Leben aus der Einheit

[15] Die Frage nach der Einheit – Zeichen unserer Zeit. Eine christliche Alternative: Erweiterung des neuzeitlichen „Ich denke”

Leben aus der Einheit: Dieses Thema geht mir nahe, hat mit meinem Leben zu tun und geht weit über ein bloß intellektuelles Gedankenspiel hinaus. Wenn ich es ernst nehme, ist es die Grundlage meiner und unserer christlichen Existenz, die Grundlage unseres Glaubens und Lebens. Ich bin überzeugt, es ist das Thema heutiger Zeit und so bedeutsam wie wenige andere.

Aber über den Bezug von Einheit und gelebtem Leben können wir nicht nachdenken und sprechen, ohne ihn auch zu leben. Leben kann ich ihn nicht irgendwann später einmal, sondern nur jeweils im Jetzt. Jetzt muß Leben aus der Einheit Wirklichkeit werden zwischen uns, damit Kirche heute, damit Leben heute und damit Menschsein heute geht. So lade ich die Leserin und den Leser ein, mitzudenken, mitzugehen und mitzuleben.

Ich habe eine Bitte: Leben aus der Einheit braucht von vornherein einen neuen Umgangsstil. Ich will niemanden mit diesem Thema vereinnahmen, und es darf mir nicht darum gehen, wie wunderschön der Leser meine Gedanken findet und wie gut ich damit ankomme. Aber genauso möchte ich ihn ein- [16] laden, seine Erwartungen einmal zu überprüfen. Erwartungen zu haben, ist ganz normal und richtig. Ohne Erwartungen gäbe es kein Interesse, und ohne Interesse geht Leben aus der Einheit nicht. Erwartungen können unerfüllt bleiben, und auch Enttäuschung ist möglich. Aber wenn wir uns – wie so oft in Kirche und Gesellschaft – auf unsere Erwartungen fixieren, dann geht nichts mehr und passiert zwischen uns nicht die Einheit, die heute so notwendig ist. Ich habe meine Erwartung so und ich bitte die Leserin und den Leser, ihre Erwartung so zu haben, als hätten wir sie nicht, damit nicht das vergeht, worum es nun geht (vgl. 1 Kor 7,29–31). Bringen wir unsere Erwartungen so mit, daß etwas passieren kann. Nur wenn wir uns einander im eigenen Denken und im eigenen Leben auf Veränderung hin aussetzen, wird innerlich und äußerlich ein Weg möglich, der uns so angeht, daß dadurch die Weise zu sprechen, zu hören, zu denken und zu leben eine andere wird. Leben aus der Einheit geht uns an – nicht so, daß wir nun äußerlich ein andauerndes Gespräch miteinander führen müßten, aber eben so, daß ein andauerndes Gespräch wir sind.

Meine Bitte hat ganz elementar mit unserem Thema zu tun. Sie unterscheidet sich vom so oft in Kirche und Gesellschaft erfahrenen Umgangsstil. Oft genug zählen im Gespräch nur die Worte mit den stärksten Reizeffekten. Oft ist die Angst da, daß andere mir etwas wollen, und man zieht sich zurück, um sich zu schützen. Oft messen wir alles nur [17] daran, ob andere unsere Position mit vertreten oder nicht. Es ist unselbstverständlich in unserer Zeit und in unserer Welt, sich einander auszusetzen, sich positiv aufeinander einzulassen und sich so zu öffnen, daß verbindendes Miteinander geschieht. Aber warum geht es mir denn so nachdrücklich um Einheit? Warum ist Einheit für mich das elementare und entscheidende Thema unserer Zeit?

Ich möchte einige Zeitzeichen nennen, die auf dieses Thema hinweisen. Fast geniere ich mich, eine Liste heutiger Probleme vorzulegen, die allzu bekannt ist. Aber ich wage es, weil sich daran in frappierender Weise zeigt, wie unterschiedliche Probleme unserer Zeit eigentlich Probleme nicht gelungener Einheit sind. So möchte ich nun ganz beliebig aus einer viel längeren Liste einige Zeitzeichen auswählen, um damit etwas zu markieren, was dann später als Phänomen unserer Epoche tiefer anzuschauen und zu bedenken ist und was von hier aus sich als die Herausforderung an eine christliche Lebensweise heute zeigt.

