WORT SINN BILD

[49] Wenn man die Wohn- und Amtsräume von Bischof Klaus Hemmerle besuchte – es war noch das Bischofshaus an der Friedlandstraße 2 in Aachen – verspürte man, dass die vielen Bilder seines Vaters, Franz Valentin Hemmerle, der Kirchenmaler war, sehr stark die Atmosphäre der Räume bestimmten. Diese Bilder, Kreuzigung, Madonna, Heiligengestalten, waren in einem strengen, fast ikonenhaften Stil gemalt, aber von einer warmen Farbigkeit. Es ist zu vermuten, dass die Beuroner Schule1 ein wichtiges Vorbild für Franz Valentin Hemmerle war. Sicher wird man diese Bildpräsenz als die tiefe Verehrung Klaus Hemmerles für seinen Vater deuten können.

Es ist aber auch zu vermuten, dass er sich von dieser Bild-Welt, die ihm von Kind an vertraut und richtungweisend für sein Denken, Empfinden und Deuten geworden war, nicht mehr trennen wollte. Vielleicht war es auch die Deutungskraft dieser Bilder, die ihn, den abstrakten Denker, der in der Welt der Sprache lebte, immer wieder anregte, in der Eindringlichkeit der [50] Bildsprache zu sprechen und zu verkünden, so wie es das gute Vorbild der Heiligen Schriften tat, sei es die unerschöpfliche Bilderwelt der Psalmen oder die bildhaften Reden Jesu.

Obwohl es bei den Anregungen durch seinen Vater und bei seiner visuellen und handwerklichen Begabung nahe gelegen hätte, wurde Klaus Hemmerle nicht Maler. Vermutlich aber hat er immer gezeichnet und gemalt, wovon nur seine nächste Umgebung wußte. Nach seinem Tod war dann das Erstaunen groß, dass sich in seinem Nachlass Zeichnungen und Aquarelle befanden, etwa fünfhundert Blätter, vorwiegend aus den letzten 24 Jahren, in denen er regelmäßig mit Freunden seinen Urlaub in der Nähe der Stadt Alghero auf Sizilien verbrachte. Die Zeichnungen und Aquarelle aus dieser Zeit hat er aufbewahrt und in etwa chronologischer Ordnung gesammelt. Nur selten sind die Blätter datiert, nur ausnahmsweise betitelt. Er hat „nach der Natur“, d. h. also vor Ort, in der Landschaft oder der Stadt, gezeichnet und gemalt. Wie seine Freunde berichten, hat er manchmal aber auch erst abends das Erlebte und Gesehene aus dem Gedächtnis malerisch festgehalten – eine erstaunliche Leistung. Andererseits spricht dies dafür, dass ihm das Bild-Ergebnis wichtiger war als die naturgetreue Wiedergabe.

An fast allen Zeichnungen und Aquarellen Klaus Hemmerles ist abzulesen, dass er um Naturtreue bemüht war. Das ist ihm auch in erstaunlich hohem Maß gelungen und zwar, in dem uns zugänglichen Umfang seines Nachlasses, in fortschreitender Qualität. Das stetige Training blieb natürlich nicht ohne Erfolg. Einige seiner wohl letzten Arbeiten sind von der Versiertheit eines professionellen Malers nicht mehr weit entfernt. Aber in seiner Naturtreue war er nicht dogmatisch. Zwar war ihm wichtig, dass der (zweidimensionale) Bildausschnitt stets räumlich (dreidimensional) wirkte, und zwar in der geometrisch richtigen Perspektive. Andererseits erlaubte er sich große Freiheiten gegen die Natur, z. B. in der Farbgebung, sie war sein Experimentierfeld und Gegenstand seiner Kreativität. Manchmal wiederholte er das gleiche Sujet mit unterschiedlichen Farbkompositionen, dann war also für ihn die Form Bindung und die Farbe spielerische Freiheit. Gelegentlich finden sich sogar Farb-Varianten auf dem gleichen Blatt übereinandergemalt, die wie Vexierbilder wirken, vergleichbar den witzigen Wortspielen, mit [51] denen Klaus Hemmerle sich gerne übermütig einließ. Dieses Spielerische hat für ihn beim Zeichnen und Malen wohl immer im Vordergrund gestanden, deshalb gönnte er es sich auch fast nur in seiner Freizeit. Er verstand sich als Amateur und wollte mit diesem Tun keine Öffentlichkeit.

