Dein Herz an Gottes Ohr

[130] Gebet und Gebot

Die Zehn Gebote (Ex 20,1–17) sind eine Schule des Gebets.

Augenfällig ist dies – sobald wir ein wenig tiefer eindringen – bei der ersten Tafel, bei den ersten drei Geboten. Wir haben in unserem Alltag viele Götter, laufen dem und jenem nach, das für uns offenkundig oder verborgen die Aufschrift trägt: „Ganz wichtig!“ Wir setzen in unserem Verhalten Prioritäten, welche die von uns prinzipiell vertretene Wertordnung tatsächlich auf den Kopf stellen. Gebet nun fängt damit an, daß wir Gott Gott sein lassen. Eigentlich müßten wir es uns am Anfang eines jeden Gebetes sagen: Du bist wirklich Gott, sei es auch für mich! Ich will dich meinen Gott sein lassen. Vielleicht wird dann unser Herz noch nicht sofort ruhig, vielleicht lassen uns die vielen Götzen noch nicht los aus ihrem Bann, aber es gelingt uns zumindest, unsere Versklavung zu bemerken und ihm, dem Größeren, auszuliefern, ihn zu bitten: Erlöse uns von dem Bösen! So fängt Anbetung an.

Das erste Gebot ist also die Grundlage. Genauer betrachtet hebt Beten aber noch früher an, bei dem, was den einzelnen Geboten unmittelbar voraufgeht: „Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat; aus dem Sklavenhaus“ (Ex 20,2). Gott erin- [131] nert also daran, daß er zuerst gehandelt, daß er sein Volk befreit, erlöst, durch seinen Ruf und seine Liebe als Volk gegründet hat. Wenn wir zu beten anfangen, wenn wir die Augen zu ihm erheben, dann hat er bereits zuvor uns angeschaut. Allein die Regung, beten zu wollen, die Augen zu ihm erheben zu wollen, ist schon Antwort auf seinen Blick. Vielleicht ist es gut, ganz einfach bei diesem seinem Blick anzufangen, vielleicht macht uns dies am meisten ruhig und frei, damit wir beten können. Du bist schon da, ich komme nach, ich stelle mich ein, ich versuche zu antworten. Und dann eben: Du bist mein Gott, sei Gott für mich.

Und im selben Atemzug erreichen wir das zweite Gebot. Der Name Gottes! Ich selbst bin angerufen. Daß es mich gibt, ist nicht ein blinder Zufall, ein Verhängnis, eine auferlegte Last, ein überfordernder Anspruch, der mich drückt und quält, reizt und unzufrieden macht. Ich bin ins Dasein „gerufen“. Mein Name ist schon „genannt“. Auch das Kind hört schon seinen Namen, ehe es „ich“ sagen kann. Und ganz allgemein unter Menschen ist das so: Nur der Angeredete kann sprechen. Aber wenn er angeredet ist, kann er eben sprechen, er nennt zuerst den Namen des anderen, Mutter, Vater – und dann erst lernt er „ich“ sagen. Beten heißt: angerufen sein und so umgeben sein vom Namen Gottes – und dann diesen Namen aussprechen. Ihn aussprechen nicht als die Bezeichnung eines Dinges, über das ich verfügen kann, oder eines Dritten, der nicht hört, was man von ihm sagt. Der Satz mag mißverständlich sein, aber im Grunde trifft er ins Schwarze: Man kann von Gott nur sprechen, indem man zugleich zu ihm [132] spricht. Gott steht zu uns in der zweiten und nicht in der dritten Person der Grammatik. Dann aber wird deutlich: Gebet artikuliert die Grundbefindlichkeit unseres eigenen Ich, Gebet ist der Grundvollzug unserer Existenz.

