Dein Herz an Gottes Ohr

[146] „Wende ab von uns deinen Zorn!“

Wenn wir aus den Psalmen, aber auch aus dem Beten der Christenheit die klagende Frage herausstrichen: „Warum entbrennt dein Zorn gegen uns?“ oder die Bitte austilgten: „Wende ab von uns deinen Zorn!“ – dann ginge uns der Originalton der glühendsten Hinwendung des menschlichen Herzens zu Gott verloren. Und doch ist diese Rede vom Zorn Gottes uns arg fern und fremd.

Es gibt keine zwei Feuer in Gott, die Liebe und den Zorn, es gibt nur ein Feuer: die Liebe.

Daß er, der die Liebe ist, auch das Recht hat, daß diese Liebe als Zorn entbrennt, das wollen wir nicht entschuldigen, verharmlosen, wegerklären. Wenn ich einen ganz und gar liebe, dann darf ich mir seiner sicher sein – aber diese Sicherheit ist nicht ein Vorgriff, der ihm das Recht nähme, je neu und anders aufzugehen. Liebe zu dem, der liebt, darf ihn nie zum Objekt machen, über das ich heimlich verfüge, das ich berechne und gebrauche. Gott Gott sein lassen, Gott glauben, daß er, was immer er tut, die Liebe ist – und wenn seine Liebe als das Gegenteil erscheint, ihn einfach darum bitten, daß er seine Liebe wieder als Liebe zeige: das fällt uns nicht leicht. Und doch führt kein Weg daran vorbei, wenn Gott uns eben Gott und wenn seine Liebe uns nicht [147] Beruhigungsmittel, sondern unbegreifliche und unverdiente Zuwendung des göttlichen Gottes sein soll.

Zwei Grunderfahrungen vom Zorn Gottes überliefern uns die Beter.

Die eine, hauptsächliche, ist der Zorn Gottes gegen jene, die sich selbstsicher und selbstherrlich erheben. Sie leben so, als sähe Gott ihr Treiben nicht, und darum scheuen sie sich nicht, den Armen und Schwachen zu bedrücken. Entweder verfallen sie in die offene Gottlosigkeit und in die dreiste Verhöhnung Gottes – oder sie halten äußerlich den Kult aufrecht, aber Gebet und Opfer sind ihnen Formsache, sie scheuen sich nicht, mit ihnen ihr liebloses Verhalten gegen den Nächsten zuzudecken. Zorn Gottes, das ist Zorngericht, welches die Wahrheit offenlegt. Gottes Wahrheit ist Liebe, aber nur die Liebe kann sie als Liebe erkennen. Und wo sich der Mensch gegen die Liebe zu Gott und zum Nächsten sträubt, da ist er nicht in der Wahrheit, und die Wahrheit Gottes, die Liebe ist, richtet und entlarvt ihn. Wenn das Kartenhaus seiner Selbstgerechtigkeit zusammenbricht, vielleicht ist dann noch die Stunde, neu anzufangen, der Liebe liebend zu antworten. Zorn wird zur Chance, sich doch noch der Erfahrung der Liebe zu öffnen.

Darum beten, daß Gott ablasse von seinem Zorn, das ist dann entweder das Beten dessen, der das Gericht Gottes verstanden hat und sich zum neuen Anfang rüstet – oder es ist das Gebet des Gerechten für den anderen, der in die Krisis durch Gottes Zorn geraten ist, und in diesem Beten stützt die Liebe des Betenden diesen anderen, auf daß ihm Besinnung [148] und Umkehr geschehe. Zwischen dem zornigen Feuer der Liebe Gottes und der liebenden Glut der Fürbitte eröffnet sich ein neuer Raum, in dem Gottes Liebe als Liebe aufgehen und der Mensch, der gefallen und bestraft ist, dieser Liebe neu vertrauend sich nahen können soll.

Da gibt es aber auch die andere, leisere, doch nicht weniger wichtige Erfahrung: Zorn Gottes als Prüfung für den Gerechten. Das ist nicht ein grausames Spiel dessen, der die Treue und Güte des Menschen erproben will. Es ist vielmehr das Offenlegen des innersten Herzensgrundes, die Entblößung der Seele von allem, was sie zudeckt, so daß sie ihr Innerstes noch nicht Gott hinhält und in diesem Innersten noch nicht Gott aushält. Reinhold Schneider spricht einmal von der „unerbittlichen“ Barmherzigkeit Gottes. Wen er liebt, den fordert er heraus zur ganzen Liebe – und in dieser Zuneigung seiner ganzen und so gerade übermächtigen, über-fordernden Liebe gewinnt diese mitunter den Charakter des Sturmes und der Glut, die bis ins Innerste schmerzen, die brennen, als wären sie Zorn. Hier darf der Mensch beben und zittern, weinen und flehen, hier darf er für sich selber es rufen: „Herr, wenn es möglich ist ...“, „Herr, laß ab!“ Doch in diesem Rufen und Weinen wächst, mitunter kaum mehr hörbar für den Betenden selbst, die Bereitschaft: „aber nicht mein Wille, sondern der deine!“

Uns steht es nicht zu, darüber zu urteilen, warum Gott gerade diesen Weg wählt. Und oft genug, wenn Gott diesen Weg wählt, weiß der Mensch nicht mehr, ob es das Zorngericht der gerechten Strafe oder die Prüfung seiner Liebe ist. Aber auch hier gibt [149] es etwas wie einen innersten Frieden der Seele, die zermartert und ihrer selbst ungewiß dieses Eine oder besser dieses doppelt Eine nicht widerruft: Gott, du bist mein Gott – und daß du mir zürnst, ist Liebe.

Liebe nicht mehr erfahren, sondern nur noch ganz bloß und nackt glauben, heißt, eins mit dem Schrei der Gottverlassenheit Jesu Gott die reinste Liebe schenken, aber auch seine reinste Liebe empfangen. Daß Gottes Geist in uns in jener Stunde bete und uns trage!

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Es ist gewiß bedenklich, wenn es uns heute nur noch schwer gelingt, mit „Gottes Zorn“ zu leben, will sagen: darum zu beten, daß Gott uns von seinem Zorn verschone, seinen Zorn von uns abwende. Aber vielleicht ist uns etwas anderes und diesem anderen dasselbe umso tiefer geschenkt: Leben in diesem Schrei der Gottverlassenheit Jesu und in ihr mit dem Sohn im Geiste beim Vater.