Dein Herz an Gottes Ohr

[12] „Gott hat sein Ohr an deinem Herzen“

Augustin schenkt uns eine der kostbarsten Einsichten ins Geheime des Gebetes: „Gott hat sein Ohr an deinem Herzen“ (Erklärung zu Psalm 148).

Gottes Ohr zu-lassen an unser Herz, unser Herz zu-lassen an Gottes Ohr: darum geht es, das ist die Kunst des Gebetes. Eine Kunst übrigens für jedermann; denn es ist nicht unsere Kunst, sondern jene des Geistes, den Gott uns gibt und der in uns betet, da wir nicht wissen, wie und um was wir beten sollen (vgl. Röm 8,26f.).

I

Der Liturge ruft den Mitfeiernden bei der Eucharistiefeier zur Eröffnung des Hochgebetes zu: „Erhebet die Herzen!“ Und ihre Antwort lautet: „Wir haben sie beim Herrn.“

Beten heißt: das Herz zu Gott erheben. Aber gelingt das? Ist der Radius unseres Wahrnehmens nicht zu eng gezogen, als daß unser Herz von sich aus Gott erreichte? Ist die Schwungkraft unseres Herzens nicht zu schwach? Hängen an unserem Herzen nicht Gewichte, die es belasten, lähmen, niederziehen? Was gibt uns den Mut zu sagen: Wir haben unser Herz beim Herrn?

[13] Sein Ohr. Er hat es uns geneigt. Der Vater hört auf den Sohn. Und der ist zu uns herabgestiegen, in unser Fleisch, in unser Herz. Der Vater hört im Herzen seines Sohnes alle unsere Herztöne, er findet im Herzen des Sohnes unser Herz. Er hört in Ihm, in dem wir geschaffen, geliebt, getragen, angenommen, übernommen sind, uns selbst.

Unser Herz erheben, das heißt unser Herz dort lassen, wo es ist, aber entdecken, daß dort, wo es ist, Gottes Herz im Herzen seines Sohnes bei uns ist. Falle hinein in ihn, und er trägt dich nach oben. In ihm ist Gottes Ohr an deinem Herzen, in ihm ist dein Herz an Gottes Ohr.

II

Wo ist mein Herz? Ich weiß es nicht. Was geht nicht alles durch mein Herz hindurch! Und was nun ist wirklich „mein Herz“? Die Fragen, Ängste, Hoffnungen, die ungerufen in ihm aufsteigen? Die tausend Eindrücke, die vorbeihuschen und doch ihre heimlichen Spuren hinterlassen? Die Appelle, Signale, Ansprüche, Angebote, die es erst aufschrecken und dann abstumpfen? Das Rätselhafte, das in ihm aufbricht oder undurchschaut sich verborgen hält in seinem Grund? Was ist mein Herz, wo ist mein Herz?

Ich weiß es nicht. Er weiß es. Seine Liebe weiß es (vgl. Joh 21,17). Ich „habe“ mein Herz nur, weil sein Ohr sich an es hinhält. Ich habe mein Herz in Ihm.

Laß dich ihm, gib dich frei, trau dich ihm zu. Dann bist du bei ihm und bei dir. Gott hat sein Ohr an deinem Herzen.

<sup class="text__reference">[14]</sup> III

Die Umkehrung gilt nicht minder: Gott hat sein Herz an deinem Ohr. Er hat dir nicht nur etwas von sich offenbart, mitgeteilt, geschenkt, sondern sich selbst. Wenn du ihm glaubst, wenn du dich auf ihn einläßt, wenn du auf ihn hörst, dann hörst du nicht nur eine Nachricht, eine Anweisung, ein Gebot. Du hörst sein Herz. Bleibe bei ihm, bis du dieses sein Herz entdeckst. Er braucht dein geduldiges Horchen, um dir sein Herz zu öffnen; denn nur Geduld versteht Liebe und erlernt Liebe. Wer aber ihn liebt, dem wird er sich offenbaren und bei dem wird er Wohnung nehmen (Joh 14,21–23).

IV

Gott hat sein Herz an deinem Ohr, damit durch dein Ohr sein Herz in dein Herz dringe, dein Herz werde. Gottes Ohr an deinem Herzen – Gottes Herz an deinem Ohr: Wechselspiel des Betens. Nur die Beter kennen Gott. Nur die Beter kennen den Menschen.