Jeder hat, was er gibt

[19] Genau genommen, will jeder mehr haben als das, was er hat. Es geht gar nicht anders. Auch wer sich „begnügen“ und sogar wer sich „verkleinern“ will, will mehr. Denn er läßt das, was ihm die Kräfte bindet und die Ruhe nimmt und ihn unter den Druck der Erwartungen anderer setzt, um mehr Kraft, mehr Zeit, mehr Freiheit für anderes zu haben. Er setzt andere Möglichkeiten höher an als jene, die er hat und die ihn zugleich belasten.

Dahinter steht, noch genauer besehen, ein doppelter Sachverhalt. Einmal muß endliches Leben expandieren, um überhaupt zu bestehen. Endliches Leben braucht neue Lebensmöglichkeiten, um sie sich anverwandeln zu können. Stillstand wäre Tod. Beim geistigen Leben, beim Leben des Menschen können wir aber noch ein Zweites beobachten: Wir haben, was wir haben, stets im ausdrücklichen oder verschwiegenen Bewußtsein, daß es nicht alles, nicht das Ganze ist. Was immer wir haben, erkennen wir als einen Teil, und der Teil blickt aufs Ganze. Wir mögen uns damit abfinden, daß quantitativ immer noch mehr zu besitzen, zu wissen, zu gestalten, zu vollbringen wäre. Aber darauf [20] können wir nicht verzichten, daß im Teil, welcher der unsere ist, das Ganze anwesend sei. Immer besser das ganze Leben, das ganze Glück, die ganze Wahrheit, die ganze Welt in meinem Leben und Verhalten präsent zu haben, das ist die Dynamik eines Anspruchs, dem ich mich von innen her nicht versagen kann. Ich will, daß es mit mir gut sei, ganz gut sei. Die Scholastiker sprachen von der ratio boni, der Hinsicht auf das Gute, und zwar auf das Gute schlechthin, das ich in jedem Teilgut meine, ergreife, verwirkliche. Daß ich seinshaft ausgespannt bin auf dieses Gute schlechthin, dies heißt in der Konsequenz: ich strebe nach je mehr, nach je höherer Gestaltung und je wachsender Annäherung ans je noch unendlich größere Gute. Das Gute soll immer mehr meine Fülle, mein Vermögen, mein „Gut“ werden – ich will also, in einem qualitativen Sinn, je mehr haben als was ich habe.

Das Gute ist das Ganze, das ganze Gute ist das, was ich haben will und was mich immer mehr haben wollen läßt. Diese Sicht des Guten und meines Verhältnisses zum Guten steht in Konkurrenz mit einer anderen Sicht, die sich in der Tradition zugleich bewegt und zur ersten komplementär hinzugehört: bonum est diffusivum sui, das Gute ist eines, das sich verströmt, das sich selbst mitteilt.

Das Gute ist jenes, was ich haben möchte – das Gute ist jenes, was sich verschenkt: habe ich das Gute dann, wenn ich es behalte, oder bin ich selber nur gut, sofern ich mein Gutes und, mehr noch, mich selbst verschenke? Selbstverwirklichung und Selbsthingabe – ihr Ver- [21] hältnis ist nicht erst heute ein Problem, es ist problematisch vom inneren Ansatz des Guten her, vom inneren Ansatz meines eigenen Lebens her.

Wir kennen die provokatorischen Formeln der Bibel, in denen Jesus Festhaltenwollen, Gewinn als Verlust und umgekehrt Loslassen, Verlieren als Gewinn bezeichnet (vgl. Mt 10,39; 16,25f; Lk 14,26; 17,33; Joh 12,15). Diese Kernsätze für jede Nachfolge Jesu sind nicht das Ergebnis philosophischer Analyse, sind nicht geistlich überhöhte Lebensweisheit, sondern unmittelbare Konsequenz aus der Mitte der Botschaft von Gottes Liebe, die sich in Tod und Auferstehung Jesu enthüllt. Und doch können wir im Licht dieser Aussagen auch unsere menschliche und welthafte Erfahrung neu lesen und verstehen. Sie führen uns dorthin, wo sich der Konflikt zwischen Haben und Geben, zwischen Selbstverwirklichung und Selbsthingabe löst. Versuchen wir vier Schritte der Annäherung, vier Schritte der Ermutigung zum Mut, den unsere Selbsthingabe braucht und der unsere Selbsthingabe trägt.