Damit das aber nicht abhebt ins bloß Grundsätzliche oder hineinverschwindet ins bloß Innerste, ist das dritte Gebot, besser: ist das entscheidend, worum es im dritten Gebot geht. Mit das wichtigste in unserem Leben ist unsere Zeit. Meine Zeit ist mein Leben. Sag mir, was du mit deiner Zeit anfängst, und ich sage dir, wer du bist. Sag mir, was deine Zeit erfüllt, und ich sage dir, was dein Herz erfüllt. Wir sind nicht erst heute, aber gerade heute, in den Lebensbedingungen, in welchen wir uns finden, Mitläufer von Zeit, die andere uns vorgeplant haben, oder Manager von Zeit, die wir planen und verfügen. Im ersten Fall nehmen andere uns den Atem, im zweiten drohen wir ihn uns selbst zu nehmen, gefangen von unserer Scheinmacht und bedrückt vom Überdruck, selber Herren der Zeit zu sein. Der Sabbat aber sagt: Du hast deine Zeit nicht von dir, unterbrich die Zeit deines Machens, laß die Augenblicke deiner Zeit der leere Kelch sein, in welchem Der sich selbst dir schenken kann, von dem du alle deine Zeit hast. Gib deine Zeit ihm, damit du erkennst: Zeit kommt von ihm. Nur dieses Fest der für den Herrn unterbrochenen, ihm hingehaltenen Zeit überwindet den Zeitdruck und die Zeitangst. Gebet ist umgebrochene, verwandelte, von ihrem Ursprung her neu empfangene Zeit. Es sollte beim Beten jedes Mal diesen hörbaren „Knick“ in der Zeit geben, der unser hektisches oder selbstherrliches oder erschöpftes [133] oder in sich selber drehendes Zeitgefühl umbricht: Er ist wieder da – und so bin endlich ich selber wieder da, neu da – und alles ist neu da.

Gott hat mich schon angeschaut, ehe ich ihn anschaue. Ich lasse die vielen Abhängigkeiten und Knechtschaften und sage ihm: Du bist mein Herr, sei du mein Herr! Ich weiß mich beim Namen gerufen und von seinem Namen umgeben und heilige diesen seinen Namen. Ich steige aus dem verfügten oder selbstgemachten Zwang der Zeit aus und empfange sie in der „Unterbrechung“ des Gebetes neu von ihrer Quelle, vom lebendigen Herrn her. Das ist das Maß der ersten drei Gebote für das Gebet.

Daß auch die zweite Gesetzestafel, jene, die sich auf das Verhältnis des einen zum anderen im Volk Gottes bezieht, mit dem Gebet zu tun hat, zeigt sich nicht auf den ersten Blick. Aber dieser erste Blick trügt. Denn warum gibt es diese zweite Gesetzestafel überhaupt? Gott ruft den Menschen nicht isoliert, sondern das Volk Israel ist gerufen als Bundespartner Gottes. Als Volk hat es aber nur Bestand, als Volk kann es nur Gottes liebende, erwählende Tat beantworten, wenn im Volk einer den anderen annimmt, stützt, trägt. Der andere und ich stehen unter demselben Ruf, wir gehören zusammen, wir sind jeder bei seinem Namen gerufen und geben Gott die Antwort, indem wir seinen einen und selben Namen anrufen. Versiegelt sein unter demselben Namen Gottes, das ist das Grundkennmal des Volkes Gottes. Das heißt aber auch: Der andere ist für mich versiegelt unter Gottes Namen. Mein Verhältnis zu dir hat mit Gott zu tun, du selbst gehörst in mein Verhältnis zu Gott hinein.

[134] Was in Israel galt, das vollendet sich in Jesus, der uns allen den einen Vaternamen offenbarte und so uns zu Brüdern und Schwestern hat werden lassen, im einen Blut, das er für jeden einzelnen vergoß, im einen Geist, den er ins Innerste des Herzens eines jeden von uns legt. Wenn ich bete, bete ich: Vater unser. Wenn ich „ich“ sage, dann sage ich nicht nur zu Gott, sondern auch zum Nächsten du und mit dem Nächsten wir.

Dann aber halten in der Tat die Gebote der zweiten Tafel eine Botschaft für unser Gebet bereit.

