage, ob es Gott gebe oder nicht, überhaupt interessant und relevant sei.
Wenn Hölderlin vom „Fehl Gottes“ spricht, so geht es ihm nicht um die Frage nach der Existenz Gottes, sondern um das Geschick seiner Abwesenheit.[2] Und sowenig der Atheismus Nietzsches damit bestritten sein soll, so richtig ist es doch, daß seine Rede vom „tollen Menschen“, der den „Tod Gottes“ proklamiert, mehr zum Inhalt hat als ein Bekenntnis zur Nicht-Existenz Gottes:[3] einmal weist sie darauf hin, daß das Bewußtsein des Menschen sich von Gott gelöst, Gott aus seinem Repertoire getilgt hat, zum anderen darauf, daß auch unter scheinbar „gläubigen“ Rede- und Verhaltensweisen sich dieser Tatbestand verborgen halten kann. Heidegger ist es, der vielfältig und eindrucksvoll dem nachgeht, worauf Hölderlin und Nietzsche den Finger legen;[4] doch weit über den Kreis derer, die sich an Heidegger orientieren, hinaus und oft in ganz anderer Blickrichtung hat sich das Sprechen vom Tod Gottes, ja vom Atheismus im Christentum bis in den Jargon, ja bis in den theologischen Jargon eingebürgert.
Scheinbar harmloser, aber am Ende eher noch bedrohlicher hat sich im christlich-kirchlichen Selbstverständnis etwas anderes begeben, das in denselben Kontext weist: Man spricht (beinahe darf man bereits sagen: man sprach) wieder von Kirche. Doch wenn Kirche Modell von Menschlichkeit, Modell für die Zukunft ist, [13] so ist man damit zufrieden, auch wenn die Frage nach Gott dabei etwas zu kurz kommen sollte; die Botschaft der Kirche wird zum Interpretament einer Orthopraxie erklärt, über das sich reden läßt. Die Ratlosigkeit, die eine bloße Praxis zurückläßt, die Fragen, die sie nicht löst, drängen indessen bereits wiederum zur Rückbesinnung auf die Botschaft. Ob man nun die Fragen des Menschen nach dem Sinn als Gottesfrage deutet oder nicht, in der Antwort des Christentums jedenfalls kann Gott nicht ausgespart bleiben.
1.2 Ist nun also die Frage nach Gott auf dem Rückzug aus der menschlichen Geschichte, oder feiert sie ihr Comeback? Darauf soll aus den gezeichneten Entwicklungen keine eindeutige Antwort versucht werden – und dies nicht um der Schwierigkeit willen, Prognosen zu stellen, sondern um der Gottesfrage selber willen. Wie hoch die Frage nach Gott an der Börse der Aktualitäten gehandelt wird, darf letztlich nicht darüber entscheiden, ob und wie sich christliche Theologie der Gottesfrage annimmt. Denn wenn die Theologie nur deswegen viel von Gott spräche, weil es heute wiederum gefragt ist, dann wäre der Gott, von dem sie spricht, nicht ohne Grund im Verdacht, doch nur Projektion menschlichen Fragens und Bedürfens zu sein, und Theologie wäre im Verdacht, nur sich selber retten zu wollen. Theologie muß zwar immer bei den Fragen der Menschen anknüpfen, da nur so Gottes Wort für den Menschen verständlich werden kann; sie muß aber zugleich immer mehr sein als bloße Hermeneutik menschlichen Fragens; denn sonst beantwortete sie die Frage nur mit der Frage, ihre Antwort wäre ein Taschenspielertrick. Theologie muß Gott fragen, was er von sich zu sagen hat, und da er, wenn er Gott ist, der Gott ist, der den Menschen geschaffen und sich ihm in seiner Offenbarung zugesagt hat, so ist das, was er von sich selber sagt, gewiß auch von der Art, daß es den Menschen und seine Frage zu treffen vermag. Nur aus solchem Vertrauen ist Theologie mehr als Psychoanalyse menschlichen Fragens, ist menschliches Fragen ihr aber auch mehr als die Täuschung des Menschen darüber, daß er im Grunde alle Antworten aus sich selber weiß.
[14] 1.3 Sosehr menschliches Fragen nach Gott an diesen Gott selber verwiesen ist, so unabdingbar bleibt doch die Rückfrage, wie menschliches Fragen überhaupt auf Gott zu in Gang komme, wie der Gott, nach dem es fragt und bei dem es anfragt, ihm zumindest als fragwürdig in den Blick komme. Und gerade wenn Gott von der Art ist, daß er in der Frage des Menschen nach ihm die führende Rolle selbst übernehmen muß, um als Gott gefragt zu sein, wird der dargestellte Befund bedrängend: daß es eine Geschichte des Verblassens, ja des Absterbens der Gottesfrage beim Menschen zu geben scheint, wie der Verlauf der letzten Jahrzehnte es zeigt. Daraus ergeben sich für unsere Überlegungen drei Schritte: zunächst muß einmal das scheinbar selbstverständliche Wissen darüber, was Frage nach Gott heißt, befragt werden; sodann muß zu klären versucht werden, wie es zum Rückzug der Frage nach Gott kommen konnte; schließlich muß in den Blick treten, wie die Frage nach Gott sich unter ihren eigenen Bedingungen und unter den Bedingungen des „Endes der Neuzeit“ heute dem Menschen neu erschließen kann.