Leben aus der Einheit

[135] Trinität und Kreuz. Logik trinitarischen Seins und Daseins

Leben aus der Einheit bekommt seine unverwechselbare Gestalt da, wo wir Maß nehmen am Leben des dreifaltigen Gottes. Aber der Ort, an dem sich uns die Dreifaltigkeit zeigt, an dem sie sich uns offenbart, ist das Kreuz. Dort ist uns die ganze Liebe des Vaters geschenkt, dort sagt der Sohn auf die radikalste Weise in unserem menschlichen Dasein sein Ja zum Vater. Dort ist er das ganz entfaltete Wort, in dem er uns alles sagt, was er vom Vater zu sagen hat, und in dem er alles dem Vater sagt, was er von uns ihm zu sagen hat. Dort sagt er in seinem unendlichen Ja uns und dem Vater die ganze Liebe. Dort ist der Ort, wo er den Geist hingibt in die Hände des Vaters und zugleich weg an uns, auf daß er einströmen kann in uns. Dort öffnet sich der verschlossene Himmel, und dort werden wir in diesen Himmel hineingenommen und fällt der Himmel zwischen uns. Das Kreuz ist also der Knotenpunkt, wenn wir vom dreifaltigen Leben und von Einheit sprechen wollen. Nur dort, wo er jeden einzelnen in sich hineingenommen hat, wo es nichts gibt, was draußenbliebe aus seinem Schmerz und aus der Verwandlung dieses Schmerzes in reine Liebe, nur [136] dort kann Einheit sein. Wenn ich nur eines zu sagen, nur von einem zu sprechen hätte, nur eines leben, nur auf eines schauen müßte, es wäre dieses Sein Kreuz. Hier ist der Ort, an dem er bis in die Verlassenheit Gottes uns nahekommt und so Gott alles in allem wird.

Die Botschaft vom Kreuz ist nie bequem. Daher geht es auch mir so, daß ich oft auf einen inneren oder äußeren Widerstand bei Menschen stoße, wenn ich vom Kreuz spreche. Viele fragen sich: Muß denn alles so negativ sein? Hat Jesus nicht unmittelbar mehr Freude gewollt? Ist es denn überhaupt gut, daß wir immer von ihm und seiner Ohnmacht sprechen? Lähmt das nicht unsere Aktivität? Müßten wir nicht zuerst einmal schauen, was wir selber tun können, und dann, wenn wir das uns Mögliche getan haben, wenn es nicht mehr anders geht, dann eben kommt das Kreuz? – Ich verstehe die Hintergründe solcher Fragen. Und ich weiß auch um eine falsche Kreuz- Mystik, in der wir uns einfach nur resignativ ergeben in das, was ist, und schier defätistisch sagen: „Das Kreuz ist alles“, um uns damit zu entschuldigen und aus der Affäre zu ziehen. Von mir persönlich kann ich allerdings sagen, daß ich das Kreuz so nie erfahren habe. Denn wo ich das Kreuz und den am Kreuz Verlassenen ernst nehme, kann ich gar nicht anders, als mich so dieser Radikalität seiner Hingabe zu öffnen, daß ich eben gerade nicht einen Bogen um die Probleme mache. Sondern ich mobilisiere dann wirklich alles in mir, um in jeder Situation dem Antwort zu ge- [137] ben, der so geliebt hat, – und ihm kann ich nur liebend Antwort geben.

Versuchen wir einmal, diese Botschaft vom Kreuz in ihrer Mitte zu erschließen. Diese Mitte liegt für mich im Schrei der Gottverlassenheit: „Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Ps 22,8; Mt 27,4b; Mk 15,34) Wie immer ich das Evangelium im einzelnen deute und verstehe, so erblicke ich doch eine fundamentale Linie, die hineinführt in diese Mitte. Diese Linie möchte ich als das Evangelienhafte des Evangeliums bezeichnen, als jenes ganz Typische, das das Evangelium gerade abhebt von anderen Weisen der Botschaft von Erlösung, Heil und Rettung. In dieser Linie zeigt sich etwas, was den Jüngern von allem Anfang an fremd war und zu schaffen machte, was von allem Anfang an zu einer Provokation wurde und dazu führte, daß neu und anders gelebt, gesehen und geurteilt werden mußte, wenn man sich auf Jesus einließ.

