Unser entschiedenes Zeugnis wäre der größte Dank an ihn
[141] Liebe Schwestern und Brüder!
Wir haben lange gebangt, dieser Tag könnte bald kommen. Mit dem Bischof hatten wir angesichts des Ringens der Ärzte Hoffnung, Klaus Hemmerle könnte die heimtückische Krankheit bezwingen und bei uns bleiben. Es ist anders gekommen. Für uns alle überraschend schnell hat sich sein Leben vollendet. Allzu früh. Am 3. April dieses Jahres wäre er 65 Jahre geworden. Wir Christen trauern angesichts eines solchen Verlustes wie andere Menschen, dennoch betrachten wir das Leben und Sterben anders. Wir sind dankbar, daß Gott diesen Priester und Bischof der Kirche, seiner Heimatdiözese Freiburg, seinem Bistum Aachen, seinen Freunden und uns allen geschenkt hat. Die schwere Krankheit am Ende und der jähe Tod haben uns deutlicher erkennen lassen, wie kostbar Klaus Hemmerle für uns alle war und ist.
[142] Die Eltern waren bescheidene und eher arme Leute, aber in ihrer Menschlichkeit und im Herzen sehr reiche und viele beschenkende Menschen. Der Vater, ein Kirchenmaler, und die Mutter, Schwägerin des Musikers Franz Philipp, hatten Klaus große Gaben eines schöpferischen Geistes und einer fein empfindenden Seele in die Wiege gelegt. Die künstlerische Begabung war unverkennbar. Bis in die letzten Tage hinein hat er sich am Abend immer wieder einmal an das Klavier gesetzt und sich in der Tiefe der Musik Mozarts, Bachs und Beethovens erholt. Schon früh machte er Abitur und wurde mit 23 Jahren bereits zum Priester geweiht. Nach der zweijährigen Vikarszeit in Donaueschingen, Kollnau und Rheinfelden begann er seine theologische Doktorarbeit über „Philosophische Grundlagen zu Franz von Baaders Gedanke der Schöpfung“, die er in zwei Jahren abschloß. Sein Lehrer Bernhard Weite war in dieser Zeit und später der große Anreger und Freund.
Im selben Jahr 1956 wurde er zum ersten Direktor der neugeschaffenen Katholischen Akademie der Erzdiözese Freiburg berufen. Nun war er in seinem Element. Jetzt wurden immer mehr Menschen auf diesen begabten, menschenfreundlichen und liebenswerten jungen Gelehrten und Priester aufmerksam. In allen Bereichen ging es ihm um zukunftsweisende Fragestellungen. Unaufhörlich blieb er mit Menschen aus allen Lebensbereichen, Denkrichtungen und Wissenschaften im Gespräch. Nach fünf Jahren war der Grund gelegt. Klaus Hemmerle wurde [143] Assistent bei Bernhard Weite und begann nach 1961 seine große Untersuchung über Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie, die 1967 von der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg zur Habilitation im Fach Religionsphilosophie angenommen wurde.
Der Weg eines vielversprechenden akademischen Lehrers schien eröffnet. Aber es sollte nur ein kurzer Weg sein: 1969 Privatdozent in Bonn, im Jahr darauf Professor für Fundamentaltheologie in Bochum und von 1973 bis 1975 Professor für Christliche Religionsphilosophie als Nachfolger seines Lehrers in Freiburg. Klaus Hemmerle blieb immer geprägt von dieser ungewöhnlich hohen Begabung und der Freiburger Schule seiner Lehrer Bernhard Weite und Max Müller, hinter denen Namen wie Edmund Husserl und Martin Heidegger auftauchen. Ich bin wenigen Menschen begegnet, denen ich das große Wort „genial“ zubilligen würde. Klaus Hemmerle war einer. Überall wo er etwas näher betrachtete, kam es unter der Zauberkraft seines Denkens zu einem ursprünglichen Leuchten längst vertrauter, gewohnter und auch verbrauchter Dinge. Er war zugleich ein Meister des Denkens und der Sprache. Nur so konnte er die Dinge wieder taufrisch fast wie am ersten Tag der Schöpfung vor einen hinstellen. Die Klarheit und Folgerichtigkeit seines lebendigen Denkens, das tief in der Anschauung und Erfahrung wurzelte, war ganz ungewöhnlich. Ein kleiner Zettel mit wenigen Stichworten genügte ihm oft, um danach seine Vorlesungen und Vorträge zu entwickeln. Oft waren sie so gut gelungen, daß sie auch schon druckreif waren. [144] Klaus Hemmerle hat uns so neben einigen gelehrten Büchern ungefähr dreißig Bücher und über 800 Abhandlungen geschenkt, die einen guten Teil seines Vermächtnisses bilden. Anderes harrt gewiß noch der Aufarbeitung.
