Zum Rufen gerufen

[3] Gottes Ruf trifft je persönlich, aber indem er aufs Herz des einzelnen zielt, will er gerade nicht bei diesem Herzen des einzelnen haltmachen.

Thomas von Aquin weist darauf hin, daß es die Spitze der Wirkmacht Gottes ist, nicht nur Wirkungen zu schaffen, sondern selbst wirkende Ursachen. Im Grunde geht alles göttliche Wirken so. Die Liebe schafft nicht nur Geliebte, sondern Liebende. Wer gerufen ist, der ist gerufen, um dem Ruf zu folgen; solche Nachfolge aber ist ansteckend, der Ruf geht weiter. Wer bereit ist, den Ruf anzunehmen, der ist bereit, ihn weiterzutragen, sich in die Dynamik dessen hineinzugeben, der als der Ruf, der als das Wort alle ruft, in ihm und mit ihm Gerufene und Rufende zugleich zu sein.

Als Gerufener dem Rufe dienen: dies ist ganze Indienstnahme für den einzigen Rufenden, den einzigen Herrn aller Berufung. Aber diese Indienstnahme ist Anteilgabe an der eigenen Freiheit und Vollmacht, an der eigenen Ursprünglichkeit des Suchenden. Gehorsam und Freiheit, Dienst und Vollmacht, Werkzeuglichkeit und Ursprungskraft sind nur in einem mechanistischen Denken Gegensätze, ihre spannungsvolle Einheit, ihr Enthaltensein ineinander, ihre Gleichzeitigkeit sind das Wunder des Geistes, der, weil er Leben ist, Leben schafft. „Leben zeugt Leben“, so hat es Papst Johannes Paul II. wenige Tage vor dem Attentat auf ihn bei der Eröffnung des Weltberufungskongresses 1981 formuliert.

Übergang

Dies alles ist gewiß eine allgemeine Erwägung. Sie drängt sich aber besonders auf in Augenblicken, die uns Anlaß geben, tiefer über die Pastoral der Berufung nachzudenken, mit besonderem Ernst nach unserem eigenen Standort in der Berufungspastoral zu fragen. Ein solcher Augenblick ist für unser Land der Übergang in der Verantwortung für das Informationszentrum Berufe der Kirche von Monsignore Emil Spath zu Direktor Rainer Birkenmaier. In den mehr als 20 Jahren, in welchen Emil Spath das IBK leitete, hat er der Berufungspastoral einen Prägestempel aufgedrückt, der ebenso mit seiner Persönlichkeit verbunden ist wie unabhängig von ihr bleibende Maßstäbe setzt. Er ist in besonderer Dichte eben ein zum Rufen Gerufener, dessen Berufung es war und ist, das Wesen und die Tiefe von Berufung Ungezählten zu erschließen und sichtbar, lesbar, hörbar werden zu lassen.

Grund-linien

Eine Aufzählung von Verdiensten – die wahrhaft viele Seiten füllen könnte – wäre nicht der gemäße Weg des Dankes. Solcher Dank gelingt besser in der Rechenschaft über das, was Emil Spath uns in seinem Verständlichmachen des rufenden Herrn als Erbe übergeben hat. Ich versuche, dies in fünf Richtungen hinein zu formulieren.

  1. Keine Isolierung

Berufungspastoral ist nicht ein Sektor der Pastoral, der neben und außerhalb von anderen Sektoren der Pastoral läge, weil er nur eine bestimmte Gruppe von Menschen und eine spezielle Frage beträfe. Pastoral hat es doch mit dem unicus Pastor [4] zu tun, der durch sein Rufen, durch die Erkennbarkeit seiner Stimme das Rufverhältnis des je einzelnen und das allen gemeinsame Berufensein konstituiert. So ist eine Theologie der Kirche und eine Theologie christlicher Existenz von einer Theologie der Berufung her zu gewinnen. Nur aus einer solchen werden wir dem gerecht, was geistlich und praktisch unser Anteil zu sein vermag in der Entdeckung, Begleitung und Förderung geistlicher Berufe. Es ist das „Besondere“ des christlichen Gottesbildes, daß in seiner Mitte das Rufgeschehen zwischen Vater und Sohn im Geist steht und aus dieser Mitte allein sich Schöpfung, Erlösung und Vollendung verstehen lassen.

Wer diesen Zusammenhang ausläßt, der läßt das Unterscheidende und Entscheidende des Christlichen aus und entzieht damit dem Ankommen, Angenommenwerden und Sich-Entfalten von Berufung den Boden. Darauf hat mit beschwörender Eindringlichkeit Emil Spath uns hingewiesen. Der Hinweis bleibt aktuell und wird neu aktuell in einer Welle „neuer Religiosität“; gerade in einer solchen Situation kommt alles darauf an, den personalen Charakter des Geheimnisses, die Verbindung von Mysterium und persönlicher Verantwortung zu öffnen und zu wahren.