  1. Schritt: Gib was du hast – sonst hast du es nicht

Kaum nötig, den Widerspruch dieses Satzes zur elementaren Erfahrung zu entfalten: Was ich habe, habe ich in der Hand, was ich gebe, gebe ich aus der Hand; was ich aus der Hand gebe, das habe ich also nicht mehr. Aber kann man die Perspektive nicht auch umdrehen? Ich habe nur das, zu dem ich ein Verhältnis habe. Um zu [22] etwas ein Verhältnis zu haben, gehört es aber, auch Distanz zu ihm zu haben, ihm gegenüber zu sein, nicht platt in ihm aufzugehen. Meinungen und Eigenschaften, die ich so sehr habe, daß ich in ihnen aufgehe, ohne ihrer ansichtig werden, ohne mich mit ihnen auseinandersetzen zu können, habe ich eigentlich gar nicht mehr; solche Haltungen und Meinungen haben mich.

Noch elementarer: Sein und Erscheinen lassen sich schlechthin nicht voneinander trennen. Gewiß ist Sein mehr als seine Erscheinung, aber als dieses Mehr geht Sein nur auf, indem es über sich hinausstrahlt, indem es zur Erscheinung kommt. Dieser Überschuß des Aufscheinens ist das Mehr dessen, was da aufscheint, ist aber auch das Weniger, eben die Erscheinung, die hinter sich selbst zurück auf die in ihr ebenso vorkommende wie verborgene Quelle hinweist. Oder recht banal gesagt: Den Schatz, den ich in meinem Acker vergrub, habe ich nicht mehr, wenn ich vergesse, daß ich ihn vergraben habe. Ich habe ihn, sofern ich ihn ans Licht heben kann, weitergeben kann – andernfalls kommt er nicht zur Wirkung, ja andernfalls könnte ich ihn nicht einmal schützen, daß nicht andere ihn finden und haben.

In diesen Bemerkungen ist eine Richtung gewiesen, aber das Entscheidende unseres Satzes ist noch nicht eingeholt. Wir müssen die Perspektive nochmals ändern: Wir müssen das „Zwischen“ anvisieren. Nur was ich ins Spiel bringe, habe ich; nur was zwischen dir und mir lebt, lebt auch für mich, nur was ich nicht nur von mir her, sondern auch von dir her und für dich, von [23] uns her und für uns habe, entfaltet seine Fülle, entfaltet seine Kostbarkeit, wird wahrhaft das, was ich habe. Was mir an den Händen klebt, das kann ich nicht von allen Seiten sehen und ermessen. Nur was auch für andere, was zwischen anderen und mir da ist, zeigt sich mir und schenkt sich mir. Also: Ich habe nur, was sich mir schenkt – und nur das kann sich mir schenken, was ich in die Offenheit, ins Miteinander, ins Zwischen hinein verschenke.

Da gehört freilich auch die Gefährdung, die Möglichkeit des Verlustes hinzu. Und es gehört noch mehr der Schmerz hinzu, daß Ganz-Haben nicht mehr heißen kann Nur-Haben. Aber genau dieser Schmerz enthüllt erst die Kostbarkeit dessen, was ich loslasse. Und wenn ich dieses Loslassen wirklich „tue“, wenn ich es in „Schenken“, in „Gönnen“ verwandle, dann gewinnt das Verschenkte in mir selbst seine Fülle und für mich selbst seine Unverlierbarkeit. Was ich festhalte, das ist überschattet und verdunkelt von der Angst, es zu verlieren; wenn es nur mein ist, ist es nicht ganz es selbst – und kann so gerade nicht als es selbst mein sein, nicht ganz mein sein. Es bestätigt sich: Gib, was du hast – sonst hast du es nicht.

  1. Schritt: Gib was du bist – sonst bist du es nicht

Wir können nicht dabei stehenbleiben, nur das, was wir haben, zu geben. Drohten wir sonst nicht, uns zu verfangen in die eigentümliche Tristesse des bloßen Spie- [24] lers, der zwar alles, was er hat, aufs Spiel setzt – aber wenn er es verliert, ist es ihm wirklich genommen? Nur das Schenken, nur das Geben bringt das, was ich einsetze und verliere, wahrhaft zum andern und wahrhaft zu mir zurück. Was aber heißt Schenken und Geben? Wer sagt „Nimm!“, der sagt „für dich!“. „Für dich“, das kann aber nur ich sagen. Wer gibt, wer schenkt, der gibt und schenkt sich selber mit, indem er etwas schenkt. Er setzt sich selber aus, wendet sich selber zu, bringt sich selbst in die Gefahr, sich weggenommen oder gar zurückgestoßen, abgelehnt zu werden. Doch so, in dieser Aussetzung seiner selbst, in dieser Lösung von sich selbst, kommt er zu sich selbst. Wer sich um jeden Preis selber festhält, wer nicht von sich läßt, der sieht sich nicht, und wer sich nicht sieht, der hat sich nicht. Nur wenn ich eingebracht bin ins Feld zwischen mir und dir, nur wenn ich mich wahrhaft überschreite im Schritt von mir weg auf dich hin, kann ich mich haben. Und nur wenn ich mich habe, bin ich ich selbst und nicht ein totes, bloß vorhandenes Ding. Gib und gib so, daß du dich mitgibst; gib dich mit dem, was du gibst – dann hast du dich selbst und dann bist du du selbst.

