Profil der Jugend
[579] Die Jugend gibt es nicht, ebensowenig gibt es die Epoche. Dennoch hat jede Epoche und hat auch die Jugend jeder Epoche ein bestimmtes Profil. Dieses läßt sich keineswegs als Schablone zur Beurteilung im allgemeinen und im besonderen benutzen, wohl aber ist es möglich, aufgrund gewisser gemeinsamer Erfahrungen und geistiger, gesellschaftlicher, anthropologischer Entwicklungen und Einflüsse Verhaltens-, Argumentations- und Meinungsmuster zu erheben, die für viele junge Leute einer bestimmten Zeit kennzeichnend sind.
Spannungen
Eine Reihe von Spannungen umreißt das Feld, in welchem junge Menschen sich heute finden:
Einerseits immer perfektere Entwicklung einer technischen Zivilisation mit immer höheren Anforderungen des Funktionierens und Leistens, zugleich mit sich steigernden Ansprüchen und Möglichkeiten an Konsum, Bedürfnisentwicklung und Bedürfnisbefriedigung; andererseits Stoßen an die Grenzen dieser Kultur und ihres Fortschritts: Kann es überhaupt noch lange so weitergehen? Sind wir nicht beim inneren und äußeren Ende des Wachstums angekommen? Frißt das Wachstum uns nicht selber auf? Produzieren wir nicht das, was alle Errungenschaften des Fortschritts auf die Dauer kaputtmacht? Produzieren wir gar unsere eigene Vernichtung?
Einerseits Einfügung in das System, das Lebensmöglichkeiten erschließt, wie sie kaum zuvor gegeben waren; andererseits Kritik an diesem System, ja Versuchung, aus ihm auszusteigen, und zwar nicht nur aufgrund der Angst vor Selbstzerstörung, sondern auch aus dem inneren Ekel an der Leere, die das bloß Funktionale übrigläßt, an der Entfremdung, die es mit sich bringt, wenn der immer größere Freiheitsraum nur durch immer engmaschigere „Sachzwänge“ garantiert wird.
Einerseits tiefe Einsamkeit, die nach dichterer Kommunikation ruft; andererseits Mißtrauen gegenüber sich selbst, Dasein für andere, gar lebenslange Bindung an andere zu verkraften.
[580] Einerseits immer dichtere Reizschwemme; andererseits immer weniger Identitätserfahrung, Erfüllungserfahrung.
Einerseits vitale Erkenntnis, daß Leben nur im Ganzen, Übergreifenden, Menschheitlichen gelingen kann; andererseits Sorge um die Selbsterfüllung, um die Wahrung und Verwirklichung des Ich im anonymen Es.
Auch wenn diese Spannungen nicht ausdrücklich gemacht werden, umreißen sie das Feld, in welchem sich Meinung und Verhalten junger Menschen heute artikulieren. Man kann von latenten „Dogmen“ sprechen, die, wenngleich zum Teil in Spannung gegeneinander, einen Großteil der Argumentationen und Beurteilungen junger Menschen mittragen. Nicht auf diese Dogmen Rücksicht zu nehmen, sondern unabhängig von ihnen nur Sachfragen aufzuarbeiten, erschwert oft die Verständigung und führt zu einem Aneinandervorbeireden. Hierbei sollen nicht einfachhin diese Dogmen als falsch deklariert werden, sie sollen auch nicht als bewußte Überzeugung der meisten Jugendlichen ausgegeben werden, sondern Meinungstrends, innere Präferenzen aufzeigen, die faktisch in Diskussionen mit jungen Menschen und Artikulationen der Meinung junger Menschen untergründig wirksam sind. Daß es ganz andere Argumentationsstrukturen gibt, liegt auf der Hand; daß die um der Verdeutlichung willen im folgenden gebrauchte Zuspitzung verzerrend wirkt, muß im vorhinein in Rechnung gestellt werden.
Hintergründe des Selbst- und Weltverständnisses
Im folgenden nun einige der „Dogmen“, anders gewendet: der Hintergründe, Vor-Urteile, die das Selbst- und Weltverständnis vieler junger Menschen prägen:
Freiheit ist die Möglichkeit, ohne entweder von außen kommende Bindung oder auch von innen kommende, über den Augenblick hinausweisende Verbindlichkeit das zu sein, zu tun oder zu haben, was je jetzt von mir spontan als wünschenswert empfunden wird.
Was sich ändert, hat mehr Recht als das, was bleibt.
Lebensbedingungen, die ich mir nicht selber ausgesucht habe, sind nicht verbindlich, Vorgaben für mein Leben sind Eingriffe in meine Freiheit.
Was sich in mir regt, bezeichnet einen Anspruch, den ich durchsetzen kann. Widerspruch gegen eine Empfindung oder ein unwillkürliches Wollen sind entfremdend, repressiv.
Argumente, die nicht in Einklang stehen mit dem, was ich spontan und emotional verifizieren kann, erwecken Mißtrauen, stehen unter Ideologieverdacht.
