Dein Herz an Gottes Ohr
[118] „Symphonisches“Beten
Manchmal ist es gut, auch von guten und richtigen Übersetzungen eines Schriftwortes in den Urtext zurückzustoßen. Die Fremde einer anderen Sprachwelt, eines anderen Ausdrucksgefüges kann uns helfen, die Tiefe dessen aufzubrechen, was uns da gesagt ist. Mir scheint, das trifft auch zu für einen im Kontext des Betens besonders wichtigen Vers aus der „Gemeinderede“ im Matthäusevangelium: „Weiter sage ich euch: Alles, was zwei von euch auf Erden gemeinsam erbitten, werden sie von meinem himmlischen Vater erhalten“ (Mt 18,19). Dem Wortlaut des Urtextes sich entlangtastend, kann man dessen eindringliche Umständlichkeit etwa so wiedergeben: „Weiter sage ich euch: Wenn zwei aus euch auf Erden übereinstimmen werden über irgendeine Sache, um sie zu erbitten, dann wird es ihnen von meinem Vater in den Himmeln zuteil werden.“ Und dieses „Übereinstimmen“ oder „einstimmig sein“ heißt im Griechischen: symphoneîn. Es sieht im Text so aus, als ob das Erbitten zwar die entscheidende Spitze des menschlichen Vollzuges hier sei, diese Spitze aber sich durch eine breite voraufgehende Abstimmung und Zusammenstimmung erst ergebe, auf ihr als Basis aufruhe. Also nicht: Bitte, und um so besser, wenn ihr es gemeinsam tut!, sondern: Stellt Überein- [119] stimmung her, klingt zusammen, dann bittet! Und es ist ebenfalls zu bemerken, daß es sich um jedwedes Ding, um jedwede Sache handelt, daß also der Gegenstand gänzlich offengelassen, dieses Offenlassen aber betont wird. Im „symphoneîn“ liegt das Gelenk zwischen der Sache, um die es geht, und dem bittenden Vollzug, der dann aufsteigt von der Erde zum Himmel, von den zwei Menschen zum Vater.
Daß der folgende Vers von „zwei oder drei“ spricht, die im Namen Jesu versammelt sind, legt nahe, nicht auf die Zweizahl als solche den Ton zu legen, sondern auf die Mehrzahl, die eben im „symphoneîn“ zur Einheit wird. Die Rede von den Zweien bzw. von den Zweien oder Dreien nennt die geringstmögliche Mehrzahl, um darauf anzuspielen, daß es nicht um viele oder wenige, sondern um die Qualität des Miteinander, der Übereinstimmung oder Gemeinschaft geht, eben um das „symphoneîn“.
Etwas Weiteres fällt auf: Den Zweien auf Erden entspricht der Vater in den Himmeln. Erde und Himmel, Gebet hier und erhörende Vollmacht dort, das ist zumindest im Klang eine Parallele zum voraufgehenden Vers: „Amen, ich sage euch: Alles, was ihr auf Erden binden werdet, das wird auch im Himmel gebunden sein, und alles, was ihr auf Erden lösen werdet, das wird auch im Himmel gelöst sein“ (Mt 18,18). Gemeinsames Beten hier und jetzt ist eine „Vollmacht“, der der Vater im Himmel korrespondiert, entspricht, antwortet.
Fragen wir über unseren Text hinaus, wo die innere Begründung dafür liegt, daß gemeinsamem Bitten und in diesem Bitten der Einheit der Bittenden [120] ein solches Gewicht zukommt. Dieses gemeinsame oder „symphonische“ Moment des Gebets ist, so dürfen wir sagen, kein Zusatz zum Gebet, sondern ein Wesensmerkmal, ein Grundcharakter des Gebetes. Aufschlußreich ist, daß die Gewißheit der Erhörung gemeinsamen Betens in unserem Text durch den folgenden Vers wie folgt begründet wird: „Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ Dem Vater im Himmel entspricht der Christus auf der Erde, aber sein Dasein auf Erden beschränkt sich nicht auf seine in sich allein stehende Existenz, sondern dieses Dasein ist dort gewährleistet, wo eben Versammlung in seinem Namen, Einheit in seinem Namen geschieht. Wo mehrere einmütig bitten, da bittet mit ihnen und zwischen ihnen Christus selbst, dem Sohn aber schlägt der Vater nichts ab.
Wo zwei einig sind, erhört sie der Vater in jedweder Sache. Denn er hört auf den Sohn, und der Sohn ist dort, wo zwei – das eine Mal heißt es: in jedweder Sache, das andere Mal heißt es: im Namen des Sohnes – vereinigt sind.
Um den Zusammenhang (hier nicht im strengen Sinne exegetisch, wohl aber in einem umgreifenden Sinne theologisch) zu verstehen, müssen wir die Situation des 18. Matthäuskapitels verlassen, um sie als Umkehrung und Konsequenz aus einem Grundtatbestand unserer Erlösung zu sehen.
