Die Seele entfalten und das kurze Leben
[9] Wenn über dem Weinberg es flammt
Und schwarz wie Kohlen
Aussiehet um die Zeit
Des Herbstes der Weinberg, weil
Die Röhren des Lebens feuriger atmen
In den Schatten des Weinstocks. Aber
Schön ists, die Seele
Zu entfalten und das kurze Leben
Und der Himmel wird wie eines Malers Haus,
Wenn seine Gemälde sind aufgestellet.
Friedrich Hölderlin
Die dunkle, herbstliche Vision Friedrich Hölderlins bringe ich unwillkürlich mit Bischof Klaus Hemmerle in Verbindung, seiner Leidenschaft für den Glauben, seinem langen Leidensweg bis zu seinem allzu frühen Tod, kaum daß der Herbst seines Lebens begonnen hatte. Aber auch der unerwartet helle Hoffnungsstrahl, der im zweiten Teil dieser Vision aufbricht, der immer wieder die Sehnsucht des Menschen nach dem Himmel artikuliert hat, aber nicht nur in gesprochenen oder geschriebenen Worten, sondern auch in konkreten Bildern des Malers, der ja Erde und Himmel darstellt, aber auch erklärt und deutet – mehr noch, wenn man dem Dichter folgt, der mit der Ausstellung seiner Bilder schon ein Abbild des Himmels schafft.
Für die Gedankenwelt von Bischof Klaus Hemmerle spielten Bilder eine wichtige Rolle. In seinen Predigten, Vorträgen und Schriften waren es vor allem die biblischen Bilder, die er auf seine unnachahmliche Weise interpretierte. Darüber hinaus fand er neue, eigene Bilder, seine Gedanken den Hörern und Lesern nahezubringen. Schließlich war für ihn seine Bischofskirche, der Dom zu Aachen, ein Stein gewordenes Bild transzendenter Wirklichkeit. Ganz wenige der Hörer seines Wortes aber, die seine bildhaft konkrete Sprache liebten, kannten zu seinen Lebzeiten seinen unmittelbaren, einfachen Zugang zum Bild: er selbst zeichnete und malte.
Er hat mir davon erzählt, daß er bei seinem Urlaubsaufenthalt oder auf Reisen zeichnet und aquarelliert, wohl weil er wußte, daß ich das auch tue, er hat aber weder mir noch anderen – mit wenigen Ausnahmen – seine Bilder je gezeigt. Im Gegensatz zu seiner musikalischen Neigung, über die er ganz gerne sprach und auch am Klavier vorspielte, betrachtete er seine Liebe zur darstellenden Kunst offenbar als etwas Privates, das er für sich behalten wollte. Er versagte sich auch diese Liebhaberei außerhalb seiner Urlaubszeit, um damit nicht seine amtlichen Pflichten zu belasten. Dabei bedeutete ihm das Malen [10] viel, wie auch aus einer Bemerkung an einen Freund, wenige Tage vor seinem Tod, hervorgeht: „Wenn ich im März wieder – so Gott will – nach Sardinien komme, dann werde ich wohl weniger wandern, aber dafür um so mehr malen“. Diese Äußerung macht deutlich, wie sehr Malen für ihn, in den letzten Jahren seines Lebens zunehmend, eine Leidenschaft geworden war.
Nun war Klaus Hemmerle von Kindheit an mit der Malerei vertraut, denn sein Vater, Franz Valentin Hemmerle, war Kirchenmaler, der farbige, bleiverglaste Fenster entwarf sowie Wand- und Deckenfresken, die er auch selbst ausführte. Hierbei hat ihm sein Sohn als Schüler, Student und auch noch als junger Kaplan geholfen. Er hat ihn aus seiner theologischen Kenntnis heraus ikonologisch und thematisch beraten. Außenstehende urteilten, daß durch seine Mitarbeit die Malweise des Vaters eine höhere Ausdruckskraft erhalten habe. Der Sohn hat dann den künstlerischen Nachlaß des Vaters, vom gerahmten Ölbild bis hin zur flüchtigen Vorskizze sorgfältig aufbewahrt. Dennoch ist nicht zu vermuten, daß er das Zeichnen und Malen nach der Natur, wie er es später pflegte, bei seinem Vater gelernt hat, dessen Malweise zweidimensional-flächig war, vergleichbar mit der Beuroner Schule. Vermutlich hat er sich aber bei der Arbeit mit seinem Vater hineingesehen in die Welt der Formen und das faszinierende Spiel der Farben. Es ist schwer auszumachen, wann und wieviel er im Laufe seines Lebens gezeichnet und gemalt hat. Nach den etwa 500 Blättern, die er uns hinterlassen hat, zu urteilen, war es die Zeit knapp zwanzig Jahre als Bischof von Aachen oder auch die Zeit seiner jährlichen Ferienaufenthalte mit seinen Freunden in Alghero auf Sardinien von 1969 bis 1993, während deren für ihn das Malen mehr und mehr an Bedeutung zunahm und ihm auch immer besser gelang.