Aber nähern wir uns dieser Wirklichkeit schrittweise, und tasten wir uns von außen an die Botschaft vom Kreuz heran. Ich möchte in drei Stufen zum Kreuz hinführen und uns dabei das Kreuz als einen Grundzug im Neuen Testament nahebringen. Zunächst möchte ich einige Beobachtungen bei den Synoptikern und bei Johannes nachzeichnen, um dann näher die paulinische Kreuzestheologie inhaltlich zu deuten. Abschließend werde ich die drei letzten Worte Jesu betrachten, wie sie uns in den [138] Evangelien überliefert sind. Indem wir diese Stufen miteinander gehen, ertasten wir den Inhalt der Kreuzesbotschaft und zugleich den Ort, an dem sich dreifaltiges Leben unserem Leben erschließt.

Zunächst also zu den Beobachtungen bei den Synoptikern: Bei Matthäus und Lukas wird – ausführlich anders als bei Markus – die Versuchung Jesu zu Beginn seines öffentlichen Wirkens geschildert (vgl. Mt 4,1–11 und Lk 4,1–13). Der Inhalt der Versuchungsszene macht deutlich, was ihm der Satan am Anfang seines Weges als Alternative vorschlägt: „Schau doch, daß du für deine Ideen Erfolg bekommst! Verschaff dir Ansehen und Macht! Schließlich hast du eine gute Sache zu vertreten, und wenn es eine gute Sache ist, wenn es sogar die Sache Gottes ist, dann spring hinein und du wirst schon siegen! Du kannst es ja, du kannst Steine in Brot verwandeln, du kannst alle durch Schauwunder überzeugen, und so wirst du leicht Zustimmung bekommen.“ Aber – so wird uns gesagt – hinter all dem steht eben nicht das Interesse, Gott anbeten, sondern selber mächtig sein zu wollen, sich selber retten zu wollen, selber alles auf dem direkten Weg der Macht erreichen zu wollen. Von Anfang an ist hier das Gegenteil zu dem gemeint, was Jesus uns in der innersten Wurzel seiner Botschaft bringt. Jesus wählt den kleinen Weg und nimmt die Stunde von Gott her. Er läßt sich ein auf die Bedingungen aller anderen, um in diesen Bedingungen, im Kleinsein und Armsein das Heil zu wirken. Er fängt also [139] damit an, das Heil nicht per Zugriff, sondern per Auslieferung an Gott allein zu wirken.

Stellen wir dem gleich einen anderen bei den Synoptikern überlieferten dramatischen Höhepunkt zur Seite, der uns bei Markus (Mk 8,31–33) und bei Matthäus (Mt 16,21–23) begegnet: die Szene, in der Petrus gerade eben das von Gottes Offenbarung ermöglichte Messiasbekenntnis abgelegt hat und Jesus seinen Jüngern dann sagt, auf welche Weise er der Messias ist, nämlich durch das Kreuz. Da tritt ihm Petrus entgegen und sagt: „Also, das hast du doch schließlich nicht nötig. Du hast ja gezeigt, daß du Tote erwecken und Brot vermehren kannst. Du kannst doch alles, also komm jetzt nicht auf dumme Gedanken. Wieso sollst du dich totschlagen lassen, da hat doch niemand etwas davon. Mach es praktischer. Zwei Kniffe der Macht, und wir schlagen notfalls mit drein. Dann ist die Geschichte geschafft und du hast deine Macht. Und endlich kommt das Gute zum Sieg.“ Auch hier ist die Reaktion Jesu genau gegenteilig. Er antwortet dem Petrus: „Geh hinter mich, satanas!“ Wir können auch übersetzen: Geh in die Spur des Mir-Nachfolgens und nimm mir nicht etwas voraus. Du denkst nicht Gedanken Gottes, sondern Gedanken des Menschen. Wiederum lehnt Jesus das operationelle praktische Handeln ab, um zum Erfolg für die gute Sache zu kommen. Wiederum wird deutlich, daß er den kleinen Weg geht, den Weg der Auslieferung.