Ein erstes Stichwort heißt: unsere Schöpfung. Manchmal wird heute viel zu viel über unser Verhältnis zur Natur geredet, und manchmal wird es viel zu selten genannt und bedacht. Wir dürfen einerseits nicht heimlich wieder zu einem Götzendienst der Natur oder zu einer Angst vor der Natur kommen und andererseits nicht zu einer Ausbeutung, in der sie ihre Eigenwertigkeit und ihr Recht verliert. Wie kann Schöpfung bewahrt werden und wie können wir sie menschengerecht gestalten? Wir [18] stellen in unserer Zeit erstmals fest, wie sehr die ganze Welt tatsächlich so etwas wie ein Solidarverbund aller Geschöpfe ist. Denn was irgendwo mit Schöpfung geschieht, hat Rückwirkungen auf alle. Die Menschheit als ganze ist angewiesen auf die Ressourcen der Schöpfung. Und nur wenn die Einheit zwischen Menschheit und Schöpfung uns gelingt, werden wir unserer Welt gerecht. In einer mehr und mehr technisierten Welt wird Schöpfung immer weniger erfahren, und doch ist nichts so dringend, wie die Einheit der Schöpfung zu wahren.

Ich greife ein zweites Problem unserer Zeit heraus: Ehe und Familie. Mich bedrückt es ungeheuerlich, daß die dichteste menschliche Gemeinschaft so brüchig geworden ist. Beschwörende Worte helfen hier wenig, um etwas dagegen zu tun. Ich kann dieses Problem nur lösen, wenn ich mich frage, was geschehen ist. Wir leben in einer Zeit, in der es kaum noch Institutionen gibt, die den Menschen und auch die Institution Ehe und Familie stützen und schützen können. Ehe und Familie hat nicht mehr ihren Ort – wie einst einmal – in größeren Lebenszusammenhängen, die in konzentrischen Kreisen das Familienleben entlasteten. Heute kommt oft die ganze Wucht personaler Beziehung auf zwei alleine zu, ohne daß wirklich Dritte oder Vierte da sind. Die Welt hat sich so verändert, daß darin die Lebensbedingungen für Ehe und Familie überaus schwierig sind. Aber wie problematisch ist es für eine Gesellschaft, wenn die kleinste Zelle menschlichen Zusammenlebens nicht eine neue Einheit fin- [19] det. Es ist dringend notwendig, heute nach gelebter Einheit von Ehe und Familie zu suchen.

Ein anderes Problem ist das Leben des einzelnen. Gelingt heute noch so etwas wie Identität mit sich selbst? Schaue ich nicht in ein fremdes Gesicht, wenn ich in den Spiegel schaue? Leben von Menschen ist heute oft in so ungezählte Funktionen und Rollen zergliedert, daß ein verbindender roter Faden fehlt. Ich komme von einer Rolle in die andere, ich stürze von einer Erfahrung in die andere, und ich bin mir selber wie ein Silbenrätsel, das ich nicht mehr zu einem Wort zusammengesetzt bekomme. Was geschieht in einer Welt, in der wir uns nicht nur voneinander entfremden, sondern uns selbst fremd bleiben? Ich komme mir selbst nur auf die Spur, wenn ich nach der Einheit meines Lebens suche, wenn ich suche, die Einheit meines Lebens zu leben.

Ein viertes und letztes Stichwort möchte ich noch nennen: Leben in der einen Welt. Dies ist ein Problem, das uns auf den Nägeln brennt und das uns in den letzten Jahren fast überwältigt hat. Die Umbrüche im Osten waren gewaltig. Wir haben erlebt, wie befreiend und notwendig diese tiefgreifende Wende war. Nun ist die Freiheit da, aber aus dieser Freiheit ist nicht Einheit, sondern Zersplitterung geworden. Diese Ohnmacht, in der es nicht gelingt, Einheit aus Freiheit zu schaffen, muß uns nachdenklich machen. Es gibt zwei unterschiedliche Tendenzen im Problemkreis der einen Welt. Auf der einen Seite brauchen wir technisch und wirtschaftlich Einheit und können ihr auch gar nicht [20] mehr entgehen. Wir leben in einer Weltzivilisation, in der wir weltweit kommunizieren; wenn wir nicht eine Welt und eine Menschheit werden, gehen wir zugrunde. Und wir spüren eben andererseits diese Ohnmacht nicht nur von Ost nach West, sondern auch von Nord nach Süd. Die Armut und Ungerechtigkeit in der Dritten Welt ist ungeheuer bitter, und es gibt ein kaum auszuhaltendes Gefälle. Leben wir wirklich in einer Welt? Ohnmacht zur Einheit einerseits und dieser unabdingbare Fortschritt zur Einheit andererseits – wie können wir diese Zerreißprobe bestehen? Leben in der einen Welt geht nicht ohne Leben aus der Einheit. Welches Modell von Einheit brauchen wir?