Es stellt sich die Frage, warum Malen für ihn wichtig war. Aus der Erfahrung seiner Denkweise würde ich da zunächst einmal die Antwort wagen, daß für ihn Anschauung und die Vermittlung von Anschauung von ihm so konkret verstanden war, sinnliche Erfahrung an den Anfang des Verstehens und des Weiterdenkens zu stellen. In der Betrachtung seiner Bilder und Zeichnungen läßt sich das verfolgen: er ist immer um die Richtigkeit der Wiedergabe des sinnlichen Eindrucks bemüht und nach Jahren des Trainings – denn das waren diese Übungen ja auch – gelingt ihm das immer besser. Nun ist die genaue Wiedergabe eine Sache, die Voraussetzung dazu aber ist das genaue Hinsehen, das Beobachten der Zusammenhänge und die Einschätzung der Größenverhältnisse. Das Umsetzen der dreidimensionalen Beobachtung auf ein kleines, zweidimensionales Blatt Papier ist dann die gedankliche Leistung. Die Schwierigkeiten, die Autodidakten mit der Übersetzung der Räumlichkeit in die Zweidimensionalität (geometrisches System der Zentralperspektive) in der Regel haben, hat Bischof Hemmerle offensichtlich sehr bald überwunden. Aber nicht nur diese Technik des Umsetzens ins Bild gelingt ihm, sondern dem Bild selbst, das ja neben seinem Sujet auch ein Eigenleben zu führen beginnt, gibt er jedesmal seinen eigenen Reiz. Das ist vor allem die Bildkomposition, der Kontrast kleiner Flächen zu großen in der Verbindung mit betonten Schwerpunkten oder der Hervorhebung bestimmter Lineaturen. All das ist gegenüber dem Sujet das Mehr, das Eigenständige, das Ästhetische. Vermutlich ist die auch derjenige Teil des Bildes, der eher erfühlt ist als erdacht und konstruiert. Die Treffsicherheit in der Bildkomposition spricht für die [11] malerische Begabung von Bischof Hemmerle und entspricht im übrigen seiner unübertroffenen Sicherheit in der verbalen Formulierung und der Ästhetik seiner Sprache.
Seine Sicherheit in der Gestaltung erweist sich noch in einem anderen Phänomen, die meisten seiner Bilder haben eine deutliche Tiefenwirkung. Die Erzielung dieser im Grunde illusionären Wirkung setzt ein graphisches oder malerisches Feingefühl voraus, über das normalerweise ein Laie nicht verfügt. Mitunter entsteht der Eindruck, nicht die dargestellten Objekte seien das Bildthema, sondern der Raum in seiner Ausdehnung und Weite – die Welt. Während er sich in diesem Punkt der konservativen Regel, dem Realismus verpflichtet sieht, verhält er sich etwa in der Farbwahl ganz anders. Da muß die Farbe nicht unbedingt der des Objektes entsprechen, sie wird vielmehr mit der ihr eigenen Ausdruckskraft eingesetzt, so, wie es die Expressionisten zu Anfang des Jahrhunderts vorgemacht haben. Damit wird deutlich, daß die Farbe für ihn, losgelöst vom Farbträger, eigene Kraft besitzt und damit von sich aus Aussagekraft entwickeln kann. Wie sehr er vom Eigenwert der Farbe fasziniert ist, zeigen Experimente mit variierenden Farbkombinationen für das gleiche Bildobjekt oder Blätter, die eigentlich Zeichnungen sind, aber mit dem farbigen Pinsel gemacht sind, als wolle er damit das farbfeindliche Schwarz umgehen.
Vom Experiment ist das gesamte grafische und malerische Werk – man darf es wohl so nennen – geprägt. Experiment bedeutet zwar auch für ihn lernen, verbessern, nach der gültigen Lösung suchen. Stärker aber spürt man das Spielerische heraus, die Freude an der Variante, die Überraschungen bringt und damit die nächste schon provoziert. Es ist wie bei der verbalen Formulierung: sobald die gleiche Aussage andere sprachliche Formen erfährt, erweitern sich die Verständnis-Möglichkeiten. Hin und wieder treibt er das Spiel so weit, daß auf ein und derselben Bildfläche zwei heterogene Objekte oder Themen sich überlagern, kenntlich gemacht durch verschiedene Farben, als wäre in einer Bildfolge das nächste Bild schon eingeblendet oder als sprächen zwei Stimmen gleichzeitig. Ganz sicher hat er diese Art des Spielens mit dem profunden Humor dieses Bischofs zu tun, der Wortspiele liebte und selber immer neue erfand mit der Lust am Verdrehen, Vertauschen, Verkürzen. Die klare Absicht, die dahinterstand, war, seine Zuhörer und sich selbst zum Lachen zu bringen, vielleicht aber auch, neben das Sinnhafte den Nonsens zu stellen, um das Wahre und Wirkliche zu bestätigen.
Für Bischof Klaus Hemmerle war Malen nicht etwa ein netter Zeitvertreib, selbst wenn er es sich fast ausschließlich nur in seiner freien Zeit zugestand. Ich bin sicher, daß Malen für ihn ein unverzichtbares Ausdrucksmittel war. Er war sich wohl bewußt, daß mit philosophischer und theologischer Theorie alleine, Gott und die Welt nicht zu erkennen sind, sondern, daß es aller uns von Gott geschenkten Sinne bedarf, um dem Geheimnis Gott – Welt – Mensch so nahe als möglich zu kommen. Er brauchte deshalb auch das Gedicht, die Musik und das Zeichnen und Malen zum Erkennen, oder wie es Hölderlin ausdrückt, „die Seele zu entfalten“.