[140] Auf ähnliche Weise und doch zugleich weiterführend zeigt sich dieser radikale Gegensatz in der Bitte der beiden Zebbedäus-Söhne, wie sie uns bei Matthäus (Mt 20,20–23) und bei Markus (Mk 10,35–40) überliefert ist. Wie Petrus sind auch Jakobus und Johannes versuchbar. Interessanterweise sind es also die innigsten Jünger Jesu, die uns als die versuchbarsten im Evangelium dargestellt werden und die trotz der Nähe zu Jesus nicht vor so naheliegenden menschlich-pragmatischen Gedanken sicher sind. Die beiden Zebbedäus-Söhne wollen nun die Plätze zur Rechten und Linken Jesu im kommenden Reich. Aber Jesus fragt sie: „Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke?“ (Mk 10,38) Und die beiden denken, das sei die Bedingung, und sagen: „Ja, das können wir.“ Da bricht Jesus ab und sagt nur: „Danke, ihr könnt den Kelch trinken; aber das andere ist Sache des Vaters.“ Diese Perikope macht wieder deutlich, daß es nicht darauf ankommt, mit Jesus zu herrschen. Die Gemeinschaft mit Jesus besteht vielmehr darin, mit ihm zu sterben und so zum Vater zu gehen. Wiederum dieser Weg, wiederum diese ganz andere und neue Logik.

Schließlich finden wir immer wieder bei den Synoptikern den kleinen und unteren Weg: im Vorrang der Kinder, der Kleinen und der Letzten. Dieser Weg des Evangeliums ist der Anweg zum Kreuz, und dieser Weg der Auslieferung ist der Weg in die Herrschaft Gottes. Das Kreuz ist nicht einfach nur [141] eine Episode, die bloß hinten angehängt ist, weil es auf andere Weise nicht klappt. Das Kreuz ist auch in der inneren Logik der Synoptiker das Entscheidende im Heilsplan Gottes. In der Theologie des Lukas wird diese fundamentale Rolle des Kreuzes mit einem geheimnisvollen Wort bezeichnet, das durch das ganze Lukasevangelium hindurchführt: „dei“ – „es muß“. Es ist das heilsgeschichtliche „Muß“. Ich nenne nur eine Stelle, die dies besonders deutlich macht: „Mußte nicht der Menschensohn all das erleiden, um so in seine Herrlichkeit zu gelangen?“ (Lk 24,26) Dieses Muß zeichnet den neuen Weg: von den eigenen Plänen, von den eigenen Ideen sich hineinbrechen lassen in die Logik Gottes, in den Weg Gottes.

Nun bleibt uns noch zu fragen, wie denn in der reflektierenden und in der pneumatischen Tiefe sehenden Weise des Johannes das Kreuz erscheint. Dabei ist es übrigens immer wieder ein Abenteuer, einmal eine griechische Handkonkordanz zu nehmen und gerade bei Johannes zu schauen, wo gewisse Worte wiederkehren, und dann diese Worte und Wortfamilien miteinander zu vergleichen. Da wir bei Johannes davon ausgehen können, daß er mit Sprache nicht zufällig umging, sondern jedes Wort mit Bedacht setzte, können wir unabsehbare Entdeckungen machen und haben wir eine wahre Fundgrube vor uns. Für mich war das Nachgehen der johanneischen Kreuzestheologie bewegend. Es sind dieselben Realitäten wie bei den anderen [142] Evangelisten, aber auf eine Weise, die das Ganze in seiner letzten Gestalt herausstellt. Selbstverständlich spielt das Kreuz schon äußerlich eine zentrale Rolle bei Johannes. Aber wo können wir in das eindringen, was die spezifisch johanneische Sicht von Kreuz ist? Ich möchte drei Worte bzw. Wortfamilien hervorheben, die uns zeigen, wie er das Kreuz von innen her versteht.

Einmal sehe ich da das Wort „meizon“ – „größer“, das uns im 15. Kapitel an entscheidender Stelle gesagt ist: „Niemand hat eine größere Liebe als wer sein Leben hingibt für die Freunde.“ (Joh 15,13) Auch wenn das Wort „meizon“ ansonsten keine große Rolle spielt, ist dieses „größer“, dieses „zum Größten und Letzten Tendieren“, ein johanneischer Grundzug, der sich in vielfältiger Hinsicht bestätigt. Im Grunde geht es darum – und man kann das von innen her als eine Weise johanneischer Logik betrachten –, daß jener Begriff, den uns Anselm von Canterbury im Rückgriff auf Augustinus für die Gotteserkenntnis und Gotteslehre fruchtbar gemacht hat, hier eine neue und andere Stellung bekommt, die viel radikaler ist. Die Sicht des Augustin, die dann noch ausdrücklicher bei Anselm von Canterbury thematisiert wird, geht davon aus, daß Gott das ist – „id quo maius cogitari nequit“ –,1 „über das hinaus ein Größeres nicht gedacht werden kann“. Gott ist also das Größte, das überhaupt zu denken ist. Diese Erkenntnis besteht nun bei Jo- [143] hannes gerade darin, daß für ihn Gott jener ist, der Liebe ist und dessen Liebe deswegen – weil sie göttlich ist – so sein muß, daß über sie hinaus eine größere nicht gedacht werden kann. Die Liebe, über die hinaus eine größere nicht gedacht werden kann, ist die Gütemarke, die Gottesmarke Gottes selber.