Als wir Freiburger Professoren vor mehr als 18 Jahren nach Aachen zur Bischofsweihe kamen, wußten wir, daß der Platztausch zwischen dem Professor und dem Bischof ein großer Verlust für die Wissenschaft, aber ein riesiger Gewinn für das Bischofsamt und die ganze Kirche war. Aus dem begabten Lehrer wurde ein wortgewandter Verkünder. Vieles wanderte nun aus dem Bereich bisheriger weltlicher Erfahrung in das Innere der Kirche und umgekehrt. Es war eine wechselseitige Fruchtbarkeit. Klaus Hemmerle stand immer im Schnittpunkt von Kirche und Welt, von Welt- und Heilsdienst. Es war darum kein Zufall, daß er nun 25 Jahre lang als Geistlicher Direktor und später als Geistlicher Assistent im Zentralkomitee der deutschen Katholiken die Laien aus den Räten und Verbänden bei ihrer Suche nach dem gemäßen Christsein in unserer Welt segensreich begleitete. Alle Katholikentage von Essen 1968 bis Dresden 1994 tragen seine Handschrift. Als er vor Monaten einmal daran dachte, einige Ämter aufzugeben, wollte er diese Aufgabe außerhalb seines Bistums als einzige behalten, denn in diesem Vierteljahrhundert fand er im Zentralkomitee der deutschen Katholiken seine wohl treuesten Freunde.
[145] Das Bistum Aachen verliert in Klaus Hemmerle einen großen Bischof. Er war nicht der Mann der lauten Worte. Aber seine leise, ruhige Stimme hatte eine ungewöhnliche Kraft der Verkündigung. Immer wieder kehrte er zum Wort Gottes zurück und entfaltete es in tausend Spiralen als Nahrung des Lebens für viele Menschen. Es war seine Kunst, zugleich so einfach und so tief zu sprechen, daß es die Marktfrau ebenso verstand wie der Professor der Technischen Hochschule. So hat der Bischof von Aachen vor allem durch die Weitergabe seiner geistlichen Erfahrung im Zeugnis des Wortes gewirkt, nicht zuerst durch rechtliche Vollmacht und Gesetz. Gerade so hatte er auch einen großen Sinn für die immer wieder von neuem von ihm zusammengeführte Gemeinschaft im Bistum, aber auch für die Einmaligkeit vieler Persönlichkeiten, nicht zuletzt unter den Priestern; für den Künstler ebenso wie für den Arbeiterpriester. Manche meinten, er sei in dieser echten Liberalität, d. h. in der Freigebigkeit seines Geistes, in diesem großzügigen Gewährenlassen schwach gewesen. In Wirklichkeit war es seine unnachahmliche Stärke, daß er eine so große Vielfalt von Begabungen immer wieder durch die Kraft des Geistes zu einer echten Einheit zusammenführen konnte.