Ehe wir nach der Spur der christlichen Botschaft suchen, die nicht einfach vom Himmel fällt und alle Probleme löst, die uns aber einen Weg zeigt, bitte ich, noch in einer mühsamen Analyse auszuhalten. Ich möchte zunächst unsere geschichtliche Epoche anschauen und danach fragen, woher sie von innen her ihre Einheit nimmt. Ich werde dann einen geistesgeschichtlichen Grundzug unserer Epoche näher beleuchten, um von dort aus den Horizont aufzureißen, der uns hineinführt in einen trinitarischen Denk- und Lebensstil, wie er sich vom Christlichen her heute als Alternative nahelegt.

Vor einiger Zeit besuchte ich das Rechenzentrum einer Technischen Hochschule. Nach einer Besichtigung kam es zu einem intensiven Gespräch. Die Partner aus der Hochschule stellten mir die Frage: Verändert unsere Computergesellschaft – also un- [21] sere Fähigkeit, alles zu formalisieren, auf die Zahl oder ins abrufbare Programm zu bringen – den Menschen? Ich habe gewagt, mit „Ja“ zu antworten, und bin auf Verständnis meiner Gesprächspartner gestoßen. Die Begründung meiner Antwort hat nicht ein generelles Nein einer technologischen Entwicklung im Auge, sondern soll auf etwas aufmerksam machen, was für unseren weiteren Gedankenweg bedeutsam ist.

In der Geistesgeschichte unseres abendländischen Denkens werden die seelischen Kräfte des Menschen mit drei Worten beschrieben: Verstand, Wille und Gefühl. Der heilige Augustinus nennt noch eine andere Triade: „memoria“ – Gedächtnis oder Erinnerung, „intellectus“ – aktives Verstehen und „amor“ – Liebe. Augustinus fängt an mit der memoria. Diese ist nicht nur ein Sich-erinnern-Können an irgend etwas, sondern es geht um den Sinn für Wirklichkeit, die mir zukommt und die ich empfangend aufnehme. Geistiges Leben beginnt also nicht damit, daß ich etwas machen will oder mache, daß ich etwas entwerfe, sondern damit, daß Wirklichkeit sich in mich hineingibt, sich in mich einträgt und sich mir schenkt. Wirklichkeit als ganze ist das, was sich „mir antut“. Dies aber ist kein neutrales Geschehen, sondern fordert mein Stellungnehmen, meine Optionen angesichts der erfahrenen und in mir bewahrten Wirklichkeit heraus. Darin liegt das zweite Moment geistigen Lebens, darin liegt das, was „amor“, was Liebe bedeutet. Nur wenn ich Wirklichkeit in mir wahre (memoria), kann in mir die Liebe zur Wirklichkeit ein Pro- [22] gramm entwerfen, ein Programm dessen, was ich nun tun will. Dieses Programm ordnet, organisiert sich und mich, gewinnt seinen „intellectus“ und läßt sich so verwirklichen. Dabei ist die universale Offenheit des Geistes für alle Wirklichkeit, für alle Weisen von Wahrnehmung, Begegnung und Gestaltung entscheidend.