Mit dieser ersten johanneischen Sicht vom Kreuz verbindet sich eine zweite, die eigentlich fast dasselbe zeigt. Es spielen drei Worte aus einer selben Sprachfamilie bei Johannes eine große Rolle. Diese Sprachfamilie heißt „telos“ – „Ende“ oder „Letztes“. „Da er die Seinen liebte, liebte er sie ‚eis to telos‘, ‚bis zu diesem Ende‘, ‚bis zu diesem Letzten‘.“ (Joh 13,1) Mit diesem Wort hängen zwei Worte eng zusammen, die sehr oft bei Johannes vorkommen, und zwar das Wort „telein“ und das Wort „telejoun“. „Telein“: enden oder zum Ende, bis zum Letzten führen oder vollenden, und „telejoun“: es ganz und vollkommen machen. Diese Sprachfamilie, dieses Bis-zum-Letzten-Gehen, dieses Bis-zur-Vollendung-Gehen, dieses Das-„telos“-Ausführen, ist ganz wichtig bei Johannes. So steht am Anfang der Leidensgeschichte „Er liebte sie bis zum Letzten“ – „eis to telos“. Und das letzte Wort Jesu überhaupt heißt: „Es ist ans Ende geführt“, „es ist vollendet“ – „telein“. „Jetzt ist es soweit“, „jetzt ist die Liebe in ihre letzte und höchste Gestalt eingetroffen“, oder eben „es ist vollbracht“. Und aus dem heraus verstehen wir dann auch das Wort im 17. Kapitel, daß er eben das Werk vollendet, das der Vater ihm auf- [144] getragen hat (vgl. Joh 17,4). Dieses Werk ist nichts anderes als die Mitteilung dieser Liebe, das Tun dieser Liebe, die bis zum Letzten geht. Und daraus allein erwächst das Vollkommene, nämlich daß Vater und Sohn „vollendet seien – telejoun – in der Einheit“ (Joh 17,23). Hier erschließt sich der innere Zusammenhang der Kreuzestheologie des Johannes: Die Liebe geht bis zum Ende, und dieses Bis-zum-Ende-Gehen der Liebe ist im Kreuz erreicht. So vollendet sich die Einheit, in der alles getan ist, was das Werk Gottes ist, nämlich die Liebe bis zum Äußersten zu sein.

Die johanneische Kreuzestheologie verdichtet sich noch in einem dritten Wort, in dem Wort „hypsoun“ – „Erhöhen“: In der Erhöhung bei Johannes ist in einem und demselben Atemzug vom Gekreuzigten und vom Verherrlichten die Rede (vgl. Joh 12,32). In dieser Zusammenschau bedeutet das Alles-dem-Vater-Geben und zugleich Alles-vom-Vater-her-Weitergeben eben auch Verherrlichen und Verherrlicht-Werden, so daß die innere Konsequenz dessen bis zur Auferstehung geht.

Nach diesem ersten Anweg möchte ich einige Grunddimensionen paulinischer Kreuzestheologie festhalten. Bei einem generell hinführenden Überblick zeigt sich bereits, daß das Kreuz der Knotenpunkt in der Theologie des Paulus ist. Seine Theologie, seine eigene Existenz, ja alles, um was es ihm [145] geht, basieren auf der Botschaft von Kreuz und Auferstehung. Für Paulus gehört dieses „und Auferstehung“ zum Kreuz dazu, aber gerade nicht als vertröstendes Happy end, sondern als die innere Konsequenz des Kreuzes.