  1. Den ganzen Menschen sehen

Die Theologie der Berufung ist auch und zugleich die Anthropologie der Berufung. Man fordert für die Theologie heute den Ausgang vom Menschen, von seiner Verfaßtheit und seiner geschichtlichen Situation. Doch kann solche Forderung nur dann einer platten Anpassung an Äußerlichkeit entrinnnen, wenn Menschsein selber nicht von einer Summe von Eigenschaften, Ansprüchen und Bedürfnissen her definiert wird, sondern von Trinität, Inkarnation und Ostergeschehen her. Die mysteria fidei sind auch die mysteria hominis. Menschsein ist Personsein in Beziehung, Menschsein ist gegenseitige Übersetzung von Geist und Gestalt, Menschsein ist sich schenkender Übergang in geschenkte Vollendung. In Trinität, Inkarnation und Paschamysterium ist eine Anthropologie des Rufes eingezeichnet, die für Emil Spath Bedingung, Weg und Matrize der Berufungspastoral im engeren Wortsinn bedeutete. Sagen wir nicht, es handle sich hier um hohe Spekulationen, die am konkreten Menschsein vorbeigehen. Der Hunger nach Beziehung und die Not um die Beziehung, das Drängen nach Gestalt und die Unfähigkeit zur Gestalt, das Ringen um den Zusammenhang zwischen Hingabe und Erfüllung, Sich-Verlieren und Sich-Gewinnen: dies sind und bleiben auf noch so unterschiedliche Weise die Grundthemen der Menschen, zumal der jungen Menschen, gerade jener, an die sich die Frage stellt: Wohin weist dein Weg?

  1. Berufung wächst aus dem Glauben

Auf diesem Hintergrund wird deutlich, daß Berufungspastoral sich in keiner ihrer Ebenen darauf beschränken kann, Methoden zu entwickeln, wie wir gemäß mit möglichen Berufsträgern und für ihren Berufungsweg möglicherweise relevanten Nächsten umgehen oder wie wir geistliche Berufe und kirchliche Dienste attraktiv machen können. Vielmehr erfordert [5] Berufungspastoral, gerade wenn sie Brüche im Verständnis und Vollzug heilen, Abgründe zwischen der Lebenswelt und jener „Kirchenwelt“ schließen will, in welche Berufung hineinführt, eine gemäße Tradierung und Übersetzung der Glaubensinhalte, der fides quae. Die Brücke zwischen fides quae und fides qua zu schlagen war das eindringliche Bemühen von Emil Spath. Solcher Brückenschlag ist nie abgeschlossen; er ist immer neu zu leisten. Es ist ein immer neues, immer überraschendes Abenteuer, den Glauben findend den eigenen Beruf zu finden, den eigenen Beruf findend den Glauben zu finden.

  1. Einheit bringt Frucht

Eine weitere Konsequenz heißt: Berufungspastoral hat in jenes Netz der Partnerschaft und Gemeinschaft, das sie knüpft, nicht nur bestimmte Zielgruppen, sondern im Grunde alle Zielgruppen und Partner der Pastoral überhaupt mit einzubeziehen. Nur aus solcher universaler Sicht verkommt sie nicht zur Werbung für bloße Funktionen. Die gegenseitige Durchdringung von besonderer und allgemeiner Berufungspastoral ist nicht eine äußerlich und nachträglich zu leistende Aufgabe, sondern markiert den Ansatz der Berufungspastoral. Einfacher ausgedrückt: Wenn es in der besonderen Berufungspastoral nicht mehr um Glaube und Bekehrung, Liebe und Gebet, Nachfolge und Eingliederung in die Kirche geht, dann hat sie sich selbst verfehlt. Und umgekehrt verfehlt allgemeine Pastoral sich selbst, wenn sie nicht die Frage wachruft: Wo will Gott mich haben, wo ist mein Platz und mein Weg in Kirche und Welt?

Die Einheit von Gesamtpastoral und Berufungspastoral ist gewissermaßen der Grund-Satz der von Emil Spath entwickelten Konzeption der Berufungspastoral. Dieser Grundsatz wird auch weiterhin die Bedingung der Fruchtbarkeit von Berufungspastoral sein.

