Anmerkungen zum Thema „Evangelisation und Befreiung“
[1] Die Botschaft Jesu vom Heil und von der Herrschaft Gottes hat den ganzen Menschen im Blick: den Menschen als einmalige Persönlichkeit, als leibhaftiges und geistiges, als individuelle und soziales, als geschichtlich konkretes und über
alle endlichen Horizonte hinausgespanntes Wesen. Keine dieser Dimensionen des Menschen kann aus dem Evangelium ausgespart werden weil sonst der Mensch nicht ganz Mensch, aber auch Gott nicht ganz Gott ist.Dennoch hat das Evangelium einen doppelten Schwerpunkt und damit eine eigentümliche Dialektik! Einmal geht es um
Gott allein und das, was nur er – über alle Berechenbarkeiten, Machbarkeiten und Möglichkeiten des Menschen, der Gesellschaft und der welthaften Evolution hinaus – dem Menschen schenken kann. Zum anderen soll sich die Zuwendung des Menschen zu Gott gerade in der Konkretion seines Verhältnisses zum Mitmenschen, seines Dienstes am Nächsten – und damit an der Gesellschaft – bewähren.Für die Freiheit des Menschen gilt daher: sie ist einerseits Freiheit, die Gott schenkt über alle endlichen Möglichkeiten und Begrenzungen hinaus; sie eröffnet dem Menschen, der sich glaubend auf sie hin orientiert, sogar Freiheit in der Unfreiheit, ja im Extremfall Freiheit zur äußeren Unfreiheit. Gerade deshalb ist aber andererseits der Mensch durch das Evangelium auch freigesetzt, verpflichtet und befähigt, sich für die äußere Freiheit seiner Mitmenschen einzusetzen, das Menschenmögliche zu tun, um in den Bezirken des Mitmenschlichen und Gesellschaftlichen ein „Sakrament“, ein Zeichen und einen Anfang der endgültigen Freiheit zu setzen, die letztlich Gottes Gabe ist.
Gerade deshalb aber dürfen die von Gott geschenkte Freiheit und Welt und die vom Menschen selbst zu erwirkende Freiheit weder auseinandergerissen noch miteinander vermengt werden. Würden sie auseinandergerissen, so würde das Heil des Evangeliums ausschließlich in einen Bereich des Jenseitigen, [2] Innerlichen, Privaten und letztlich Individuellen abgedrängt – die umfassende Botschaft von der Herrschaft Gottes wäre mißverstanden. Würden die Dimensionen der Freiheit miteinander vermengt, so führte dies zu einem unchristlichen Integralismus, der alle irdischen Bereiche beschlagnahmt, ihre Freiheit, ihre Autonomie also bedroht, oder aber zu einem Verschwinden der über das Endliche hinausreichenden Freiheit des Evangeliums im sozialen Engagement.
Das hat strukturelle Konsequenzen für die Kirche: Sie kann sich nicht als nur kompetent für das ewige Heil erklären und sich darum aus dem Dienst an der Gesellschaft heraushalten; sie kann sich aber auch nicht im Dienst für die Gesellschaft erschöpfen. Sie muß um des Evangeliums willen Anwalt auch der Freiheit im irdisch-gesellschaftlichen Bereich sein; sie kann sich aber auch nicht als alleinzuständig für diesen Bereich erklären und darf nicht durch verbindlich-amtliches Handeln die Freiheit der Christen, aus Sachkenntnis und eigenem Gewissen der Freiheit in der Gesellschaft zu dienen, beschneiden oder bevormunden. Nicht alles, was Christen gemeinsam und insofern „als Kirche“ im Dienst der Freiheit tun und sagen, darf „im Kamen der Kirche“ der Protest gegen offenbares Unrecht und offenbare Unfreiheit sowie die fundamentale Wegweisung für die Verwirklichung von Recht und Freiheit erfolgen. In der nachkonziliaren Entwicklung der Kirche in der Bundesrepublik Deutschland führte dies u. a. dazu, daß es Gremien der Mitverantwortung aller mit dem kirchlichen Amt gibt, die sich auch zu fundamentalen gesellschaftlichen Fragen äußern können und sollen, daß es aber außerdem noch Gremien der Kooperation von verschiedenen kirchlichen Gruppen und Aktivitäten gibt, (vgl. Nr. 26 des Konzilsdekrets über das Laienapostolat) in denen sich über das Maß des allgemeinverbindlich Möglichen hinaus gemeinsames Wirken der Katholiken für die Freiheit in der Gesellschaft artikuliert.
