Wie im Himmel so auf Erden?*

I.

[59] Gehen da zwei Freunde durch Berlin. Zum Katholikentag wollen sie nicht. Aber das Wort springt ihnen ins Auge: „Wie im Himmel so auf Erden“. Fragen werden laut. Etwa: Woher wollen die wissen, wie es im Himmel ist? Und wenn sie es wüßten: wie [60] wollten sie den Himmel auf die Erde bringen? Wie im Himmel so auf Erden – heißt das: wie im Himmel so in Berlin? Dann aber müßte auch gelten: wie im Himmel so in Peking, in Soweto oder in den Slums von São Paulo. Und ist das nicht Zynismus? Das Wort „Wie im Himmel so auf Erden“ erscheint so wie ein Tischtuch, das die beiden Enden, Himmel und Erde, doch nicht zusammenbringt.

Anderen kommt anderes in den Sinn bei diesem Wort: Wie im Himmel so auf Erden. Erinnerungen tauchen auf, Bilder vom 9. November 1989 in Berlin. Sie sind Jahrhundertbilder geworden, gemeinsam mit ähnlichen Bildern aus Städten unserer Nachbarn im Osten und Südosten. Jener Augenblick unserer jüngsten Geschichte wird lebendig, der vielen wie ein Wunder erschien.

Doch festhalten kann man solche Augenblicke nicht. Wenn man aus ihnen ein Programm machen will – „Wie im Himmel so auf Erden“ –, dann führt das nur wieder in die Enttäuschung: Tischtuch, zu kurz, um Himmel und Erde zu einen.

II.

Trifft das eigentlich auch uns Christen? Ich glaube: nein. Morgen feiern wir Christi Himmelfahrt. Da geht es um einen, der einmal und für immer Himmel und Erde miteinander verbindet. Wie im Himmel so auf Erden – das ist für uns Christen nicht ein Slogan, sondern eine Person. In der freiesten Tat der Menschheitsgeschichte ist Jesus Mensch geworden. „Für uns Menschen und zu unserem Heil ist er vom Himmel gekommen“, sagt das große Glaubensbekenntnis. Er wollte einer für uns und mit uns sein. Er hat mein und dein und eines jeden Menschen Schicksal sich zu eigen gemacht. Er ist durch den Tod hindurchgegangen und hat uns, unser Leben, unsere Zukunft in den Himmel getragen. Und nun sind in ihm Himmel und Erde für ewig eins. Aber dieser Jesus ist doch weggegangen von der Erde, und so scheint die Gleichung „Wie im Himmel so auf Erden“ noch einmal nicht zu greifen.

Im Alten Testament gibt es den bildstarken Bericht von der Aufnahme des Propheten Elija in den Himmel. Emporsteigend, wirft er seinen Prophetenmantel zur Erde. Dieser fällt seinem Schüler Elischa zu und gibt ihm Anteil am prophetischen Geist. Jesus hat uns mehr zurückgelassen als nur einen Mantel. Er hat seinen Geist in Fülle ausgegossen auf die Erde. In diesem Geist entdecken wir: Jener, der unser menschliches Herz ins Geheimnis Gottes emporgetragen hat, ist bei uns geblieben. Er lebt in unserer Mitte. In ihm ist der Himmel geerdet.

III.

Wie aber können wir den Himmel erden?

Blicken wir nochmals auf die Bilder vom 9. November 1989. Was ist damals passiert? Mir scheint, die Ereignisse haben vier Namen in den Himmel jener Nacht geschrieben.

Der erste Name heißt Freiheit. Menschen erfuhren: Das Unglaubliche geschieht, die Verhältnisse können sich ändern. Ich kann heraus, heraus in einen offenen Raum.

Dieser Überstieg ging aber nicht ins Halt- und Uferlose. Der zweite Himmelsname [61] lautet: Begegnung. Menschen, die sich nicht kannten, erfuhren: Wir haben aufeinander gewartet. Raum der Freiheit, das ist nicht leerer Raum, sondern offener Raum, Raum in dir für mich, Raum in mir für dich.

Doch es blieb nicht bei unverbindlicher Sympathie. Der Himmel der Begegnung hob nicht ab von den irdischen Nöten und Bedürfnissen. Man verstand: Die Mauer des behäbigen Habens muß einbrechen. Das Meine ist dein, das Deine ist mein. Leben teilen heißt der dritte Himmelsname.

Und so öffnet sich sogleich der vierte, es ist ein Doppelname: Himmel zwischen unsHimmel über uns. Der Himmel zeigte seine Spur in neuen Beziehungen zwischen den Menschen. Aber er verlor nicht an Höhe. Aus den Herzen – nicht nur der Frommen – stieg etwas wie Dank und Lobpreis zu ihm auf. Viele spürten: Nicht ein berechnender Menschenplan oder ein verfügender Menschengriff zog den Himmel in ihre Mitte; es war ein Geschenk von oben, ein Anruf von oben. Freunde, die dabei waren, berichteten mir vom Wenzelsplatz in Prag, und es liegt in der Linie vieler Erfahrungen auch von Friedensgebeten in Städten der DDR: Menschen, die zuvor nicht zu beten wußten, stimmten ein in den Chor: „Vater unser im Himmel, ... dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden.“

IV.