In den letzten Jahren ist „Weggemeinschaft“ zu einem zentralen Leitwort seines priesterlich-bischöflichen Wirkens geworden. Der Mann des unermüdlichen Gesprächs wollte durch eine neue Nähe zwischen den Menschen, unter den Gemeinden und Verbänden, die bei aller Ver- [146] schiedenheit zusammen unterwegs sind, Gemeinschaft vertiefen. In dieser Weggemeinschaft hatte jeder seinen Platz und seine Würde, keiner wurde erdrückt, niemand preisgegeben - und gerade so entstand eine neue Berufung zu wahrer Gemeinschaft. Diese Weggemeinschaft war Bischof Hemmerles Verwirklichung von Communio. Und er wußte nur allzu gut, daß alle künftige pastorale Planung auf Sand baut, wenn es nicht eine neue spirituelle Vernetzung im Bistum gibt, die alle Pläne erst trägt.
Das Unterwegssein hatte ein Ziel. Klaus Hemmerle hat es immer wieder sehr konkret und nüchtern beschrieben. Dieses Ziel ist das Neue Jerusalem, das soeben in der Lesung wieder so eindrucksvoll vor uns erstand (vgl. Offb 21,1–5). Mehr und mehr wurde der achteckige Bau des Aachener Domes zum Inbegriff der Neuen Stadt, die sich als die Wohnung Gottes für die Menschen auf unsere Erde herabsenkt. Es war die Stadt Gottes, aber es war auch die Stadt einer neuen menschlichen Gemeinschaft, die nach dem Prinzip der Liebe aufgebaut wird. Es war zugleich ein alter Traum schon des jungen Klaus Hemmerle. Denn schon früh hatte er immer wieder den Gedanken, eine Stadt zu malen oder zu konzipieren.
Von da aus hat Klaus Hemmerle immer auch hineingewirkt in die ganze Kirche. Als Vorsitzender der Kommission IV unserer Bischofskonferenz hat er im Laufe von bald 20 Jahren entscheidende Anstöße für geistliche Berufe und kirchliche Dienste in der heutigen Welt gegeben. Wenn unsere Rahmenordnungen für die künftigen Prie- [147] ster, für die Ständigen Diakone, für Pastoralreferenten und Gemeindereferentinnen bei allen Wandlungen zuverlässige Wegweiser für die Entwicklung dieser Berufe geworden und geblieben sind, so ist dies hauptsächlich sein großes Verdienst. Es ist an dieser Stelle kaum anzudeuten, wieviel geistige und spirituelle, in jedem Fall integrative Kraft er der Gemeinschaft der deutschen Bischöfe immer wieder geschenkt hat. Sein Blick ging dabei immer auch weit hinaus in die ganze Welt. Er war froh und dankbar, daß gerade von Aachen aus immer wieder wirksame Zeichen christlicher Solidarität und Sendung in alle Welt hinausgingen und Aachen durch MISEREOR, MISSIO und Kinderhilfswerk eine echte Drehscheibe der Begegnung in der Weltkirche wurde. Kolumbien war dafür das ausgewählte Land, an dem immer wieder der Ernstfall dieser Liebe vom ganzen Bistum Aachen erprobt wurde. Es blieb nicht bei der Deutschen Bischofskonferenz und auch nicht bei den kirchlichen Institutionen. Der Bischof von Aachen wurde gerade auch bei den Bischofssynoden des letzten Jahrzehnts zu einem allseits beachteten und geschätzten, in vielen Verlegenheiten wegweisenden Mitglied. So bringe ich Ihnen mit Kardinal Simonis aus Utrecht und Erzbischof Franck aus Luxemburg unmittelbar von der in unserem Land tagenden Vollversammlung des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen – es sind 33 an der Zahl – Worte der Mittrauer und des Dankes.
