Dein Herz an Gottes Ohr
[125] „Meine Stärke und mein Lied ist der Herr“
Es genügt nicht, daß Beten ein Tun, ein noch so häufiges und erfülltes Tun sei. Unser Sein will zum Gebet werden. Beten ist nicht nur ein Tätigkeitswort, sondern ein „Seinswort“.
Doch was heißt das: Unser Sein will Gebet werden? Gebet ist jedenfalls eine Beziehung zu Gott, eine Einheit, in der Gott selber da ist und ich selber da bin, und zwar so, daß ich mich darin finde, indem ich Gott finde, und daß Gott darin gegenwärtig ist, indem er die Sache und der Sinn, das Wort meines Daseins ist.
Diese Beziehung ist dann freilich von ihrem Wesen her darauf angelegt, daß sie über den augenblicklichen, begrenzten Vollzug hinauswächst und mein Dasein im ganzen ergreift.
Man könnte sagen: Er ist, daß ich da bin – ich bin, daß Er da ist.
Kann man das nicht menschlicher und göttlicher zugleich sagen, betend sagen? Der Psalmsänger kann es: „Meine Stärke und mein Lied ist der Herr“ (Ps 118,14).
Er ist, daß ich bin – Er ist meine Stärke. Ich bin nicht „an der Wand“, ich bin nicht hineingedrängt und hineingedrückt in mich selber, so daß ich nicht mehr atmen kann. Er ist es, der mir auch dann noch [126] Lebensraum ist, wenn ich keinen in mir selber finde. Er ist mir inwendiger als ich mir selbst, er ist die Quelle, aus der mein Ich leben und bestehen kann, er ist meine Stärke.
Und ich bin, daß Er ist: Der Herr ist mein Lied. Mein Dasein zerfasert sich nicht in die ungezählten Wahrnehmungen und Reaktionen, in denen ich die Vielfalt dessen zu bestehen habe, was da auf mich einstürmt. Die Sprache meines Ich ist nicht die nervöse Prosa der hastigen Zeichen und Worte, die ich aussende, um mitzukommen und dabeizusein. Es gibt ein Wort, das durch alle Worte geht, und dieses Wort ist so stark und so groß, daß nicht nur ich es sage, sondern daß es zugleich sich in mir sagt. Dies aber ist der Gesang, ist das Lied: Wort, das seinen Atem in mir entfaltet, Wort, das, indem ich es vollbringe, mich vollbringt, Wort, das mich über mich hinausträgt.
„Der Herr ist meine Stärke und mein Lied“: poetische Übersteigerung oder mystischer Grenzfall? Nein, im Ansatz zumindest bare Alltäglichkeit. Ja, es sind zwei gute Testfragen an mein Dasein und an mein Gebet und an das Einswerden beider: Bin ich freier und zuversichtlicher, weil Er ist? Kommt etwas ins Schwingen bei mir, weil Er ist? Wendet sich in ihm etwas von meiner Bedrängnis in Stärke, etwas von meiner Sprachlosigkeit oder Einsilbigkeit oder Geschwätzigkeit ins Lied?