Hier haben wir die entscheidende Stelle erreicht. Es gibt einen Willen, der stärker ist als die Verhältnisse. Er ist stärker auch als unser so oft launischer, gewalttätiger oder gebrechlicher eigener Wille. Es ist der Wille des lebendigen Gottes. Und dieser Wille Gottes lebt in dem Jesus, der unsere Erde in den Himmel der Zukunft trug und mit seinem Geist zugleich den Keim dieses Himmels auf die Erde warf. Wenn wir aus eigener Kraft Erde und Himmel verbinden wollen, dann bringen wir es höchstens bis zum Turmbau von Babel. Die Menschen verstanden sich nicht mehr, ihre Sprache verwirrte sich, ihre Wege trennten sich. Wo wir aber miteinander beten: „Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden!“, wo wir miteinander versuchen, in der Spur dieses Willens zu gehen, da ist Hoffnung. Und dieser Hoffnung können die vier Namen, die wir am Geschehen jenes 9. November ablasen, die Himmelsrichtungen weisen.

Um Freiheit geht es. Ist sie schon da, weil die Mauer weg ist? Haben wir sie, wenn wir alles haben können? Wenn wir ihrer zu sicher sind, droht sie in neue Abhängigkeiten hinein verspielt zu werden und im Geflecht verengter Interessen und Ansprüche erstickt zu werden.

Um Begegnung geht es. Aber wie geht Begegnung? Kommen wir über Mißtrauen, Vorurteile, Rechthabereien hinaus? Wird uns der neue Stil gelingen? In unseren Gemeinden und Bistümern, zwischen der Kirche hier und der Weltkirche, im ökumenischen Dialog? Und ich muß hier genauso erinnern an die Fremdheiten und Spannungen in unserer Gesellschaft: zwischen Frauen und Män- [62] nern Jungen und Alten, Ausländern und Deutschen, zwischen solchen, die Arbeit suchen, und solchen, die Arbeit haben.

Ums Teilen unseres Lebens geht es – und damit um den menschheitlich solidarischen und schöpfungsbewußten Umgang mit unserer Erde. Weiten wir den Kreis solchen Teilens wirklich aus auf unsere ganze Nation, auf Europa in Ost und West, auf die unteilbar eine Welt? Täten wir es nicht, so hieße das unsere eigene Situation verkennen. Einheit wird uns etwas kosten und darf uns etwas kosten. Ich mag nicht das „Germania docet“, das Besserwissen- und Besserkönnenwollen, das man uns Deutschen nachsagt. Aber in einem Punkt sollten wir die Vorreiter sein: im Einstehen für den untrennbaren Zusammenhang zwischen der Einheit unseres Landes und Europas und dem Einsatz für eine geeinte Welt.

Um den Himmel zwischen uns und um den Himmel über uns geht es. Viele glauben nicht mehr an den Himmel über uns. Ihre Erfahrung steht dagegen. Sie können nicht glauben, wenn sie nicht den Himmel zwischen uns finden. Den aber finden sie nur dort, wo wir dem Herrn in unserer Mitte Raum geben. Dem Herrn, der das Kind in unsere Mitte stellt und der sich uns in den Ärmsten und Geringsten zu erkennen gibt.

Dieser lebendige Christus unter uns reißt unseren Blick nach oben, wo er beim Vater ist. Sein Wille allein gibt uns Kraft und Maß für unsere Gegenwart und zugleich Hoffnung auf die Zukunft, die nur Gott schenken kann: neuer Himmel, neue Erde.

Wo wir heute lesen „Wie im Himmel so auf Erden“, stand vor einem Jahr als Leitwort des Evangelischen Kirchentags geschrieben: „Unsere Zeit in Gottes Händen“. Beide Worte gehören zusammen. Gott hat unsere Zeit in seine Hände genommen. Sein Wille hat uns eine neue Gegenwart geschenkt. Und nun nimmt sein Geschenk uns in Pflicht. Unsere Zeit in Gottes Händen – ja. Aber auch: Gottes Zeit in unseren Händen. Sein Wille soll geschehen – durch uns. Im Achten auf diesen Willen Gottes sind wir gewiesen, in unserem Beten und Gespräch, in unserem Planen und Bauen die Himmelszeit in unsere Erdenzeit einzulassen, die Himmelszeichen auf unserem Erdboden aufzurichten, dem Himmelslicht in unserem Erdenhaus die Fenster zu brechen: Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden. Dazu haben wir uns versammelt, damit wollen wir beginnen, hier und jetzt bei diesem 90. Deutschen Katholikentag in Berlin.

V.

Viel haben wir uns vorgenommen, viel ist zu tun. Viel, aber nicht vielerlei. Es gibt für den Willen Gottes wie im Himmel so auf Erden ein einziges Schlüsselwort. Es heißt: Liebe. Jesus hat uns ein Gebot, das neue und neumachende Gebot hinterlassen: „Liebt einander, wie ich euch geliebt habe.“ (Joh 13,34) Nur diese Liebe macht frei. Nur diese Liebe schenkt Begegnung. Nur diese Liebe teilt Leben, so daß es vermehrt und nicht verbraucht wird. Nur diese Liebe öffnet den Himmel zwischen uns und über uns.

Nach dem Katholikentag gehen die zwei Freunde wieder durch Berlin. Die [63] Transparente sind eingeholt und die Plakate entfernt. Werden sie es dann an unseren Gesichtern, an unserem Handeln ablesen können: Wie Himmel so auf Erden?