Einen Unterschied freilich müssen wir beachten: sich geben heißt nicht, sich vergeuden. Der Unterschied zwischen Sich-geben und Sich-vergeuden besteht aber nicht darin, daß jener, der sich gibt, sich wohldosiert gibt, der andere hingegen total. Nein, der Unterschied liegt anderswo, er liegt im Wort Du. Nur wenn ich mich dir gebe, vergeude ich mich nicht. Nur wenn ich mich nicht weghaben will von mir, sondern wenn ich um dei- [25] netwillen auf dich zu, mich von mir löse, dich bejahe, gehe ich auf. Mein Sein ist nicht adressiert an ein Niemand und Nichts, sondern adressiert ans Du – und nur im Du geht das Ich nicht verloren, löscht es nicht aus. Das bloß vergeudete Ich, das nicht hingegebene Ich wird wiederum zur bloßen Sache. Zur Sache nicht wie jener, der sich gegeben hat, um unser Brot zu werden – gerade die Totalität seiner Hingabe sagt du, sagt „für dich“. Und so ist er in solcher Hingabe, in solchem Brotwerden als er selbst da wie keiner sonst.

  1. Schritt: Gib was du nicht hast – so ist es dein

Meine Gabe ist nur eine Gabe, wenn ich mehr gebe als sie, wenn ich mich gebe. Und mich gebe ich nur, wenn ich mehr gebe als nur mich. Hingabe heißt: zu dem, was ich habe, das hinzugeben, was ich nicht habe. Nochmals ein Widerspruch zu jenem Offenbaren, das sich als bloß scheinbar enthüllt. Denn „normalerweise“ müßte man doch sagen: Nimm, was du nicht hast, dann ist es dein! Aber sehen wir nicht sofort, daß das bloß Genommene in die Ausweglosigkeit des bloß Gehabten hineingerät? Wie aber mehr geben, als was ich habe? Diese Frage bleibt dennoch. Wie anders entstehen indessen die großen Gedanken, die weiterführenden Ideen, die beglückenden Kunstwerke? Gestalten da Menschen nur was sie haben? „Erschaffen“ sie nicht neue Möglichkeiten, indem sie sich dem zuwenden, was sie Gestalt werden lassen wollen, und sich denen zuwenden, für die sie [26] sich einsetzen, denen sie sich selber zum Ausdruck bringen wollen? Letztlich ist nur die Liebe erfinderisch, schöpferisch. Jene Liebe, die eben du sagt, die sich selber gibt und die so dem Zwischenraum zwischen dir und mir neue Möglichkeiten entbirgt. Zwischen dir und mir, in der lebendigen Beziehung, in der wahren Freundschaft und Liebe, liegt nie nur die Welt, die es gibt, sondern ersteht immer neue Welt. Liebe, und schenke was du hast und bist; so schenkst du mehr als was du hast und was du bist, schaffst du eine neue Welt. Und in der neuen Welt allein gewinnst du, was du nicht hast.

Es ist ein Irrtum, der viel Unfrieden stiftet: Wir meinen, es fehle uns das, was andere haben. Im Grunde aber fehlt uns das, was weder andere noch wir selber haben. Es fehlt uns das Neue, jenes, was sich uns schenkt, wenn wir bereit sind, uns zu schenken.

  1. Schritt: Gib was du nicht bist – so bist du mehr als du selbst und bist erst ganz, was du bist

Der Schritt bis dahin scheint nur noch ein kleiner zu sein, und doch ist er der Umschlag des Ganzen. Der Umschlag, auf den freilich der gesamte Weg hinausläuft.