Freiheit kann nicht von außen geschützt werden; was sie stützen und sichern will (Institution), entfremdet sie.
Dialog besteht nicht zuerst im Eingehen auf die Position des anderen, sondern in der Bereitschaft, ungeschützt das eigene Unbehagen zu artikulieren.
[581] (Im formalen Gegensatz hierzu, dennoch oft gleichzeitig:) Derjenige, der zum vorgegebenen eigenen „Lager“ gehört, verdient Mißtrauensvorschuß, der „andere“ Vertrauensvorschuß.
Solidarität mit dem Fernsten hat Vorrang vor der Solidarität mit dem Nächsten.
Wenn es zu Konflikten kommt, sind im vorhinein alle schuld, vor allem die im eigenen Lager. Schuld ist das einzige, was unter „Paritätsanspruch“ steht.
Die Glaubensdeutung, aber auch das Wertverständnis nähern sich einem neuen Fundamentalismus: Bergpredigt wird direkt zum politischen Programm, Freiheit ist, einfach machen können, was ich als gut fühle; Leben ist zunächst einfach einmal Überleben.
Primäre Aufgaben
Die Kraft der Unmittelbarkeit, das spontane Empfinden des Endes bloß funktionaler Rationalität, die „Sympathie“ fürs Ganze sind positive Ansätze. Die Ohnmacht zur Vermittlung und Differenzierung birgt indessen erhebliche Gefahren in sich. Wo liegen die primären Aufgaben, um in dieser Situation die positiven Ansätze aufzugreifen und die zweifellos vorhandenen Defizite aufzuarbeiten?
- Zunächst geht es vielleicht darum, eine fünffache Annahme einzuüben und im Einüben plausibel zu machen. Hierbei kann solche Annahme keineswegs auf dem Weg der „Indoktrination“ geleistet werden, sondern im gemeinsamen Prozeß des Lernens, der übrigens auch für eine ältere Generation höchst bedeutsam ist, da in den Defiziten einer jüngeren Generation meist Defizite aufgehen, die radikaler, will sagen mehr an der Wurzel, also verborgener, aber nicht weniger folgenschwer bei einer vorhergehenden Generation grundgelegt sind.
Es geht um die Annahme je meiner selbst. Annahmeverweigerung hinsichtlich der vorgegebenen Daseinsbedingungen kommt zumeist daher, daß das eigene Ich gar nicht erst adoptiert, gar nicht erst angenommen ist. Oft ist die Krise dessen, der sich nicht mag, überspielt durch die Forderung, den jeweiligen Wunsch sofort und bedingungslos erfüllt zu bekommen. Annahme des Ich gelingt aber nur, wo Annahme vom Du oder vom Wir erfahren wird.
Annahme der Endlichkeit tut not. Daß ich nur so bin und nicht anders, daß ich jetzt, hier, unter diesen Bedingungen zu leben habe, macht mir zu schaffen und führt wechselweise zu Aggressionen gegen mich oder gegen die Umstände und Vorgaben. Daß Menschlichkeit nur dort gelingt, wo ich die Endlichkeit des andern annehme, wird an großen Beispielen deutlich. Jene, die die Endlichkeit anderer annehmen, bestehen, ihre Grenzen aushalten und verwandeln, haben auch ihre je eigene Endlichkeit, ihre je eigenen Grenzen angenommen. Dies kann einen Weg weisen.
[582] Annahme der eigenen Unendlichkeit: dies ist genauso schwer. Der Papst sprach in Deutschland vom für den Menschen konstitutiven „Recht auf Größe“, das von vielen pervertiert werde in ein angebliches „Recht auf Schwäche“. Vielleicht ist für junge Menschen noch typischer als ein „Recht auf Schwäche“ ein „Recht auf Angst“, das in Anspruch genommen wird. Daß Angst, Lebensangst wie Bindungsangst, kein blindes Widerfahrnis, kein Schicksal ist, daß Bindung ans je Größere allein Kräfte der Gestaltung freisetzt, Träume nicht bloße Träume bleiben läßt, dies läßt sich schrittweise erproben.
Annahme von Zeit ist ein weiterer kritischer Punkt. Wo nicht mehr organische und personale, sondern technische Vorgänge in den Vordergrund drängen, da geistert das Ideal einer Beschleunigung, die im Grunde alles in einen einzigen Augenblick konzentriert. Für das, was innerlich Zeit braucht, besteht kein Sinn mehr; Vergangenheit wird ins Vergessen abgedrängt und als unwesentlich abgeschnitten, Zukunft wird als erdrückende Last negiert, gar nicht erst angenommen (Entscheidungsvertagung) − oder aber man will jetzt schon gleich alles und das Ganze haben. Miteinander Dinge tun, die Zeit brauchen und die zugleich Freude machen, weil sie wachsen, Zeit haben füreinander und sich in die Treue und Verläßlichkeit dieses Zeithabens einpendeln, dies könnten hilfreiche Schritte sein.