Es ist aber nicht nur Heiterkeit, die seine Bilder wie seine Wortspiele erzeugen, wer ihn kannte, weiß, wie gerne er die evozierte. Bei intensivem Hineinsehen in seine zahlreichen Zeichnungen und Aquarelle wird man nämlich entdecken, dass er sie eben nicht lediglich als Ab-Bildungen verstanden hat, sondern auch als Bilder, Bilder im weitesten Sinn. Vielmehr ist unübersehbar, dass die Auswahl seiner Motive fast immer Urbildhaftes oder Sinnbildhaftes zum Hintergrund hat. Man kann es auch anders ausdrücken: er findet die Urbilder allenthalben, auch im Schlichtesten. In einer Art Umkehrschluss kann man sich nämlich nicht vorstellen, dass er bei dem immer wiederkehrenden Motiv Weg, oft Varianten des gleichen Sujets, nicht an das ihm so sehr am Herzen liegende Thema der „Weggemeinschaft“ gedacht hätte, ein Bild, das er nach seinem Wahlspruch „ut omnes sint unum“ – alle sollen eins sein – zu seinem Programm machte und das weit über seinen Tod hinaus wirkungsvoll blieb. Vielleicht sind deshalb seine „Wege-Bilder“ so häufig und variantenreich. Mal biegt der Weg ins Unsichtbare ab, mal führt er an einem Tor vorbei, das einen zweiten Weg eröffnet, mal beginnt er mit einem Tor und führt steil hoch zu einem Haus, Wege, die er gewandert ist in der Gemeinschaft mit seinen Freunden. Und sogleich sind da neue Bilder: ein Tor, verschlossen oder einladend offen, ein Berg mit einem bestimmten Ziel, vielleicht aber unerreichbar. Gerade der Berg, der vor allem in den archaischen Religionen eine wichtige Rolle als Sitz der Gottheit oder der Götter spielt und ganz deutlich auch im Alten Testament, fasziniert ihn offenbar immer wieder. Manchmal ist es eine steil aus dem Meer aufragende Klippe, die dann an den Felsen Petrus denken läßt. Ganz unverkennbar wird der biblische Bezug, wenn man die vielen Stadtansichten und -silhouetten der Stadt Alghero betrachtet, die er in einer bestimmten Variante im Abendlicht darstellte, in flammenden Farben oder wie selbstleuchtend, so dass sich der Vergleich mit der Himmlischen Stadt Jerusalem aufdrängt.

Man kann natürlich noch weiter mutmaßen: ob nicht mit der Darstellung einer [52] Kirche, die breit und groß das ganze Bild füllt, mehr die Mutter Kirche denn das Gebäude gemeint ist – ob Klaus Hemmerle beim Malen der Fischerboote auch an Jesus, den Freund der Fischer, dachte, oder an das Schiff, das sich Kirche nennt? Jeder Maler muss es sich gefallen lassen, dass der Betrachter in seinem Bild sieht, was er weiß, fühlt, was er erkennt, und vermutlich ist das immer etwas anderes, als der Maler es wollte und meinte. Aber gerade das ist ja die Art des Bildes wie auch die des Wortes: die Darstellung in sich ist eindeutig, die Rezeption oder gar die Interpretation sind immer mehrdeutig – Hörer und Betrachter sind nicht objektiv, sondern subjektiv. Nun wenden sich die Sprache, die Musik, das Bild ja auch an das Subjekt, nicht an eine objektive Institution, um menschliche Kommunikation herzustellen, um über die nur vordergründige Information hinaus Hintergründe und Vernetzungen zu transportieren, die sich einer objektiven Darstellungsweise entziehen. Es geht eben nicht nur um die Aussage des Wortes und des Bildes, sondern um den Wort-Sinn und den Bild-Sinn oder wie wir eher gewohnt sind zu sagen, das Sinn-Bild.

Von den wenigen, die wussten, dass Bischof Klaus Hemmerle zeichnete und malte, haben noch weniger je seine Werke zu seiner Lebenszeit gesehen. Er wollte damit keine Öffentlichkeit und hat das auch erklärt. Er hat also seine Bilder nicht als Botschaft verstanden. Aber das Sinnenhafte, auf dem Malerei gründet, wie übrigens auch Dichtung und Musik, die er ja ebenfalls pflegte, hat sein Denken und seine Sprache durchdrungen und seine Lebendigkeit geprägt, mit der er Menschen begegnete.


  1. Die von Beuroner Benediktinermönchen begründete „Beuroner Schule“ strebte die Erneuerung kirchlicher Kunst an. Durch Vereinfachung und Strenge der Formen sollte die Symbolik der Bildaussage verstärkt werden. Hauptvertreter: P. Desiderius Lenz, Bildhauer (1832–1928) und P. Gabriel Würger, Maler (1829–1892). ↩︎