Aber wie ist das denn nun bei Paulus mit dem Kreuz? Warum ist im Kreuz das Heil? Warum sind wir nicht durch die Stärke, die Macht und die Weisheit, sondern durch die Torheit und die Schwäche des Kreuzes erlöst? Für Paulus ist ganz entscheidend, daß der Mensch nicht meint, das Heil durch eigenes Entsprechen-Können – durch Leistung oder durch Werke des Gesetzes – zu erreichen. Er ist zutiefst überzeugt, daß der durch die Sünde gebrochene Mensch dies nicht schafft, sondern daß das Heil ihm nur als Geschenk von Gott her zukommt. Deswegen kann der Mensch nur dadurch gerettet werden, daß er sich in seine eigene Ohnmacht stellt. Gott ist es, der ihn rettet und das Heil wirkt, – und das wird gerade nicht durch einen Machtakt von oben offenbar, sondern dadurch, daß er niedersteigt und die Ohnmacht des Menschen teilt, daß er gehorsam wird bis zum Tod – daß er hineinsteigt in das Schicksal des Menschen und in dieser Ohnmacht als der selber Scheiternde verherrlicht wird und so uns an seiner Herrlichkeit Anteil gibt. Jesus stirbt nicht als der, der es kann, und gibt uns dann das, was er kann, sondern er stirbt als der, der die eigene Ohnmacht übernimmt und sich mit unserer Ohnmacht einsmacht und der darin vom Vater die Herrlichkeit geschenkt bekommt und sie uns weiterschenkt. Das ist jene Grunddimension der pauli- [146] nischen Kreuzestheologie, die auch seinen Grundgedanken der Rechtfertigung ausweist.

In dieser ersten Grunddimension ist aber zugleich ein zweiter Grundzug eingeschlossen, der zur paulinischen Kreuzestheologie gehört. Im Kreuz kommt Gott an jenen Punkt, der noch weiter jenseits dessen ist, was uns von Gott trennt. Die größte Distanz, die Distanz von der Hölle zum Himmel, von der Sünde zum heiligen Gott, vom Tod zum Leben, vom Nichts zum Alles, diese Distanz liegt zwischen dem Gekreuzigten und dem Vater. Und deswegen ist alles zwischen ihnen. Jesus geht dorthin, wo eben in der Tat alles über ihm ist und er drunter – „tapeinos“. Deswegen steigt er nieder und erniedrigt sich bis zum Tod am Kreuz (vgl. Phil 2,8). Und deswegen wird der Gekreuzigte zum Fluch (vgl. Gal 3,13) und zur Sünde (vgl. 2 Kor 5,21). Der Fluch und die Sünde werden Namen Jesu. Warum? Weil er sie auf sich lädt, weil er drunterbleibt und darum das, was uns von Gott trennt, zwischen Gott und Gott ist und so dieses Trennende verwandelt und überwunden wird zur Einheit.

Aus all dem ergibt sich ein dritter Grundzug paulinischer Kreuzestheologie. Wenn alles, was uns von Gott trennt, nun drinnen ist in Jesus Christus und wenn alles aufgeholt ist in seiner Kreuzeshingabe, dann ist uns im Kreuz zugleich alles geschenkt. So schreibt Paulus: „alles gehört euch, ihr [147] aber gehört Christus, und Christus gehört Gott“ (1 Kor 3,22b und 23) und: „Gott hat seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle hingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?“ (Röm 8,32) Jenes Alles, das er auf sich genommen hat, wird nun verwandelt zu diesem Alles, das uns geschenkt wird. Im Kreuz begegnen wir deshalb dem wunderbaren göttlichen Paradox, daß im Nein zu Gott das größte Ja zu Gott gesprochen ist: Gott spricht unser Ja zu uns. Im Kreuz spricht das Nein plötzlich die Sprache des Ja und gibt sich das Ja in die Sprache des Nein. Was heißt das? Eigentlich sind der Schmerz und der Tod nicht das, was Gott will. Er möchte das Leben, er möchte die Freude und die Liebe, die selig macht und nicht von sich aus weh tut. Aber wenn der andere im Schmerz, wenn der Geliebte weit weg ist, dann geht die Liebe dorthin. Sie teilt den Schmerz und die Last, auch die Sündenlast, und macht sie sich zu eigen. Und so wird das Dorthin-Gehen, wo das Nein ist, das Einsteigen in diese Welt des Nein, zum größten Ja, zur größten Liebe. Nicht in dem Sinn, daß ich sündige mit dem Sünder, aber in dem Sinn, daß ich die Last seiner Sünde zu meiner eigenen mache und mich nicht draußenhalte. Jesus Christus ist zur Sünde für uns geworden. Er ist dorthin gegangen, wo nichts anderes mehr als das Nein in ihm ist, wo er nichts anderes erfährt als dieses Nein; aber er nimmt dieses Nein aus Liebe an und wirft es hinein in den Vater. Und darin ge- [148] schieht die Übermächtigung des Nein durch das Ja. Da wird plötzlich das, was von Gott trennt, zu dem, was mit Gott verbindet, da wird das, was die Konsequenz des Gegen-Gott ist, zum reinen Für-Gott, da wird alles verwandelt in reine Liebe. Das ist im Kreuz geschehen und ist eben keine Theorie, sondern das ist Er. Wenn wir an das Kreuz glauben, wenn wir glauben, daß wir am Kreuz erlöst sind, dann ist alles anders! Es gehört in das Paradox des Kreuzes hinein, daß wir durch die Schwäche stark sind, daß wir durch die Sünde und den Fluch im Frieden sind und daß Er wirklich alles gutgemacht hat. So aber geschieht paulinisch im Kreuz Einheit. Er hat alle Trennung in sich hineingenommen und ausgehalten, Er hat das Trennende zwischen Gott und Mensch und das Trennende zwischen Mensch und Mensch eingerissen. Das ist die Kreuzestheologie des Epheserbriefs, in der Christus unser Friede ist, Friede den Fernen und den Nahen (vgl. Eph 2,17), und in der die wachsende Einheit der Kirche durch das Kreuz das Zeichen dafür ist, daß das Ende und die Vollendung der Geschichte angebrochen ist (vgl. Eph 3,21).