Ich bin nicht gegen Computer und moderne Technik. Es geht mir also nicht um eine fundamentale Kritik eines technischen Fortschritts, sondern um die Frage, wo in unserer Epoche Einheitstiftendes zu sehen ist. Auf diesem Hintergrund möchte ich nun auf etwas aufmerksam machen. Wenn wir im Computer alle Daten speichern können, sind wir dann nicht unseres eigenen Gedächtnisses enthoben? Und wenn ich keine Erinnerung mehr brauche, wird dann nicht mein Leben von innen her anders? Da ja alles gespeichert ist und ich die Freiheit von Erinnerung (memoria) zu haben meine, kann ich mit allem unmittelbar umgehen, wie ich will. Aber alles, womit ich umgehe, ist bereits vorgeformt und formalisiert in einem Programm der Reproduzierbarkeit und der Abrufbarkeit. Wirklichkeit ist auf eine ganz bestimmte Weise formalisiert und begegnet mir als vorgeformtes Material. Die Ursprünglichkeit der Begegnung mit Wirklichkeit in nicht vorgeprägter Weise ist gefährdet. Sicher, wir müssen und können damit umgehen. Aber die Weite des Umgangs mit der ganzen Wirklichkeit ist eingeengt. Die Liebe (amor) – die nach Augustin zum geistigen Leben gehört – kann sich zwar noch auf alles Mögliche erstrecken, doch ihre Universali- [23] tät ist eingeengt. Denn sie begegnet nicht der Wirklichkeit, die sich „mir antut“ und die sich in mir bewahrt hat (memoria). Darin aber wird der Umgang mit Wirklichkeit – jenes aktive Verstehen (intellectus) – anders.

Was bedeutet dies für die Einheit? Die Einheit, die daraus entsteht, ist die Einheit einer technischen Zivilisation, die einerseits großartig ist, andererseits jedoch alles auf ihre Maße bezieht. Die eine Welt, in der wir leben, ist nur eine Welt geworden, weil es diese moderne Technik gibt. Ohne sie wären wir nicht in Kommunikation getreten mit allem, was es in der Welt gibt. Wir hätten nicht die nahen Wege zueinander und wären nicht in einem Schicksal verbunden. Was aber geschieht mit den anderen Kulturen, indem wir nun mit dieser Technik in die Welt hineinkommen? Sie werden nur in den Teilen ernstgenommen, die in unsere technische Überlegung hineingehen. Alles, was nicht „kompatibel“ ist und sich nicht der technischen Kommunikation beugt, wird vom Menschheitsprogramm nicht erfaßt. Andere in ihrer Andersartigkeit, mit ihrer anderen Kultur und ihren anderen Herkünften vermögen kaum, sich einzubringen. Sie müssen sich umstellen, um Partner in der Weltgesellschaft zu werden. Darin liegt nicht nur eine Entwicklung, sondern ebenso eine Nivellierung, und dies wird auch von vielen in den einzelnen Kulturen als einengend, verkürzend oder sogar entwürdigend empfunden.

In diesen Gedanken geht es mir nicht um eine Nostalgie, die hinter die technologische Entwick- [24] lung zurückwollte und die nach meiner Meinung auch ideologisch wäre. Mir kommt es allerdings ganz entscheidend darauf an, in einer Art technischer Kultur einander zu helfen und mit Technik so umzugehen, daß sie nur Medium unseres Denkens und Handelns bleibt. Denn eine bloß technologisch gekonnte Einheit ist eben keine Einheit. So wie die Ideologien zerbrochen sind und sich als untauglich für die Einheitsbildung erwiesen haben, wird auch ein bloßer Markt technologischer Möglichkeiten die Kultur der Einheit nicht voranbringen. Die Frage nach der Einheit ist also keine bloß ästhetische Frage, sondern eine ganz fundamentale für die künftige Entwicklung in der einen Welt.

Was geschieht eigentlich, wenn die Einheit nur eine technische Einheit wäre? Was kann an Leben und Kultur zwischen Kulturen und Völkern entstehen, wenn der Markt und die Technik, die ihn ermöglicht, allein das Verbindende und Verbindliche sind? Dann ist alles erlaubt, was diesen Zusammenhang nicht stört, und alles, was ihn stört, geht nicht. Das Kartell derer, die die glücklichen Besitzenden sind, beschließt, was stört und gegen den Strich geht. Es wäre furchtbar, wenn jene, die das Leben besitzen, darüber bestimmen, ob ein Leben, das nicht über sich bestimmen kann, nun leben darf. Wer entscheidet, welche Entwicklungen möglich werden und welche nicht? Eine bloß funktionale Verständigung der Menschen privatisiert ihre Werte so sehr, daß es einen tiefergehenden Wertekonsens kaum geben kann. Ich frage mich, ob auf diesem Hintergrund heute fällige Entscheidungen [25] auch Entscheidungen sind, die vor der Zukunft der Welt und der Menschheit verantwortbar sind.