Das Evangelium selbst gibt eine doppelte, aber nicht widersprüchliche Wegweisung für den Dienst der Christen und der Kirche an der Befreiung. Einseitige Berufung auf den einen oder anderen Aspekt der evangelischen Aussagen allein führt zu Verkürzungen. [3]
Zum einen fällt auf, daß Jesus seine besondere Aufmerksamkeit und Liebe den Minderheiten, den Geknechteten, den Benachteiligten, jenen also zuwendet, die Freiheit in ihrem Leben nicht erfahren und verwirklichen können. Diese „Parteilichkeit“ Jesu bleibt für Christentum und Kirche maßgeblich, maßgeblich aber innerhalb jener „überparteilichen“ Offenheit Jesu, der seine Botschaft gerade nicht nur an eine Gruppe oder Schicht, sondern an das ganze Volk Israel und spätestens durch seine Jünger an alle Völker gerichtet hat.
Zum anderen fällt auf, daß Jesus gerade nicht zum äußeren Kampf gegen die Strukturen und Verhältnisse aufgerufen und beigetragen hat, die mit dem Postulat der Freiheit für alle im Widerspruch stehen. Dies hat einen dreifachen Grund: a) Jesus will darauf hinweisen, daß es ihm um eine Freiheit geht, die sich nicht in der Überwindung von äußeren Unfreiheiten erschöpft; b) er will die äußere Unfreiheit von der inneren Freiheit her nicht nur erträglich, sondern gerade auch überwindbar machen: das christliche Verhältnis zwischen Herr und Sklave, Jude und Grieche, Mann und Frau „unterwandert“ die verengenden soziologischen Vorentscheidungen der Zeit; c) die geschichtliche Situation, in die Jesus hineinspricht, läßt die Strukturen der Gesellschaft im ganzen noch nicht in dem Ausmaß, wie das heute der Fall ist, in den Horizont verändernden Handelns des einzelnen oder auch der Gruppen in der Gesellschaft treten.
Vom Verhalten Jesu und seiner Jüngergemeinde her gilt Über allen Wandel der Geschichte hinweg: Christliche Freiheit ist mehr als bloße Negierung, Ferner gilt: Der christliche Weg, um auch gesellschaftliche Freiheit zu verwirklichen, ist ein Weg der Gewaltlosigkeit, ist die Strategie und Taktik der Liebe und ihrer „Wehrlosigkeit“; andererseits macht es die Entwicklung der Gesellschaft im ganzen notwendig, daß heute auch gesellschaftliches Handeln als solches Thema christlichen und kirchlichen Engagements in anderem Maß wird, als dies in der Gesellschaft des ersten christlichen Jahrhunderts möglich war.
[4] Die fundamentale Befreiung des Menschen hat Gott nicht allein durch die Botschaft Jesu, sondern entscheidend durch die Hingabe Jesu am Kreuz bewirkt. Das Kreuz Christi bleibt für den christlichen Dienst an der Befreiung maßgeblich. Es ist ein Mißverständnis, wenn man im Kreuz das Prinzip erblickt, durch welches der Wille des Christen zur aktiven Überwindung der Unfreiheit gelähmt und die äußere Unfreiheit glorifiziert wird.
Die positive Bedeutung des Kreuzes für die Befreiung des Menschen hat vor allem drei Aspekte: a) Das Kreuz ist bleibender Hinweis auf jenen „Rest“ von Unfreiheit, der durch keine menschliche Anstrengung und geschichtliche Evolution immanent aufgearbeitet werden kann; nur im Blick auf diesen Rest können Hoffnung und Versuche, die Befreiung des Menschen zu bewerkstelligen, realistisch bleiben; b) durch das Kreuz ist der Weg gewiesen, wie der jeweils unaufhebbare „Rest“ geschichtlicher Unfreiheit, der in jedem Stadium des Bemühens um die Befreiung spürbar bleibt, selbst positiv im Dienst der Befreiung steht: die innere Freiheit von dem Zwang, im Augenblick unbedingt und unbegrenzt frei sein zu wollen, macht gerade ganz frei. Dieser „inneren“ Wirkung der Verbindung mit dem Kreuz entspricht auch die Wirkung des Kreuzes „nach außen“: im Geist Jesu übernommenes Leiden, mit ihm bejahte eigene Ohnmacht und Unfreiheit können fruchtbar werden für die Befreiung anderer; c) der Blick auf das Kreuz gibt dem, der sich für die Befreiung in Kirche und Gesellschaft einsetzt, über alle Vorläufigkeiten, Erfolglosigkeiten, ja Rückschläge seines Bemühens hinaus den rational und immanent allein nicht zu gewinnenden Mut, seinen Dienst an der Befreiung unbeirrt fortzusetzen.