Wir müßten den Satz genauer fassen: Gib dich und gib mit dir selbst das, was du nicht bist! Hingabe entfaltet aus sich selbst die innere Dynamik, ein ganzes, ein grenzenloses Ja zu sagen und deshalb alles, was der Hin- [27] gebende hat und ist, in dieses Ja einzubringen. Alles was er hat und ist: gehört da nicht mehr dazu als nur er selbst? „Bin“ ich nicht ein Auslangen nach dem ganz Guten und ganzen Guten, dem Unendlichen? Bin ich nicht ein Wollen, das unendlich mehr haben will als nur sich selbst? Bin ich nicht darauf angelegt, daß mein Ja im Bunde ist mit dem unbedingten Ja? Nur wenn ich diese meine Hinwendung zum Unbedingten mit einbringe in die Hingabe, gebe ich mich selbst – und in der Verlängerung, in der Radikalisierung gilt: nur wenn ich das unbedingte Gute selbst mit verschenken kann, verschenke ich mich selbst ganz und gewinne so mich selbst ganz.

Zu dieser Konsequenz gelange ich aber nicht nur im Rückblick auf mich selbst, sondern ebenso, ja vor allem im Hinblick auf dich. Es ist mir einfach zu wenig, daß nur ich Ja sage zu dir. Ich möchte, daß mein Ja im Bunde sei mit einem unbedingten Ja. Ich möchte nicht nur der „Täter“ der Hingabe sein, sondern ich möchte zumal der Zeuge jener Hingabe sein, die dich wahrhaft sein läßt, die es wahrhaft und ganz mit dir gut sein läßt.

In der Tat, Hingabe steht unter dem Imperativ: gib dich, indem du unendlich mehr gibst als nur dich selbst! Gib dich, indem du – so dürfen wir sagen – Gott gibst. In diesem Imperativ erreichen wir erst das Maß unseres Wesens, und in diesem Imperativ geraten wir zugleich in unsere letzte Ohnmacht aus uns selbst. Wer nicht seinen Gott mit sich selbst dem anderen hingibt, der hat sich nicht gegeben. Und wie immer ich mich gebe, ich gebe darin bewußt oder verschwiegen Zeugnis für mei- [28] nen Gott. Aber Gott so geben, daß darin Gott gegeben ist – das kann ich nicht aus mir selbst. Es kann von meiner Seite aus nur scheue Hoffnung und ehrfürchtige Bitte sein: Gib du dich, Gott, durch mich und über mich hinaus an den, dem ich mich geben will!

Christen glauben, daß Gott selbst einer ist, der sich gibt. Und sie glauben, daß er sein Sich-Geben uns gibt in der Hingabe seines menschgewordenen Sohnes. In Jesus geschieht die Selbsthingabe Gottes, in Jesus geschieht aber auch die Eröffnung ganzen Menschseins für uns: Wir dürfen uns so geben, daß wir darin unendlich mehr geben als nur uns selbst, daß wir darin Gott geben. Überbietung und Erfüllung des Menschlichen.

Mehr noch: Menschsein als Zeugnis, als von Gott begnadetes und ermächtigtes Zeugnis dessen, wie Gott selber ist. Im 6. Kapitel seines Itinerariums führt Bonaventura aus der Mitte der christlichen Botschaft und auf der Spitze philosophischer Spekulation zugleich aus, wie Gott das unbedingte, ganze, höchste Gut ist, nach dem wir streben. Er ist es gerade, indem er ganz „diffusivum sui“, ganz in sich selber Hingabe ist. Sein Sich-Haben und sein Sich-Geben sind absolut eins. Gott, die Quelle des Guten, verströmt sich in sich selbst so sehr, daß er in sich selbst ganz und gar Mitteilender und Mitgeteilter ist, daß er in sich selbst dreifaltiges Leben ist. Ganz gut ist Gott, weil er sich selbst in sich selbst ganz mitteilen, ganz hingeben kann und darin gerade sich ganz hat und umfängt. Der Blick auf den dreifaltigen Gott ist Befreiung von der unersättlichen und im Grunde angsthaften Konzentration auf Selbstbesitz und Selbstver- [29] wirklichung – er ist Befreiung ebenso von einer bloß ethischen und asketischen Fixierung auf den Selbstverzicht.

Selbstverwirklichung und Selbsthingabe – ihre Spannung und ihre Einheit geschieht für uns und unter uns in der Dramatik von Menschwerdung, Kreuz und Ostern. Der Geist aber gibt unserem Geiste Zeugnis, daß wir uns geben dürfen, daß Selbsthingabe Eintritt ist ins göttliche Fest der Liebe.