Dies ist zunächst ein düsteres Bild. Dabei geht es mir überhaupt nicht um eine düstere Stimmung, sondern nur darum, einen Augenblick lang in diesem Düsteren die Grenzen eines ansonsten grandiosen und auch nicht mehr umkehrbaren technischen Fortschritts zu sehen. Die positiven Seiten der Technik möchte ich ausdrücklich anerkennen, wobei ich aber genauso ausdrücklich den dienenden Charakter technischer Möglichkeiten unterstreiche. Das Nachdenken über die Technik und ihre Bedeutung für die Einheit führt in einem weiteren Schritt zu der tieferliegenden Frage, was denn das Einheitstiftende in der Epoche der Neuzeit ist, in der eben der technische Verstand und die technische Rationalität ausgebildet wurden. Wiederum erlaube ich mir eine Vereinfachung in der Darstellung, da es mir auch hier nicht um eine grundsätzliche Kritik oder eine These zur Epoche der Neuzeit geht, sondern darum, eine mir wichtige Richtung anzudeuten, um das Thema Einheit klarer zu fassen.

Das epochestiftende Prinzip der Antike hat Martin Heidegger mit dem griechischen Wort „parousia“ bezeichnet. In der griechischen Metaphysik bedeutet „parousia“ die Anwesenheit und Offenheit des Seins. Die Offenheit alles Seienden war jener Raum, in dem alles mit allem verbunden war, in dem das Daseiende und sein Wesen behütet und gewußt war und in dem man sich bewegte. Die antike Welt wurde in der Zeit der Völkerwanderung erschüt- [26] tert. Die neu entstehende Kultur des Mittelalters baute aber auf den Prinzipien und Werten der Antike auf. Der Ansatz in dieser mittelalterlichen Epoche kann am ehesten mit dem Wort „traditio“ bezeichnet werden. Tradition heißt hier, daß etwas Überkommenes und als wertvoll Erfahrenes weitergegeben wird. Die Weitergabe dessen, was in Geltung ist und was auch in Zukunft gelten soll, steht im Mittelpunkt. In der Zeit der Spätgotik zerbricht die traditio in ihrer Selbstverständlichkeit. Die klaren Strukturen und Formen zersplittern in kaum mehr Durchschaubares, die Sicherheit und Geborgenheit der geltenden Begriffe verliert sich, und es entsteht die unsichere Frage, ob nicht alle Allgemeinbegriffe nur beliebige Hülsen sein könnten. So erwacht ein tiefgehender Zweifel an der Fähigkeit des Menschen zum eigenen Denken, zur Verbindlichkeit des eigenen Denkens und zur Entsprechung zwischen Denken und Sein.

Am Beginn der Neuzeit stehen Denker wir René Descartes, die die verlorengegangene traditio neu gewinnen wollen. Die neue Frage ist aber eine Rückfrage: Wie kann das „Ich“ das, was mir bis jetzt durch die Tradition als Gültiges gegeben wurde, nun selbst von innen her entwickeln? Descartes, der Vater der Neuzeit, macht das auf sich selbst zurückgeworfene Ich zum Ausgangspunkt des Denkens. Von diesem sicheren Punkt des „Ich denke“ aus gilt es nun, die Welt zu konstruieren und das bisher aus Tradition Gültige zu rekonstruieren. Wo aber das Ich zum Prinzip wird, wo das Subjekt mit sich selbst anfängt und von sich selbst ausgeht, um die Welt zu [27] sichern, da stehen die Konstruktion, die Rekonstruktion, der Entwurf, das Experiment und die Berechnung im Mittelpunkt des denkerischen Ansatzes. So entsteht in der Neuzeit die Idealvorstellung, selbst alles vom Nullpunkt aus bedenken und erstellen zu können. Die Konstruktion der Welt vom eigenen Ich her wird zu einem einheitstiftenden Prinzip der Neuzeit.

