Geistliches Wort – Aachener Vaterunser*
[143] Von allen Wänden schaute es uns an, aus allen Ecken ertönte es, wir selber haben es immer wieder gebetet: „Dein Reich komme!“. Wird dieser Ruf nun wieder verklingen? Gehen wir morgen abend oder übermorgen zur Tagesordnung über?
Ja, hoffentlich. Aber zu einer Tagesordnung, in der genau das weitergeht und mit uns geht: „Dein Reich komme!“.
Dieses Leitwort hat eine einzigartige Chance, sich zu übersetzen in unseren Alltag, in unser Leben. Sehr viele von uns beten jeden Tag einmal das Vaterunser. Es ist das Grundgebet der Christenheit, die „eiserne Ration“ des Glaubens, das, was uns auch dann noch begleitet, wenn sonst vieles sich abgeschliffen hat.
Und jedesmal, wenn wir das Vaterunser sprechen, dann kann etwas von dem wieder aufleuchten, was uns hier angerührt hat, was hier in uns aufgebrochen ist. Ein Hauch von seinem Reich, ein Wehen des Geistes, den Jesus in die Welt gebracht hat – das ist in diesen Tagen doch über alle Kontroversen und Spannungen hinweg spürbar geworden, dem haben wir uns doch nicht verschließen können. Eine Saite unseres Innersten ist in Schwingung geraten – und diese Schwingung kann weitergehen, wenn das Wort uns wieder über die Lippen geht: „Dein Reich komme!“.
[144] Vielleicht lernen wir das Vaterunser herausheben aus dem Trott einer bloßen Gewohnheit, aus dem ungefähren Dunst einer bloßen Stimmung, aus der scheuen Zurückhaltung, die zwar nicht aufgibt, es zu beten, aber auch nicht wagt, sich seiner wuchtigen Härte ganz auszusetzen. Es ist das Reich des Vaters, der uns Hoffnung gibt, der uns verbindet und uns den Horizont eröffnet über das hinaus, was wir machen und erreichen können: Vater unser im Himmel.
Es ist das Reich, in dem wir nicht namenlos, nicht anonym bleiben und in dem die andern es nicht bleiben können; denn wir reden den Vater an bei seinem heiligen Namen und er spricht uns bei unserm Namen an: Geheiligt werde dein Name. Es ist das Reich, das nicht in die Erinnerung an eine ferne Vergangenheit entschwebt, sondern über alle Ängste und Nöte hinweg uns Zukunft verheißt: Dein Reich komme! Es ist das Reich, in dem auch hier, auf Erden, ein Wille in uns lebt und treibt, der stärker ist als die Sachzwänge, die uns beherrschen, oder die lähmende Traurigkeit, die uns müde macht. Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden. Es ist das Reich, in dem unser Habenwollen und unsere angsthafte Sorge nicht das letzte Wort haben, unser Egoismus nicht bei sich stehenbleiben kann: Brot für diesen Tag, Brot auch für andere – neuer Stil des Lebens, neue Hoffnung des Lebens für die Vielen wachen auf: Unser tägliches Brot gib uns heute.
Es ist das Reich, in dem wir nicht gekettet bleiben an unsere eigene Vergangenheit und uns nicht vergraben in der Unerbittlichkeit, die sagt, sie könne nicht vergessen, im Grunde aber kann sie nicht vergeben. Nein: Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
Und in all den Bedrängnissen und Verführungen, in den Parolen und Ideologien, die uns umwerben, können wir doch auf den schauen und dem vertrauen, der mit uns geht: Führe uns nicht in Versuchung.
Ja, nicht die Verhältnisse, nicht das Böse, nicht der Böse sind stärker als wir, sondern es gibt einen, der uns liebt bis zum Tod, und er hat in seinem Tod das Gute siegen lassen, das Reich des Vaters heraufgeführt. Erlöse uns von dem Bösen.
Möge jedem von uns das Vaterunser immer neu zum Weggeleit, zum Hoffnungszeichen, zum Impuls für die Zukunft werden, sooft wir es beten, sooft es unser Leben streift.
Aber vielleicht könnte es noch unmittelbarer und eingreifender geschehen, daß in den Vaterunser-Minuten unseres Tages Aachen und sein Auftrag, seine Gnade weitergehen mit uns. Vielleicht können wir es einfach so tun, daß wir bei dieser Vaterunserbitte: „Dein Reich komme!“ jeweils drei Atemzüge nehmen. Einmal verharren wir einen Atemzug lang beim Wörtchen „Dein“. Nicht ich, sondern Du, nicht mein Wille und meine Ehre, sondern Dein Wille und Deine Ehre sind entscheidend. Aufbruch vom Ich zum Du: Dein.
Und dann einen zweiten Atemzug für das Wort „Reich“. Gott ist nicht Gedanke, sondern Gott ist mächtig; Gott ist wirklicher, wichtiger, mächtiger als wir, als alles andere. Ja, Gott, wirklicher, wichtiger, mächtiger – das ist sein Reich. Und schließlich der dritte Atemzug: „komme“. Wenn jemand anklopft, dann sagen wir: „Herein!“ [145] oder „Ja, bitte!“. An jedem Tag, in jeder Stunde, in denen wir das Vaterunser beten, klopft Gott selber an. An jedem Tag, in jeder Stunde lassen sich seine Klopfzeichen hören. Der Nächste, der uns anschaut, der Schmerz, der uns trifft, die Aufgabe, die uns gestellt ist, der Augenblick, den es zu leben und zu erfüllen gilt – es ist sein Augenblick. Herein, Du bist willkommen, komm!
Wenn jeder von uns es jeden Tag einmal sagt: Dein – Reich – komme!, dann geht der Katholikentag weiter.
Bilden wir sie, die Vaterunser-Kette, die uns alle verbunden hält. Stoßen wir sie an, die Vaterunser-Bewegung, die über den Augenblick hinausträgt, und die Zukunft wird ihren Anfang, wird ihren Weg, wird ihren Rhythmus haben: „Dein Reich komme!“.