  1. Berufung nimmt Gestalt an

In der Berufung geht es um den ganzen Menschen. Dann aber spielt „Gestalt“ in der Berufungspastoral eine besondere Rolle. Gestalt ist jene Verdichtung des den Menschen Bewegenden, in welcher dieser sichtbar und wirksam, unterscheidbar und kommunizierbar wird. Was nicht zur Gestalt wird, verwischt im Undeutlichen, hat keinen Bestand, stiftet keine bleibende Orientierung, bildet keine verbindliche Gemeinschaft. Wir können nun von einer mehrfachen Bedeutsamkeit der „Gestalt“ für die Berufungspastoral sprechen. Zum einen ist die Gestalt schlechthin der Mensch in seiner Leibhaftigkeit. Der Ruf Gottes fährt dem Menschen immer „in den Leib“. Es geht in der Berufungspastoral gerade nicht um eine Leibfeindlichkeit, sondern um die Frage, wie Leibhaftigkeit als Ernstfall von Existenz, als Ort, sich auszudrücken oder zu verschweigen, sich zu verschenken oder zu verweigern, sich hinzugeben oder sich zu sparen, Leib also als Ort der Sprache, der Liebe und des Todes vom rufenden Gott in Anspruch genommen ist.

Ein zweiter für die Berufungspastoral bedeutsamer Wortsinn von Gestalt ist: Menschen, die einer bestimmten Lebenslinie, einem bestimmten Lebenskonzept folgen und sie ausprägen, Menschen, die einen Ruf verkörpern, werden zu „Gestalten“, [6] die Möglichkeiten und Ideale des Menschseins anderen vorstellen, die, nicht zuletzt, für das, was sie glauben, für den, der sie ruft, lebendiges Zeugnis werden. Wenn Menschsein und gar Christsein nur gehen in Beziehung, welche etwas widerspiegelt vom dreifaltigen Gott, dann versteht es sich von selbst: Gestalten, die über sich hinausstrahlen, Gestalten, die Zeugen von Berufung sind, werden zu Knotenpunkten der Berufungspastoral.

Noch in einem dritten Sinn muß von Gestalt gesprochen werden: im ästhetischen Sinn. Sich finden und die anderen finden und darin das finden, was unendlich größer ist als die anderen und ich, das braucht die Zeichen, das braucht das Bild, das braucht das Medium, in welchem sich verdichtet, was im Horchen auf den Ruf sich ereignet. Wegzeichen der Rufgeschichte Gottes mit den Menschen, Lebenszeichen dieses Rufes, Kennzeichen des Stehens zum eigenen Ruf: dies alles weist über den bloßen Begriff und das bloße Wort hinaus. „Komm und sieh!“ Diese – nach dem Johannesevangelium – erste Antwort Jesu auf eine Frage, welche ihm die Jünger stellen, ist ein Wegweiser für die Berufungspastoral, wie Emil Spath sie versteht. Er hat die Weichen gestellt auf eine in den drei ausgeführten Bedeutungen verstandene „Gestaltpastoral“ hin.

Kontinuität und Neuorientierung

Nun ist sein Freiburger Mitdiözesan Rainer Birkenmaier in die Nachfolge als Leiter des IBK eingetreten. Die Kontinuität des Ansatzes ist offenkundig und fraglos, die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den vielen Trägern und Verantwortlichen für Berufungspastoral in Bistümern, Orden, geistlichen Gemeinschaften ausdrücklich erklärt. Seelsorglicher Umgang mit Studierenden und Verantwortung in der Ausbildung zum pastoralen Dienst bieten den Erfahrungshintergrund für die anspruchsvolle Aufgabe.

Wo zeigen sich nun Aspekte, die in einer vom gezeichneten Ansatz geprägten Berufungspastoral in den nächsten Jahren besonders wichtig werden?

Die Klärung und Festigung der menschlichen und glaubensmäßigen Voraussetzungen zum Gelingen eines Berufungsweges, die „Spurenfindung“ und „Spurensicherung“ einer auch in ungewöhnlichen Lebensabschnitten und -situationen durchbrechenden Berufung, die Weggemeinschaft auf den oft lange andauernden und spannungsreich in schwierigem Gelände verlaufenden Berufungswegen, die Befähigung und Einladung zu Gemeinschaft, in der Glaubensgeschichte als Rufgeschichte allein gelingen kann: vielleicht sind dies die Herausforderungen der Stunde. In solche Richtung lassen sich zumindest die Erkenntnisse und Anregungen deuten, die der Studientag der Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz im Frühjahr 1989 erbrachte (vgl. Arbeitshilfen 69, herausgegeben vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz).

Gerufen zum Rufen heißt immer deutlicher und immer dringlicher auch: gerufen zum Mitgehen mit den Gerufenen, zur Weggemeinschaft der Gerufenen. Solche Weggemeinschaft verbindet uns in Dank mit Emil Spath und seiner Wegweisung, solche Weggemeinschaft nimmt uns in freundliche und zuversichtliche Pflicht für seinen Nachfolger.