Weggemeinschaft war für Bischof Hemmerle kein abstraktes Programm. Er hatte so etwas schon seit Ende [148] der fünfziger Jahre zusammen mit dem unvergeßlichen Spiritual von St. Peter bei Freiburg i. Br., Rudolf Herrmann, gesucht und schließlich in der Fokolarbewegung unter der geistlichen Führung von Chiara Lubich gefunden. Sie hat ihm auch ein Lebenswort geschenkt, das ihn immer wieder getragen hat: „Ich bin in meinem Vater, ihr seid in mir, und ich bin in euch“ (Joh 14,20). Daraus hat Klaus Hemmerle sein ganzes Leben und täglich gelebt. In unmittelbarer Nähe steht auch das Leitwort seines bischöflichen Dienstes aus Joh 17,21: „Laß alle eins sein, damit die Welt glaube.“ Es ist mehr den Eingeweihten bekannt, wieviel Klaus Hemmerle dieser Bewegung und wieviel das Fokolar ihm selbst jeweils verdankt. Hier hat Klaus Hemmerle in Gemeinschaft das leben können, was ihn auch in der Theologie immer wieder zutiefst bewegte: Dasein in Gemeinschaft, leibhaftiges Lebenszeugnis nach dem Bild des dreifaltigen Gottes.
Dieses Programm, wenn man es einmal so nennen darf, entfaltete sich für Klaus Hemmerle in Gemeinschaft, Geheimnis und Sendung, in communio, mysterium und missio. Unschwer erkennt man darin die Gliederung mancher nachsynodaler Dokumente der Kirche. Aber zuerst ist dies ein Stil des Lebens. Ein solcher Lebensentwurf nimmt Maß am Evangelium. Torheit und Ohnmacht des Kreuzes gehören ebenso dazu wie das Werden wie die Kinder. Keine Spur von Herrschaft und Machtgelüsten. Versöhnung war ihm wichtiger als Erfolg. Kirche ist für alle da, gerade für die Kleinen. Schließlich mündet am Ende alles in die Selbstlosigkeit der Liebe Jesu Christi. [149] Liebe ist stärker als alle Verhältnisse und Interessen. Liebe allein verwandelt dauerhaft die Welt. Liebe überdauert im Herrn auch den Tod.
Darum danken wir Dir, lieber Bischof Klaus, von ganzem Herzen. Du warst für viele ein Bischof nach dem Herzen Gottes. Du warst es auch für viele Christen in der weiten Ökumene. Das Zeugnis Deiner Menschlichkeit und Heiterkeit hat immer wieder gezeigt, daß Du aus einer letzten Liebe lebst, die auch im Tod nicht untergehen kann. Du hast uns bis in das Sterben hinein vorgelebt: Glauben – wie geht das? „Wer dem Tod ins Gesicht schaut, der schaut dem Leben ins Gesicht“, so hast Du einmal geschrieben. Und ein wenig weiter: „Ja, wir sind erlöst zum Sterben, wir sind erlöst zum Leben, wir sind erlöst zu einer Gemeinschaft ohne Grenzen“ (Das Wort für uns, Freiburg 1976, S. 105, 108). Zu Ostern 1993 hast Du es in Deinem Ostergruß so zur Sprache gebracht:
„Ich wünsche uns Osteraugen,
die im Tod bis zum Leben,
in der Schuld bis zur Vergebung,
in der Trennung bis zur Einheit,
in den Wunden bis zur Herrlichkeit,
im Menschen bis zu Gott,
in Gott bis zum Menschen,
im Ich bis zum Du
zu sehen vermögen.
Und dazu alle österliche Kraft!“
[150] Auch, ja gerade ein Bischof hat Versuchungen und macht Fehler. Darum beten wir heute auch um die Barmherzigkeit Gottes für Klaus Hemmerle. Aber vielleicht hat – ja, ich bin gewiß – in Klaus Hemmerle, ohne daß wir es so recht merkten, ein heiligmäßiger Priester und Bischof unter uns gelebt. Wenn wir es nicht wahrgenommen haben, ist es noch nicht zu spät. Das entschiedene christliche Zeugnis unseres Lebens wäre der größte Dank an ihn.