Das Evangelium hat für den Dienst der Befreiung entideologisierende Kraft. Oftmals verkürzt die Leidenschaft für die Freiheit die Sicht dessen, der sich für sie einsetzt. Er sieht nur eine Dimension, nur einen Aspekt von Unfreiheit, versucht ihn zu bekämpfen und übersieht dabei, daß er anderen Aspekten nicht gerecht wird, somit aber neue Unfreiheit schafft. Wo die universale Liebe Gottes, die [5] grenzenlose Weite des Daseins Jesu für alle, sein alle Fixierungen aufbrechender Geist zum Maßstab und Impuls der Befreiung werden, wird es möglich, die Anliegen, Ziele und Motive aller unvoreingenommen zu sehen, die an einem Konflikt beteiligt sind, der konkrete Unfreiheit zur Folge hat. Die Liebe Gottes ist das „universale Vorurteil“, das von den gefährlichen partiellen Vorurteilen befreit. Durch dieses „Vorurteil“ wird Dienst an der Befreiung zugleich Dienst an der Versöhnung. Nur im Sich-Verstehen aller kann jene Freiheit wachsen, die nicht nur individuelle oder Gruppenfreiheit, sondern menschliche Freiheit ist. Die Unteilbarkeit der Freiheit auf Weltebene macht es geschichtlich vordringlich, Befreiung in der gerechten und allseitigen Verständigung zu suchen, Verständigung in Freiheit bedeutet aber gerade keine Nivellierung der Unterschiede.
Kritisch muß gegen eine undifferenzierte Gleichsetzung zwischen Evangelisation und Befreiung eingewendet werden, daß Befreiung in sich ein bloß formaler Begriff ist. Absolut gesetzt besagt er nur Befreiung von …, ist also negativ bestimmt, Freiheit selbst ist aber nur Freiheit, sofern sie Freiheit zu … bedeutet, also positiv bestimmt ist. Hier liegt der „Überschuß“ des Evangeliums als solchen über den abstrakt gesetzten Begriff der Befreiung. Daher kann Befreiung nicht allein das hermeneutische Prinzip für das Evangelium darstellen, vielmehr ist eine wechselseitige Hermeneutik erforderlich: Das Evangelium muß auf das hin verstanden werden, worauf und wie der Mensch von Gewalt, Zwängen und Situationen der Ohnmacht befreit werden kann und soll; umgekehrt muß aber auch Befreiung auf jene Freiheit hin verstanden werden, die im Evangelium als die umfassende Freiheit des Menschen zu Gott, zur Gesellschaft, zur Welt, zum Nächsten, zu sich selbst und auch zu allen endlichen Begrenzungen seiner Freiheit aufscheint.
Der „unpolitische“ und „transzendente“ Überschuß des evangelischen Freiheitsbegriffs über einen politisch-gesellschaftlichen und nur immanenten hat seinerseits höchste Relevanz für Politik, Gesellschaft und irdisch-geschicht- [6] liches Dasein im ganzen. Denn nur wenn der Mensch nicht aufgeht in dem, was er bewirken, erreichen, planen und bewerkstelligen kann, ist er Mensch. Das Nicht-Funktionale und Nicht-Planbare muß um der Freiheit willen in den Strukturen und Planungen der Gesellschaft seinen Ort haben.
Evangelischer Dienst an der Freiheit ist von seinem Wesen her gemeinsamer Dienst. Er ist es zunächst als gemeinsamer Dienst derer, die dem Evangelium verpflichtet sind, die sich im Maßstab und Impuls des Evangeliums für die menschliche Freiheit verbunden wissen. Diese kirchliche und christliche Kooperation ist, wenn sie sich recht versteht, aber gerade keine selbstgenügsame Abkapselung in einer Gettomentalität. Die Freiheit der Liebe zueinander und miteinander ist Freiheit Über das christliche Zueinander und Miteinander hinaus, sie ist als solche Öffnung für alle. Daher ist das Zusammenwirken aller, die im Dienst an der Befreiung des Menschen stehen, eine christliche Aufgabe. Diese Zusammenarbeit diente ihrerseits der Freiheit gerade nicht, wenn in ihr das spezifisch Christliche nivelliert würde. Es muß sich verschenkender Beitrag zum Dienst aller werden und schließt gerade darin auch das Hinhören auf den genuinen Beitrag anderer, die nicht christlichen Partner, ein.
Bonn-Bad Godesberg, den 16. Juni 1972 Klaus Hemmerle