Dein Herz an Gottes Ohr

[15] Wie groß ist der Mensch?

Kinder haben ein schöneres Maß ihrer eigenen Größe als die Erwachsenen. Sie messen sich nicht allein an den neutralen Zahlen und Strichen von Meter und Zentimeter, sie messen sich an Mutter und Vater, gehen ihnen bis zur Hüfte, bis zum Hals, wachsen ihnen über den Kopf.

Wie groß ist der Mensch? Wenn er ist, was er zutiefst ist, Kind, dann mißt er sich nicht an objektiven Daten seines Wesens, sondern er mißt sich an Gott. Dann aber ist die Antwort gewiß richtig, daß er Staub ist. Ein Staub vor Unendlich. Aber auch diese Aussage ist noch zu sehr von der Erwachsenenart, die mit Metern und Zentimetern umgeht. Gewiß, sie ist notwendig, wie auch das Metermaß für unsere Kleinen nicht durch das Beziehungsmaß abgeschafft werden darf. Aber dieses Metermaß ist eben ein Drittes, an dem Eltern und Kinder zugleich sich messen können – sich aneinander messen aber ist mehr als nur sich messen an einem Dritten. Und so ist auch der Vergleich zwischen Nichts und Unendlich noch nicht die unmittelbarste, noch nicht die menschlichste, noch nicht die göttlichste Maß-nahme des Menschen an Gott. Die „richtigste“ Antwort auf unsere Frage, wie groß der Mensch sei, heißt doch wohl: der Mensch ist sehr groß, er geht Gott bis zum Herzen.

Bleiben wir in der Bildwelt des an den Eltern sich messenden Kindes. Da stellen sich die Kinder öfters [16] auf die Zehenspitzen, um ganz groß zu sein. Muß der Mensch, um Gott ans Herz zu gehen, sich auch auf die Zehenspitzen stellen? Muß er sich selbst, um es philosophisch zu sagen, „transzendieren“?

Ich glaube: nein. Ich glaube sogar: ganz im Gegenteil! Er reicht Gott bis zum Herzen, wenn er am Boden liegt, wenn er sich ganz klein erfährt, wenn er nur noch rufen kann: Zieh mich aus dem Schmutz, heb mich in die Höhe, halt mich an dein Herz!

Will Gott also doch auf seiner unendlichen Größe, auf seiner Unvergleichlichkeit mit uns bestehen?

Nun, wenn wir sie ihm nicht zugeständen, dann erkennten wir ihn nicht. Wahrheit muß sein. Aber die bloße Wahrheit ist nicht die ganze Wahrheit, gerade für Gott nicht.

Was heißt das? Gott selbst wollte für uns „am Boden liegen“. Er selbst ist einer geworden, der uns um Annahme, um Liebe, um Erbarmen bittet. Papst Johannes Paul II. hat in seinem Schreiben über die Barmherzigkeit Gottes Bewegendes dazu gesagt.

Gebet, Anbetung, um Hilfe schreiendes Bitten und sich auf den Boden verneigendes Danken sind demütig, aber sie demütigen nicht. Denn unser Beten ist seit Krippe und Kreuz und im Weitergehen von Krippe und Kreuz in den Geringsten und Ärmsten, die Glieder dieses einen und selben Christus, Gegenwart dieses einen und selben Christus sind, stets auch Antwort auf den Gott, der uns zu Herzen gehen will, auf den Gott, der uns bittet, uns dankt, bei uns anklopft, um unser Gast zu sein. Gebet ist nicht nur Antwort auf Gottes erstes, herrscherlich erschaffendes Wort, es ist Antwort auf sein uns suchendes, uns „brauchendes“ Wort.