Schließlich komme ich zum vierten und letzten Grundzug paulinischer Kreuzestheologie, der mir persönlich sehr wichtig ist. Paulus ist richtig getroffen davon, daß es diesen Gekreuzigten gibt und daß dieser Gekreuzigte ihm begegnet ist. Er ist getroffen bis ins Innerste seines Lebens, und deswegen kann sein Leben nichts anderes mehr sein als Antwort [149] auf diese gekreuzigte Liebe. Deshalb schreibt er: „Soweit ich aber jetzt noch in dieser Welt lebe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat.“ (Gal 2,20) Dieser Punkt führt uns ins Innerste dessen, was Paulus lebt. Er führt uns aber auch ins Innerste dessen, was christliches Leben mit Jesus Christus bedeutet. Was ich zu leben habe, meine ganze Zukunft und alle meine Chancen, kann nichts anderes mehr sein als dieses eine: wenn ich so geliebt bin, dann auch Ihn zu lieben als den, der mich bis dahin geliebt hat.

Ich möchte noch einen nächsten Schritt tun und auf einer dritten Stufe die drei letzten Worte Jesu anschauen, wie sie uns in den Evangelien überliefert sind. Von da aus möchte ich mich sodann dahin vortasten, was wir auf allen drei Stufen gesehen haben und was uns nun als Tiefe des Kreuzgeheimnisses im Geheimnis der Gottverlassenheit Jesu begegnet. Aber kommen wir zunächst zu den drei letzten Worten: Bei Matthäus und Markus geht das letzte Wort auf Psalm 22 zurück: „Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mt 27,46; Mk 15,34) Bei Lukas heißt es: „Vater, in deine Hände empfehle ich meinen Geist.“ (Lk 23,46) Und bei Johannes lautet es: „Es ist vollbracht!“ (Joh 19,30) Aber hier möchte ich noch zwei Worte hinzusetzen, nämlich das vorletzte Wort Jesu: [150] „Mich dürstet!“ (Joh 19,28) und ein Wort, das Johannes – deutlicher und tiefer als die anderen Evangelisten – unmittelbar an das letzte Wort anschließt: „Er neigte sein Haupt und gab den Geist dahin.“ (Joh 19,30) Beginnen möchte ich bei Lukas. Bei ihm scheint mir tragendes Motiv die gehorsame Hingabe in das Muß Gottes zu sein, das sich gerade im gegen den Strom gehenden Vertrauen Jesu auf den Vater ausdrückt und ihn so zum Werkzeug der Barmherzigkeit Gottes macht. Im Vordergrund steht also der Heiland und Erlöser, der sich unter das Muß des Vaters beugt, in die letzte Entfernung hineingeht und so alles in Gehorsam und Hingabe verwandelt, das aber eben in diesem Vertrauen auf Gottes große Barmherzigkeit. Das Evangelium, das gewissermaßen anfängt mit dem Ja Mariens, endet mit diesem Ja, mit dem Gehorsam des Sohnes, der sich in die Hände des Vaters gibt.

