Herbert Falken, Christusbild – Menschenbild
3.
Nun aber lassen Sie mich in eine neue Ebene des Betrachtens hineingehen; sie könnte enttäuschend wirken, wenn man sie als einen pflichtgemäßen Zusatz und Nachtrag verstünde: Der Theologe kann es nicht lassen. Nein, wenn es so wäre, müßte ich es lassen; denn Theologie, die letztlich vereinnahmt, das ist Verstellung des Geheimnisses. Das ist die Gefährdung der Theologie: das Geheimnis nicht nur als Geheimnis sehen zu lassen, sondern es gleichzeitig zu verstehen. Aber wenn ich mich ins Innere, ins Innerste dieser Gestalt als Gestalt, dieses Mich-Stellens als Mich-Stellen, dieses Spiels des Ganzen im Ganzen und dieses Mich-Auslieferns ans Innerste hineinwage, dann muß ich bei Herbert Falken entdecken: das auf die Stirn gebrannte Kreuz gehört zu diesem Ich. Und ich gestehe etwas sehr Persönliches, von dem ich aber glaube, daß es über das Persönliche hinaus des Nachdenkens wert ist: ich habe in Herbert Falken meine katholische Christologie neu gelernt. Noch einmal muß ich betonen: Falken hat hier keine Lehrbilder zur Christologie entworfen, er hat keine Lehrsätze inszeniert, er hat keine Dogmen illustriert, sondern er hat mich entdecken lassen: Das ist ja das, was ich als Christ in meiner Zeit glaube.
Ich habe vier christologische Dogmen neu buchstabieren gelernt in diesen Christusbildern und auch in denen, die scheinbar keine sind.
Zunächst verstehe ich Menschwerdung neu. Im Grunde liegen die Bilder auf der Zielgeraden jenes bewegenden Pauluswortes, das für mich den Beitrag des Paulus zum Menschenbild überhaupt bedeutet: „Soweit ich aber jetzt noch in dieser Weit lebe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat.“ (Gal 2,20) Das ist zu „reif“, zu radikal am Ende gesagt, als daß der Prozeß des Ringens in diesen Bildern einfach nur diesen Satz illustriert Aber worum es in diesem Satz geht, das leuchtet auf: ich bin angenommen und ich übernehme; Jesus ist der angenommene Mensch, das angenommene Ich; ich bin der Angenommene. Gott teilt die ganze Ausweglosigkeit, Kostbarkeit, Rätselhaftigkeit meines Ich. Mein Ich wird zur Aussage des ewigen Wortes. Das ewige Wort sagt sich aus in mir; ich sage etwas aus von ihm. Was die Theologie mit dem alten Wort von der Idiomen-Kommunikation meint – man darf menschliche Aussagen von der Person Gottes machen, daß Gott leidet, daß Gott stirbt –, geht mir hier neu auf. Gott ist anzulasten, was ich vom Ich erfahre und aussage, Gott lastet sich mir auf. Gott ist ja der dem Menschen Aufgelastete, der Mensch ist der Gott Angelastete. Menschwerdung bedeutet: Er hat mein Geschick geteilt, Er läßt sich ein in meine Problematik.
Ich verstehe Stellvertretung neu. Jesus hat, so sagt es Johannes Paul II. immer wieder im Rückgriff auf „Gaudium et spes“ (Nr. 22), das Schicksal eines jeden Menschen gewissermaßen zu seinem eigenen gemacht. Theologischer Spekulation bleibt es eine fremde Frage: Wie kann einer in einer einzigen Lebensgeschichte, wie kann einer in einem einzigen Schrei seiner Gottverlassenheit, wie kann einer in drei Stunden am Kreuz die ganze Menschheit aushalten und ausleiden und übernehmen? Der Vorstellung bleibt verborgen, was das heißt. Und dennoch können uns diese Bilder – nicht von außen, sondern von innen-helfen. Hier ist ein Kranker, ein Leidender, ein Eingeblock-ter, einer, der mit dem Engel ringt, dar-gestellt Und ich verstehe plötzlich: da bin ich drinnen, und zwar nicht nur in einem Bild, sondern ich suche überall den, der wirklich meinen Jakobskampf so führt, bis daß ich gesegnet und bis daß ich verletzt sei und diese Verletzung annehme. Er für mich, alles in Einem. Die Stellvertretung, das Allgemeine, das Gemeinsame ist kein logisches Konstrukt, sondern das geht nur mit und in der radikalen Auslieferung bis zum Letzten auf. Das wird offenkundig, wo Menschen Stellvertretung bis auf das Blut übernehmen und, wie [9] [Bild: Herbert Falken Wurmvogel Kreuz, 12. Station des Schevenhütter Kreuzweges, Tusche, Pastell, 43x30 cm, 1985] [10] Maximilian Kolbe, sich ganz und gar in die Bresche werfen für einen anderen, in seinem eigenen Tod, in diesem Sein-ganzes-Leben-Einsetzen und Ins-Spiel-Bringen wird das Ganze anders und wird das Ganze übernommen. Auch in-dem ein Künstler – das ist sein theologischer Rang – sich den Pranger seiner eigenen Bilder stellt, sich ausliefert in jener Gestaltung, sich preisgibt an andere, auch darin liegt Stellvertretung.