Gibt es von diesem Prinzip her eine Möglichkeit, Einheit anders und weiter zu verstehen? Um eine Schneise in eine andere Richtung zu schlagen, möchte ich das einheitstiftende Prinzip der Neuzeit noch einmal an einem wichtigen Satz bei Immanuel Kant gegenlesen. Auch hier geht es mir nicht darum, nun den Gedankengang Kants in seiner ganzen Breite darzustellen, sondern darum, einen gedanklichen Punkt bei ihm zum Ausgangspunkt für meinen Gedankenweg zu nehmen. Immanuel Kant schreibt im Paragraph 16 der „Kritik der reinen Vernunft“ folgendes: „Das: ‚Ich denke‘ muß alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches eben so viel heißt, als die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein. … Ich nenne sie die reine Apperzeption, um sie von der empirischen zu unterscheiden, oder auch die ursprüngliche Apperzeption, weil sie dasjenige Selbstbewußtsein ist, was, indem es die Vorstellung ‚Ich denke‘ hervorbringt, die alle andere muß begleiten können, und in allem Bewußtsein ein und dasselbe ist, von keiner weiter begleitet werden [28] kann.“1 Kant sagt also, alle Vorstellung muß begleitet werden können vom „Ich denke“. Das, was mir widerfährt, kann nur in mich eindringen, kann nur in mir Folgen haben, kann nur Gestalt und Gedanke werden und kann nur Erkenntnis werden, wenn ich es mit der Vorstellung „ich denke“ begleiten kann. Dies ist wahr, und es stimmt, daß es die Begleitung aller Vorstellung durch das „Ich denke“ als Voraussetzung des Denkens überhaupt geben muß. Aber ist das „Ich denke“ alles? Ist es wirklich nur das „Ich denke“, das alles begleiten können muß? Umfaßt jenes „Ich denke“, das formal vorausgesetzt ist, damit Erkenntnis möglich wird, nicht material noch mehr, noch anderes?

Es ging mir an dieser Stelle nicht um eine Kant-Kritik, sondern darum, etwas aufzuhellen, was in unserer Zeit und in unserer Situation als Hintergrund für die Frage nach der Einheit von hoher Bedeutung ist und was uns nun vom Nachdenken über unsere Epoche positiv weiterführt in das Anliegen und Thema aller weiteren Beiträge dieses Buches. Zuvor möchte ich aber vor dem hier gewonnenen Hintergrund die Alternative christlichen Denkens aufzeigen, die ansetzt bei einem trinitarischen Denkstil. Denn was geschieht, wenn ich, ausgehend von der Frage nach Einheit, mir Rechenschaft gebe über mein „Ich denke“? Ich möchte in vier Punkten darauf antworten.

[29] Erstens: In der Tat ist es so, daß ich erst dann im Spiel bin, wenn ich mich zu einer Art von innerer Wachheit in der Begleitung eines Gedankens aufrufe. Ich bin mit meinem kritischen Bewußtsein aufgerufen, durch das, was mich irgendwo berührt, was ich irgendwo sehe und was irgendwo um mich herum vorgeht, mir die Fragen zu stellen: Wie stehe ich dazu? Ist das auch so? – Aber bin ich mit diesen Fragen so ganz allein nur auf mich gestellt? Bin ich dann nur in eine Beliebigkeit gestellt? Oder bin ich da nur eine Denkform? Was bin da ich? Wer ist dieses „Ich“? Wo stütze ich dieses „Ich“? Ist Denken nur Denken, oder ist Denken nicht notwendigerweise auch Andenken? Ich komme auf das zurück, was Augustinus mit „memoria“ sagt. Sind wir nicht im Grunde Andenken daran, daß wir selber uns zugesprochen sind? Ich bin nicht irgendein Ich, das nur vom Nullpunkt ausgeht, sondern ich bin mir gegeben, ich bin mir zugedacht, und ich bin gerufen. Als Christ kann ich sagen: Ich bin geliebt. Ich bin, wenn ich denke, und ich denke, wenn ich andenke an das, an den, der mich ins Sein ruft. Mein „Ich denke“ ist begleitet von diesem Ja zu mir, an das ich andenke.

Zweitens: Vor diesem Andenken muß ich eingedenk sein, muß ich gedenken, muß ich meiner gedenken und muß ich meiner Verantwortung gedenken. Indem ich das Wort annehme, in dem ich mir zugeworfen und zugerufen bin, ist mein Denken nicht nur eine formale Sache, sondern Verantwortung vor dem, der mich mir zugerufen hat; ich glaube an die Liebe, die mich mir gegeben hat. Mein [30] „Ich denke“ ist begleitet vom Gedenken der Verantwortung dem Willen Gottes gegenüber.