Ein wenig abstrakt formuliert: Das vierte und fünfte Gebot sagen uns, daß Beten in einer nachzeitigen und gleichzeitigen Gemeinschaft steht. So sehr Gebet vom einzelnen, von der Situation des Jetzt und von seinem Herzen und seiner Befindlichkeit ausgeht, so wenig ist es doch herauszunehmen aus dem Geflecht der Überlieferung und Weitergabe des Glaubens. Wir stimmen ein in den Chor der Jahrhunderte und setzen die Bedingung, daß er weiterklingt, wenn wir beten. Dieses Mitbeten mit denen, die uns ihre Erfahrung und Praxis des Glaubens und Betens überlieferten, diese Verantwortung für jene, die kommen, sind nicht etwas zum Gebet Zusätzliches, sondern prägen es von innen her. Nur wenn ich von den Vätern und Müttern her und auf die Kommenden zu bete, bete ich selbst ganz, bringe ich mich als den ein, der ich bin. Die Frage, ob mir eine bestimmte Form des Betens liegt oder zusagt, hat ihr Recht, aber ihr relatives Recht. Weiter werden, „menschheitlich“ beten, im Verbund der Jahrhunderte und Kulturen beten, das heißt: zum Gott des Ganzen, zum je größeren Gott beten.

[135] Aber nicht nur diese nachzeitige Verbundenheit, sondern auch die gleichzeitige, ja sie ganz augenfällig gehört zum Gebet. Wir sprachen schon vom Wir, vom Unser. Wie ernst dies ist, das tritt am fünften Gebot zutage. Gerade dann sage ich das ganze unbedingte Ja zum Leben des anderen, wenn ich ihn auch ins Gebet nehme. Und wenn ich umgekehrt die anderen alle ins Gebet nehme, dann übernehme ich vor Gott die Verpflichtung und erhalte ich von Gott die Kraft, für das Leben des anderen mitzuleben und zu wirken. Gebet ist nicht eine Aufrüstung für sozialen Einsatz, aber eine Verwandlung meines Lebens in verantwortliches Mitleben mit jenen, denen derselbe Herr des Lebens das Leben gab.

Gebet wendet sich an die Treue Gottes und ist die Antwort der Treue auf seine Treue. Ich verlasse mich auf den Gott, den ich anrufe – und kehre ein in seine Verläßlichkeit. Sie „imprägniert“ sozusagen auch mein Verhalten zum Nächsten, meine Bundestreue, meine Durchsichtigkeit, mein reines Herz. Wenn Gebet das Rufen der Braut zum Bräutigam ist – Grundbild des Alten und des Neuen Testamentes –, dann hat das sechste Gebot, das Gebot der Treue und jener Reinheit, die nicht eine rituelle und äußere, sondern eine wesenhafte ist – Transparenz des eigenen Seins und Verhaltens also –, mit dem Gebet zu tun. Wer betet, betet nur dann ganz, wenn sein Herz in diesem Beten treu und lauter wird.

Im Gebet erfahren wir das, was wir haben, als Gabe. Es ist nicht festgehaltener, für uns selbst behaupteter Besitz, sondern Zeichen der Güte und Nähe dessen, von dem alles kommt. Die Verwandlung unseres Verhältnisses zur Schöpfung und ihren [136] Gaben verwandelt aber auch unser Verhältnis zum andern. Der Brudermord Kains an Abel gründet in der Mißgunst, die den Segen und die Huld Gottes dem anderen innerlich streitig macht. Das Habenwollen verdirbt und pervertiert das Gebet, das Opfer in den Bruderhaß und in den Brudermord hinein. Wer von Gottes Gaben lebt, der gönnt dem andern Gottes Gaben, mehr noch, er sorgt, daß der andere von diesen Gaben zu leben vermag. Wiederum ist solche im siebten Gebot geborgene „soziale Hypothek“ des Gebetes nicht eine äußere, zusätzliche Pflicht, sondern jenes mit dem Gebet unmittelbar verbundene Weitwerden des Herzens, in dem alle mitumfaßt sind, die Gottes Herz umfaßt, und jene zumal, denen es sich besonders zuwendet: denen am Rand, den Bedürftigen und Schwachen.