Ich habe neu Pascha halten, Kreuz und Auferstehung neu entziffern gelernt. Ich muß Ostern nicht verschweigen, weil es gerade nicht das glückliche Ende eines verharmlosten Todes ist, sondern Ostern ist hier erscheiterte Erlösung: Erlösung – aber erscheitert. Gelingen muß immer erscheitert werden; Erlösung muß erscheitert werden. Wenn nicht alles eingesetzt und weggegeben, wenn nicht alles preisgegeben ist, wenn nicht der letzte Tropfen Blut ausläuft, wenn nicht die letzte Reserve meiner Verbindung mit dem Vater weggegeben, ihm zur Disposition gestellt ist, dann bin ich nicht ganz in der Liebe, die mich erlöst und die bis zum Letzten, eis to telos, geht. Und gerade dieses Äußerste läßt jener erahnen und bezeugt es, der sich auch in seinem Gestalten bis in dieses Innerste, bis in die Dornenkrone seines Gehirns hineingibt, der sich unter den Balken stellt, der sich in den Block spannen läßt, der sich aufsprengen und zermalmen laßt, so daß seine eigene Form zerfließt. Der Erstarrte und Zerflossene ist jener, der uns Auferstehung erscheitert hat. Und nur so, in diesem ganz konkreten, unmittelbar einmaligen Ge-Meinen geschieht eben jenes Allgemeine und jene Erlösung, die in Gott bereits geborgen ist und deren Größe und Geheimnis immer wieder durch die be-geisterte Gestalt durchscheint, durchstrahlt, die hier gelang.
Noch etwas habe ich neu erfahren: das vielleicht geheimnisvollste Dogma, das dem Menschen von heute am meisten entrückt erscheint, den Glaubenssatz von dem Wort, das von Anfang an war und das bei Gott war, und das als Wort sagt, daß dieser Gott Liebe ist. Nichts scheint fremder, nichts weiter weg von den Bildern Herbert Falkens als eine metaphysische Aussage, die spielen kann mit den Ewigkeitstiteln des Logos. Und sicher ist der scheinbar sonnige Satz, daß Gott die Liebe sei, nicht jener, der einem spontan einfällt, wenn man auf die Bilder von Herbert Falken schaut. Aber sehen wir tiefer hinein, nicht nur in die Bilder, sondern auch in die Dogmen und Sätze. Wenn hier Form gelingt, wenn hier Gestalt mich trifft, wenn ich hier der Angerührte, Gesegnete, Verletzte bin, begegne ich dem Wort, das nicht ich schaffe, sondern das mich schafft. Und dann sucht er, der so malt und uns so begegnet, dieses Wort; er sucht in seinem Ihn-nicht-Loslassen dieses Wort in Ihm, in diesem Er, in Christus. Es gibt kein anderes Wort; es ist das erste, da-hinter ist nichts anderes mehr und alles ist von dort. Dieses Wort ist nicht verfügbar, es spricht nur, wenn ich mich ins Spiel, ins erscheiternde Gelingen einlasse. So, nur so, ist es wirklich das Wort. Und so darf ich in diesen erlittenen Bildern doch den Glanz jener Erlösung sehen: Menschsein ist kostbar; das Schreckliche muß getragen werden; es lohnt sich, weil darin ein Wort mir zuwinkt, das einfach sagt: ja, du darfst und du sollst, lebe, wage. Also doch, ganz leise, ganz keusch: Gott ist Liebe.
So ist diese Christologie ganz in jenem Spiel des Gevierts zwischen Ich und Er und Menschheit und Gestalt. Das ist für mich die Botschaft Herbert Falkens.
Und ich möchte noch drei Worte hinzufügen: zwei zur Ermutigung an ihn und eines der Perspektiven an uns.
Ich möchte Ihnen, lieber Herbert Falken, sagen: Gebier Ihn, dann gebiert Er dich. Wage diesen Geburtstod immer wieder. Entdecke, daß Tod und Geburt, Pascha und Inkarnation auf merkwürdige Weise dasselbe sagen. Und wenn Er nicht da ist und wenn es nicht geht, tu es trotzdem, lebe! Gestalte! Bleibe dabei! Gebier Ihn, erstirb Ihn, dann gebiert Er dich und erstirbt Er dich.
Das Zweite ist eine Notiz, die an einer Seite der Aussteilung steht, dort, wo der Mensch im Block nach dem Engel fragt. Suche den Engel im Block. Der Engel kommt. Nicht von außen oder nur so von außen, daß er hineinkommt und drinnen ist. Der Logos ist drinnen, da drinnen. Es ist nicht Selbsterlösung, wenn es den ganzen Einsatz kostet, sondern in diesem Alles-Einsetzen ist Er mit dabei Suche den Engel! Suche ihn in deinem Block!
Und uns möchte ich sagen, daß auf diese Weise es keine lyrische oder pathetische Überspielung unserer Wirklichkeit ist, sondern daß es ein Weg, ein sehr nüchterner, realer, eigener, personaler Weg sein kann, den wir mit-einander wagen, wenn diese nächsten Tage unter dem Licht stehen, das gera-de aus dem Dunkel in Jerusalem an-gezündet wird (Vgl. das Leitwort der Aachener Heiligtumsfahrt 1986: „Auf, werde Licht, Jerusalem!“, Jes. 60,11). Und wenn diese Tage immer und immer wieder in den leidenschaftlichen und personalen Ruf einmünden: Dein Reich komme!
[11] [Bild: Herbert Falken, Studie zum Turiner Grablinnen III, Graphit, 200x110 cm, 1973]