Drittens: Wenn ich mir zugedacht bin, dann ist mein „Ich denke“ auch ein Zudenken auf den anderen zu. Mein Denken und mein Sprechen hat etwas zu tun mit dem anderen, wie der andere ist, wie das Du ist, dem ich zudenke. Ich kann nicht einfach so tun, als ob ich allein auf der Welt wäre. Gerade wenn ich ganz ich bin und je mehr ich ich bin, kann ich dem Du nicht entrinnen. Ich kann meinen Gedanken nur denken, wenn ich dich in dieser Einmaligkeit im Blick habe, so wie ich einmalig bin. Ich kann meinen Gedanken nur so fassen, daß er auch ein Wort für dich ist. Denken kommt nur dann aus der Unverbindlichkeit heraus, wenn es ein Zudenken auf den anderen ist, wenn ich im anderen den erkenne, der ist wie ich, und wenn ich ihn als meinen Nächsten liebe wie mich selbst. Indem ich denke, denke ich dem anderen, der ist wie ich, das Ja zu, das mein „Ich denke“ als Andenken und Gedenken begleitet.

Viertens: Es ist entscheidend, daß ich in meinem „Ich denke“ auch das „Wir“ mitdenke. Ich denke nicht nur dem anderen und den anderen zu, sondern im Denken ist etwas wie ein Einverständnis. Im Denken ist etwas wie ein Wort, das uns verbindet und uns je gemeinsam ist. Dies ist nicht etwas wie eine Menschennatur in einem äußeren Sinne, etwa so wie eine gleiche Ausstattung verschiedener Maschinen aus der gleichen Serie. Da ist wirklich dasselbe Licht in dir und in mir. Da ist wirklich etwas da, das auf die eine und selbe Mitte dieses Wir [31] zugeht. Da ist dieses Einssein, dieses Das-eine-Wort-Haben, auf daß es in unserer Mitte lebe. Das „Ich denke“ ist begleitet vom Mitdenken des Wir.

Wir werden einer technischen Kultur weder entrinnen können noch müssen, und wir werden dem „Ich denke“ als Ausgangspunkt, die Welt zu konstruieren, weder entrinnen können noch müssen, wenn wir unser Denken erweitern um diese vier Punkte: Andenken, Gedenken, Zudenken und Mitdenken. Ich komme zurück auf die Bitte, die ich zu Beginn formuliert habe: Nur wenn wir uns einander im eigenen Denken und im eigenen Leben aussetzen, wird ein Weg möglich zu einem anderen Umgangs- und Lebensstil. Ich möchte dieser Bitte nun vier christliche Sätze hinzufügen, die von Jesus Christus her etwas fundamental Humanes aussagen: Schneiden wir unser Denken und Leben nicht ab von dem, der uns geliebt hat und an dessen Liebe wir glauben – Andenken. Schneiden wir uns in unserem Denken und Leben nicht ab von der Verantwortung, den Willen Gottes zu erkennen – Gedenken. Denken und leben wir immer im Angesicht des Du, und schneiden wir uns nicht ab von dem Du, das ist wie ich und das ich darum liebe wie mich selbst – Zudenken. Und – letzter Satz – schneiden wir uns nicht ab von jenem Wir, damit das eine Wort in unserer Mitte leben kann, damit Er zwischen uns ist und wir eins sind – Mitdenken.

Einheit als Lebensstil heißt nichts anderes, als diese vier christlichen Sätze so zu inhalieren, so hineinzunehmen ins Eigene, daß unser „Ich denke“ [32] von ihnen begleitet wird. Wenn unser Denken und Leben sich so erweitert, dann haben wir eine Grundlage, wie Kirche heute und wie Menschsein heute in der einen Welt gehen. Vielleicht stehen wir wirklich an einem Anfang, so daß uns die Botschaft vom dreifaltigen Gott etwas ganz Neues zu sagen hat. Vielleicht stimmen wir in den folgenden Beiträgen uns ein auf einen trinitarischen Lebensstil, auf ein Leben im Raum der Dreifaltigkeit, damit in unserer Welt so etwas beginnt wie Leben aus der Einheit.


  1. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, in: Werke in 12 Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. III, Frankfurt a. M. 1968, 136. ↩︎