Bei Johannes haben wir den einen Zug bereits gesehen, nämlich die Liebe bis zum Letzten und Äußersten. Aber worin besteht diese Liebe bis zum Äußersten? Er, der den Geist in Fülle besitzt, gibt den Geist hin. Er gibt das, was ihn mit dem Vater verbindet, hin, so daß er wirklich selber den Durst erduldet. Und das Wort „dürsten“ hat bei Johannes eine hohe Bedeutung: Es ist das Schlüsselwort in der Geschichte Jesu mit der Frau am Jakobsbrunnen (vgl. Joh 4,1–26). Die Samariterin will dort trinken, wo sie nicht [151] mehr schöpfen braucht, damit sie keinen Durst mehr hat; aber die Quelle, die in Jesus ist, bleibt hier im 4. Kapitel noch ungedeutet. Dann spielt dieses Wort vom Dürsten im 7. Kapitel eine wichtige Rolle. Jesus ruft am großen Fest aus: „Wer Durst hat, komme zu mir, und es trinke, wer an mich glaubt. Wie die Schrift sagt: Aus seinem Inneren werden Ströme von lebendigem Wasser fließen. Damit meinte er den Geist, den alle empfangen sollten, die an ihn glauben; denn der Geist war noch nicht gegeben, weil Jesus noch nicht verherrlicht war.“ (Joh 7,37–39) Und so ist das erste, was der Auferstandene nach der Auferstehung tut, daß er den Geist mitteilt – diesen Geist, den er dem Vater weggeben und neu vom Vater empfangen hat. Letztlich gibt Jesus die Erfahrung seines Durchdrungenseins vom Geist weg. Er gibt sich hinein in jene Solidarität mit unserer Geist-Losigkeit, mit unserem Des-Geistes-beraubt-Sein und hinein in diesen letzten Durst, in dieses letzte Nicht-mehr-Können, in diese letzte bedrohliche Trockenheit. So ist er bis zum Ende gegangen, ganz dorthin, wo wir sind, als der Dürstende, als der, der selber den Geist braucht.

Das letzte Wort Jesu bei Matthäus und Markus kann uns nun wie eine Zusammenfassung deuten, worum es geht. Denn wenn Jesus selbst – wie bei Paulus – zur Sünde und zum Nein Gott gegenüber wird, wenn er – wie bei Lukas – sich im vertrauenden Gehorsam unter das Muß Gottes beugt und wenn er – wie bei Johannes – selbst der Dürstende [152] wird und ihm zuletzt nur dieser heilige Durst nach dem Geist bleibt, dann bringt der elementare Satz aus dem 22. Psalm: „Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ auf unüberbietbare Weise das zum Ausdruck, was Jesus im Kreuz getan hat. Er geht nach ganz unten, er geht in die größte Entfernung zu Gott, er geht in die Erfahrung der Ferne Gottes.

Darin liegt für mich keine trinitarische Romantik des Abbruchs, sondern die innere Logik der Liebe, die Gott ist. Und in dieser Logik gibt es nichts Göttlicheres als diese Gottverlassenheit. Denn sie ist der größte Ausdruck der Liebe, sie ist am meisten Liebe und das am meisten Göttliche. Wenn Gott im Medium der Endlichkeit, wenn Gott in der Geschichte etwas wirken will, kann er unter uns nichts Größeres wirken als einfach dieses, daß er dorthin geht, wo Gott nicht ist, und daß er die reine Abwesenheit Gottes durch die sie teilende Liebe zur höchsten Nähe Gottes werden läßt. Hier gibt er uns, zu sein, was er ist; hier schenkt er uns seinen Geist; hier ist alles geschenkt. Diese Gottverlassenheit bis zum Letzten ist der Ernstfall Gottes. Wenn die Botschaft von Jesus Christus und die Botschaft Jesu Christi die Botschaft von der Herrschaft Gottes ist und wenn diese Herrschaft Gottes nach 1 Kor 15 darin besteht, daß Gott alles in allem wird und Gott alles in allem ist, dann ist er im Grunde erst dort alles in allem, wo er auch im Gegenteil von sich selber, in der größten Entfernung von sich selber alles ist.

Damit aber wird die Begegnung mit dem verlassenen Christus das, was uns jeden Tag in die größte [153] und abgründigste, staunende Anbetung und Bewunderung der Liebe Gottes zwingt. Es ist das, was uns zugleich ganz freimacht, um keine Angst zu haben. Hier wird Angst überwunden. Hier bin ich bereit, überall hinzugehen, hier ziehe ich mich nicht mehr zurück, wenn ich Ihm begegne. Hier erreiche ich jene neue trinitarische Ontologie, in der ich eine ganz merkwürdige Logik entdecke, einen merkwürdigen Kreis, der vielleicht so beschrieben werden kann: Gott ist die Liebe; Liebe ist Sich-Geben; Sich-Geben heißt Verlieren und Nichts-Werden; Nichtssein aber ist Ausdruck der Liebe, die Gott ist. Und so ist im Nichts und im Verlieren Gott die Fülle, und diese Fülle ist wiederum Sich-Geben und Sich-Verlieren ins Nichts. Dieser Kreis, dieses beständige Pascha, dieses Hinübergehen ins Nichts und durchs Nichts in Ihn, das ist unser Lebenskreis.