Wenn ich zum Vater gehe, wenn ich zu ihm bete, wenn ich ihm meine Gabe darbringen möchte, dann gehe ich zu einem, der sich um mich sorgt, dem an mir in seiner grenzenlosen Liebe gelegen ist. Aber genauso, wie ihm an mir allein gelegen ist, ist ihm an [121] jedem anderen allein gelegen. Ich habe den Vater gar nicht im Blick, wenn ich nicht seinen Blick mit im Blick habe, der ganz mir, aber ungeteilt auch den anderen gilt. Ich komme nur dann wahrhaft an sein Herz, wenn ich dieses Herz nehme, wie es ist – und so, wie es ist, wohnen in diesem einen Herzen eben mit mir auch alle die anderen mit drinnen. Aus diesem inneren Grund ist es unmöglich, unversöhnt mit anderen sich an den Vater wenden zu wollen. Gebet setzt Versöhnung, Gemeinschaft, Mitsein voraus, weil ohne solche Versöhnung, ohne Mitsein und Gemeinschaft der, zu dem ich bete, gar nicht er selber ist. Er ist der Vater, der mich liebt, der aber, mich liebend, uns liebt – dieses Wir kennt keinen Abstrich und keine Ausklammerung. Daher das gestrenge Wort der Bergpredigt: „Wenn du deine Opfergabe zum Altar bringst und dir dabei einfällt, daß dein Bruder etwas gegen dich hat, so laß deine Gabe dort vor dem Altar liegen; geh und versöhne dich zuerst mit deinem Bruder, dann komm und opfere deine Gabe“ (Mt 5,23f.). Deshalb ist auch Gottes Vergebung laut dem Vaterunser und laut dem Schlußteil unseres 18. Matthäuskapitels an unsere Vergebung für den Bruder gebunden. Es gibt ein „symphoneîn“, ein Übereinkommen und Übereinstimmen aller in der Liebe des Vaters, das so wesenhaft zum Vater selber gehört, daß ich gar nicht zu ihm beten kann, ohne diesem „symphoneîn“ in meinem Beten selbst Rechnung zu tragen. Ich bete also auch, wenn ich allein bete, nicht nur im Angesicht Gottes, sondern weil ich im Angesicht Gottes bete, im Angesicht aller Schwestern und Brüder.
Dieses „symphoneîn“ wird nun aber dichteste [122] Realität in Jesus Christus, im menschgewordenen Sohn Gottes. Er bringt die Botschaft vom Vater aller als die Botschaft von der universalen Brüderlichkeit. Er bringt die Herrschaft des Vaters, indem er Versöhnung aller mit dem Vater und miteinander wirkt. Ja, er faßt das Schicksal aller, die Unversöhntheit aller in sich selber zusammen, und den Tod und die Schuld eines jeden einzelnen in sich ausleidend, erhalten alle, die von Gott und voneinander getrennt sind, in ihm ihre Einheit. Er ist der Friede zwischen Himmel und Erde, der Friede zwischen Fernen und Nahen, er ist das „symphoneîn“ schlechthin. Wer zum Vater betet, der betet ausdrücklich oder einschlussweise „per Christum Dominum nostrum“ – „durch Christus unsern Herrn“. Sein Gebet fädelt sich also zum Vater hin ein durch diese universale Kommunion, die der Sohn selber ist.
Und nun eben der neue Schritt: Wo der Sohn ist, da ist „symphoneîn“, Zusammengehörigkeit, Übereinstimmung. Und es gilt auch die Umkehrung: Wo Übereinstimmung, wo Einheit und Versöhnung ist, da ist er. Wenn wir in seinem Namen eins sind, ist er da. Und in seinem Namen eins sein und den Vater bitten, das heißt mit ihm und in ihm den Vater bitten, das heißt das Geheimnis des versöhnenden Christus selbst vollziehen, sichtbar machen, in es einstimmen, mit ihm in Einklang kommen.
Solche Übereinstimmung besteht nun aber nicht nur in einer prinzipiellen Absicht: Im Grunde meinen wir alle dasselbe!, sondern in einem Eingehen auf das Denken und Wünschen des anderen, in einer Art von liebender Annahme des anderen und Schicksalsgemeinschaft mit dem anderen, die Jesu unser [123] Schicksal teilende, uns annehmende Liebe mitvollzieht. Einheit, „symphoneîn“, in irgendeiner Sache – kann das eigentlich geschehen und wachsen, ohne daß das Maß des bei Johannes überlieferten Neuen Gebotes sich erfüllt? Er ist für uns gestorben; nur wenn wir einander lieben, weil er uns und wie er uns geliebt hat, also bis zum Letzten und Äußersten, ist seine Liebe da. Und nur wo seine Liebe da ist, ist er da (vgl. Joh 13,34f.).