Annahme von Kontexten, von Zusammenhängen bedarf ebenso der Einübung. Da wir meist auf je nur eine Funktion „gedrillt“ sind, die in ein Ganzes eingefügt ist, das nicht in der Sicht und Verantwortung dieser unserer Funktion liegt, fällt es oftmals schwer, gegenseitige Abhängigkeiten, relativierende Kontexte, vielschichtige Zusammenhänge wahrzunehmen und ernstzunehmen.
Ästhetisches, naturales, geschichtliches und personales Aufbrechen der Eindimensionalitäten ist ganz entscheidend, um auch komplexe Sachverhalte des Lebens und der Gesellschaft gemäßer zu beurteilen, eben: einen gefährlichen Fundamentalismus zu überwinden und gerade auch die Wechselwirkung von Freiheit und Institution in den Blick zu bekommen.
- Ein zweites Feld wäre eine Art neuer Tugendlehre, die bei geübten und geschätzten Tugenden ansetzt, aber vergessene und verdrängte wiederum schmackhaft macht und erprobt.
Akzeptierte Tugenden: Ehrlichkeit, Mut zum unbequemen Wort, Fairneß gegenüber dem „anderen“, Unbefangenheit, Großherzigkeit, auch: Mitleid. Die Tugenden, die sich positiv aufs Aktuelle und Punktuelle beziehen, sind also durchaus im Blickfeld, sie haben sich gegenüber einer Epoche, die sehr stark von Institutionen, Traditionen, vorgegebenen Formen geprägt war, erfrischend durchgesetzt. Man könnte sagen: die mehr linearen und flächigen, mehrdimensionalen und negativen Tugenden drohen dabei eher verlorenzugehen.
Ein Ansatz, um ein Defizit aufzuwiegen, wären die vier Kardinaltugenden: Prudentia (Klugheit, eigentlich besser: Voraussicht auf das, was kommt, um dem in der Gegenwart besonnen gerecht zu werden); Modestia (Mäßigung, Sinn für das [583] Maß, das nur der nehmen kann, der über sich selbst hinausschaut und seinen Ort im Ganzen bestimmt und annimmt); Justitia (Gerechtigkeit, die jedem das Seine gibt, die unterschiedliche Ansprüche gegeneinander abwägt und ihnen entspricht); Fortitudo (Starkmut, der Widriges annimmt, durchträgt, aushält). Positive Ansätze auf diese Tugenden hin wachsen dort, wo ein innerer Kontakt mit anderem Menschentum, gerade in den Völkern und Kulturen der Dritten Welt, sich entwickelt, aber auch in der Suche nach Alternativen zu gängigen Lebensweisen der Konsumgesellschaft. Hier allerdings tut die sehende, das Ganze abwägende und mitverantwortende und nicht nur emotional aufgeladene, bloß aktuelle Kontrapunkte setzende Alternative not.
Von hohem Rang ist die Bedeutung dessen, was man die „mittlere Ebene“ nennen könnte. Sinn fürs ganz Weite und ganz Große, Sinn fürs ganz Unmittelbare, für mich selbst oder die kleine Gruppe – und keine Verbindung zwischen beidem, dies ist eine der Nöte im Selbst- und Weltverhältnis junger Menschen. Die bloße Koalition kleiner Gruppen ist nahe beim Verschlungenwerden von einer unübersehbaren Riesenbewegung. Verantwortung für gefügte Räume, in denen der einzelne und das Ganze kommunizieren: das ist kirchlich wie gesellschaftlich von hohem Belang. Wo Institution noch als Lebensraum erfahren wird und doch über das bloße Erleben hinauswächst, in seiner Bedeutung für das Erlebbare aber noch plausibel zu machen ist, da kann der Sinn für planvolles Engagement und für die Notwendigkeit von Struktur, Ordnung, Institution als Lebens- und Schutzraum der Freiheit geweckt werden.
Ein tiefstes, was gerade die fundamentale Krise, jene der Freiheit angeht, ist die Neuerweckung des Sinnes für Berufung und Ruf. Dies ist nicht nur und nicht einmal zuerst (wenn freilich durchaus auch) im Blick auf unmittelbar geistliche Berufe gesagt. Mich nicht nur nach der Zufälligkeit meiner Abiturnote oder des Angebots offener Stellen ausrichten, dennoch aber auch nicht an den Verhältnissen vorbeileben; nicht aus dem Katalog mein Glück in Beruf, persönlicher Lebensgestaltung, Ehe einkaufen können: dies muß gelernt und bestanden werden.
Die einzige, aber zugleich einzig wahrhaft menschliche Lösung ist: Es gibt einen, der sich für mich interessiert, der mich mag, der mir etwas zutraut, der etwas von mir will, einen, der mich ruft. Nur wo Ruf erfahren wird, ist eigentlich Freiheit; denn menschlich gibt es Freiheit nur als Vollmacht zur Antwort. In einem vom Ruf her erschlossenen Konzept von Freiheit könnte der zentrale Punkt für das Ja der jungen Generation zu sich, zu ihrer Zukunft und zu unserer Welt begründet sein.