Die Begegnung mit dem verlassenen und gekreuzigten Christus ist eben dieser unverwechselbare Ort, an dem sich dreifaltiges Leben unserem Leben offenbart und öffnet. Wir müssen es nicht leisten und machen. Aber wir können anders auf die Abgründe in uns schauen. Was an Abgründen ist zugedeckt und wo sind wir nicht andauernd hineingehalten in Ratlosigkeiten und Ausweglosigkeiten? Auch ich weiß manches Mal nicht, wie ich umgehen soll mit den schwierigen Dingen. Auch ich habe keine gute Lösung, wenn ich nur eine schnelle Antwort geben kann und dann glaube, das sei in Ordnung so. Im Grunde stehen wir alle oft genug an dieser Grenze. Aber wir dürfen dort stehen, denn Er [154] steht dort. Wie können wir mit Ihm leben? Für mich sind drei Punkte sehr wichtig.

Das erste: Mit Ihm leben heißt, daß ich keiner Situation begegnen kann, die nicht in Ihm wäre. Ich kann keine Ratlosigkeit, keinen Abgrund, keine Schuld in mir und in anderen erkennen, die nicht Er wäre. Und so begegne ich immer Ihm – jeden Tag. Gebe ich dieser Liebe Raum, kann das Warum meines Lebens das Warum seines Sterbens werden. So gewinne ich die innere Sensibilität, zu sehen, wo Er ist, und in dieser Sensibilität kann ich Ihm nahe sein. Ich mache mich andauernd mit Ihm eins und sage: Das bist du. Als die kleine Theresia die Anzeichen des Todes sah, rief sie aus: Der Bräutigam kommt! So haben wir jeden Tag in den kleinen Dingen zu sagen: Ja, du bist da. Auf dich habe ich gewartet! Auch wenn ich einmal nicht mehr mag und kann, wenn etwas über meine Kraft geht, heißt mit Ihm leben mich dennoch fragen: Wen habe ich erwählt? Habe ich wirklich Ihn erwählt? Kann ich Gott erwählen, wenn ich nicht ihn in seiner Gottverlassenheit erwähle? Das erste also, um mit Ihm zu leben, ist, Ihn in allem zu erkennen. Das ist nicht eine falsche Mystifizierung, sondern das ist das Ernstnehmen dessen, daß Er alles geworden ist und sich zu diesem gemacht hat.

Das zweite: Mit Ihm leben heißt, wirklich zu Ihm nicht nur resignativ ja sagen, sondern dieses antwortende, dieses umarmende, dieses verliebte Ja zu Ihm sagen: Ja, du bist es. Du liebst mich! Wenn ich [155] also mein positives Ja zu Ihm sage, wenn ich da, wo es vielleicht nicht mehr geht, in diesem liebenden Ja zum Verlassenen bleibe, dann erst kann Er etwas tun.

Das dritte: Mit Ihm leben heißt hindurchgehen durch die Wunde, mich einlassen in die innere Dynamik seines beständigen Pascha, dieses Einsteigen in den Lebenskreis dreifaltiger Liebe. Dann bin ich frei, dann bin ich plötzlich im „gelobten Land“ des nächsten Augenblicks und kann in diesem nächsten Augenblick mich dem anderen frei zuwenden und frei beim anderen sein. Dies ist eben kein einsamer Weg, sondern ein Weg in Gemeinschaft. Mich verbindet das Trennendste und Beschämendste und Bedrückendste des Schmerzes und des Unverständlichen im anderen mit diesem anderen. Denn in dieser einen Verlassenheit sind alle Verlassenheiten aller Menschen und sind alle Menschen eins. Hier sagt der Vater zu mir: Du bist mein geliebter Sohn, meine geliebte Tochter. Hier sagt er zu diesem Du: Du bist mit mir. Und hier sagt er uns: Ihr alle seid eins in mir. So kann er uns seinen Geist schenken, und in unserer Mitte finden wir durch die Wunde gehend den auferstandenen Herrn.


  1. Proslogion c. 2. ↩︎