Achtes Gebot: Gebet geschieht im Wort oder wächst aus dem Wort, und im Wort sprechen die anderen mit, spreche ich zu den anderen mit. Wir bringen Sprache der Menschheit, wir bringen Sprache des Alltags, Sprache der mannigfachen Beziehung und Bezeugung zwischen uns in jeden Satz eines jeden Gebetes mit – und auch in den Ansatz jenes Gebetes, das die Worte hinter sich läßt, um schweigend ganz Wort zu sein. Gebet ist wie ein Feuerofen, in dem die Worte, die mitgebrachte Sprache, die in ihr schwingenden Beziehungen geläutert und umgeschmolzen werden. Wer gebetet hat, der spricht anders, dessen Wort wird zum Zeugnis – auch in den alltäglichen und pragmatischen Dingen – zumindest zum Zeugnis jener Redlichkeit, die nichts verstellt und weder das Gefüge der Wirklichkeit noch die Würde des anderen verletzt. Wo im Ernst gebetet [137] wird, da gewinnt Sprache ihre dritte Dimension: Sie wird vom Zusammenfall in die Plattheit und Flachheit bewahrt, aber auch die Hintergründe werden ausgeleuchtet und offengelegt, in denen sonst die verborgene Selbstherrlichkeit, Verbogenheit und Verlogenheit des Ich sich einzunisten drohen. Wer du zu Gott sagt, der sagt neu du zu seinem Nächsten.

Die beiden letzten Gebote, das neunte und zehnte, haben es mit dem Begehren, mit unseren Absichten und Wünschen zu tun, welche das offenbare Verhalten beseelen und ihm die Weichen stellen. Sie beschreiben eine Kurve, die der Weg des Bundes aus der Welt des Handelns in das Innerste des Herzens hinein nimmt, dorthin, wo der Mensch, so wie er ist, vor Gottes Antlitz steht.

Schauen wir die Gebote der zweiten Tafel nochmals zusammen. Gut beten heißt dann:

In deinem Beten beten die Generationen vor dir und nach dir mit, und du betest mit ihnen mit – so aber wendest du dein Herz den Früheren und den Späteren zu.

In deinem Beten betet dein Nächster mit, in dein Beten nimmst du deinen Nächsten hinein, aus deinem Beten nimmst du Gottes Zuwendung zu deinem Nächsten und zu seinem Leben mit hinaus.

In deinem Beten läßt du dich ein auf Gottes Treue und gibst ihr die Antwort deiner Treue; so wirst du der verläßliche Partner und Zeuge seines Ja auch in Zeiten der Krisen und Dunkelheiten.

Im Beten erfährst du Welt und Dinge neu als Gabe Gottes – für dich wie für die anderen, du verdankst, du gönnst, du gibst. Im Beten bringst du die Worte deines Lebens mit und läßt deine Worte zu Worten [138] des Lebens, zu Worten der Wahrheit werden, im Beter erneuert sich die Sprache zwischen den Menschen.

Im Beten wohnt dein Handeln, wohnen deine Beziehungen und Verflochtenheiten – und werden sie neu aus der Quelle, aus dem Ursprung dessen, der dich und alle und alles sein läßt, dir und allem und allen sich zuneigt. Gebet wird, wo immer es geschieht, zur Welt-macht, zum Anteil des Menschen an der Welt-macht Gottes.

Wir können überraschend das an den Geboten Abgelesene gegenlesen an Jesu eigener Botschaft. Wer in die Bergpredigt hineinhorcht, dem fällt immer wieder auf, wie das Verhältnis zum Vater, der ins Verborgene sieht, wie die gelebte Beziehung zu ihm das Verhalten des Menschen umformt. In der Tat sind alle Linien, die sich für uns aus den Zehn Geboten aufs Gebet und vom Gebet auf die Zehn Gebote hin zeichnen, in Jesu ausdrücklicher Verkündigung enthalten. Blicken wir auf die zweite Tafel der Gebote. Das Tempelopfer kann nicht die Sorge für die Eltern ersetzen (vgl. Mk 7,9–13). Der Mord setzt an im Haß und in der Unversöhnlichkeit, ja im Fluchwort (vgl. Mt 5,21–26). Das Herz und der Blick sind die Orte, wo eheliche Treue gemäß der Treue Gottes gewahrt oder verletzt werden (vgl. Mt 5, 27f.). Vertrauen auf Gottes Vorsehung überwindet die Habgier und die egoistische Sorge (vgl. Mt 6,19---34). Weil Gott in jedes unserer Worte hineinsieht und hineinspricht, ist der Unterschied zwischen Alltagswort und beeidigtem Wort hinfällig (vgl. Mt 5,33–37). Bergpredigt ist im Grunde: gebetetes Leben, gelebtes Gebet.