Das Wort für uns

[110] Orientierung am Kreuz

Dieser Text stammt aus einer Ansprache, die im Jahr 1273 von dem großen Franziskanertheologen Bonaventura gehalten wurde. Das Thema ist höchst sonderbar: Bonaventura spricht von Jesus Christus als der Mitte der Mathematik, wobei er unter Mathematik, mittelalterlich geprägt, die Geometrie, die Lehre vom Raum, versteht. Wenn wir seinen Gedankengang ein bißchen übersetzen dürfen: Der Mensch läuft Gefahr, äußerlich alles einteilen und messen zu können, aber innerlich keine Orientierung zu haben. Meßzahlen und Gesetzmäßigkeiten unterscheiden können nützt wenig, wenn nicht die Welt, wenn nicht alles mir zum Raum wird, in dem ich selber leben, maßnehmen, eben mich orientieren kann. Doch dazu braucht es einen festen Punkt, wie Bonaventura sagt. Und jener Punkt, von dem ich mich und alles zu bemessen vermag, ist der tiefste, der unterste, der sozusagen alles auffängt, in dem alles zusammenläuft wie in einem Rinnstein. In ihm sammelt sich alles, was sich nicht einordnen, nicht verstehen läßt, alles, was mich stößt und woran ich mich stoße. Was fällt, was [111] sinkt, wird dort aufgefangen, so daß dann der Raum wieder seine Klarheit, seine Begehbarkeit, seine Orientierung erhält. Doch dieser unterste Punkt der ganzen Welt, dieser Tiefpunkt des Lebensraums aller Menschen, aller Geschlechter, aller Geschichte, der doch die geheime Mitte ist, unsichtbar verborgen als der Bezugspunkt der ganzen Peripherie der Erdoberfläche: dieser unterste Punkt ist das Kreuz Christi.

Jesus hat sich auf den letzten Platz der Geschichte und der Menschheit gestellt. Er hat auf sich die Last aller Welt fallenlassen, und deswegen ist für uns der Raum wieder frei. Aber er ist für uns nur dann frei, wenn auch wir die Perspektive des Kreuzes zu unserer eigenen machen, wenn wir mit unserem eigenen Dasein, wenn wir mit unserem eigenen Leben uns an denselben Punkt begeben, an den Jesus hinabgestiegen ist, eben an den letzten Platz.

Von dieser befremdlichen und doch abgründig tiefen Überlegung des mittelalterlichen Heiligen fällt Licht auf das Wort Jesu, das er beim Gastmahl des Pharisäers spricht. Er beobachtet, wie die Leute sich an den obersten Plätzen drängen. Und da setzt er ein: „Du aber, [112] wenn du geladen bist, geh und setz dich an den letzten Platz. Kommt dann der Gastgeber, so wird er zu dir sprechen: Freund, rücke höher hinauf. Das wird dir zur Ehre gereichen vor allen Tischgenossen. Denn ein jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden“ (Lk 14,11).

Jesus geht es nicht um Anstandsregeln, er will uns nicht einen Reich-Gottes-Knigge an die Hand liefern. Es geht ihm immer und überall um die Herrschaft Gottes, und es geht ihm darum, in seinem Wort uns dorthin zu bringen, wo dieses Reich, diese Herrschaft Gottes unser eigenes Dasein ergreifen kann. Und zugleich gibt Jesus Zeugnis von sich selbst, Zeugnis davon, wie in ihm das Reich Gottes angebrochen ist, wie er selber das inkarnierte Reich Gottes, das inkarnierte Wort von der Herrschaft Gottes ist.

Gott ist nicht ein ehrsüchtiger Herr, der von uns Übungen einer künstlichen Demut haben will, einer Unterwürfigkeit und Niedrigkeit, die sich in sich selber krümmt. Gott will sich selbst uns schenken, aber er kann es nur, wenn wir ihn Gott sein lassen. Und wenn er Gott ist, dann sind wir jene, die er aus dem Nichts geschaffen hat. [113] Wenn er zu Wort kommen soll, müssen wir Schweigen werden. Darum müssen wir uns an unseren Ausgangspunkt, in den Nullpunkt stellen, der unser wahrer Standort ist. Nur wenn wir vom Nullpunkt aus Gott etwas mit uns machen lassen, stehen wir ihm nicht im Wege.

Deswegen fängt die Predigt Jesu immer und überall damit an, unsere Selbstsicherheiten, unsere mitgebrachten Maßstäbe zu zerbrechen. Wo wir Voraussetzungen haben, wo wir uns an Vorurteile klammern, wo wir schon Bescheid wissen, wo wir etwas nicht hergeben wollen, wo wir ihm sagen: ich weiß doch, wer ich bin und wer der ist, da haben wir ihm bereits den Weg verbaut. Demut ist nichts anderes als Wahrheit. Wahrheit, daß Gott Gott ist und daß wir Geschöpfe sind, Geschöpfe aus dem Nichts. Und dabei ist es gerade unsere Köstlichkeit, aus dem Nichts geschaffen, aus dem Nichts aufgehoben und aufgelesen zu sein von Gott. Denn nur das Nichts ist leicht genug, nur das Nichts hat Raum genug, daß Gott alles mit uns machen, daß Gott uns mit allem, mit sich selbst erfüllen kann.

So tritt das Wort vom letzten Platz in eine Linie mit jenen anderen kostbaren Worten, die [114] immer wieder um dasselbe bei uns werben. Nur wenn wir werden wie die ganz Kleinen, können wir hineinkommen ins Gottesreich. Nur wenn wir arm sind im Geist, nur wenn wir bereit sind, als Arbeiter der elften Stunde einzutreten in den Weinberg, nur wenn wir uns verstehen als das hundertste Schaf, das sich verloren und verlaufen hat, nur dann kann er seine unbegrenzte, seine nicht nur auf unsere kleinkarierte Gerechtigkeit zugeschnittene Liebe uns schenken.