Dein Herz an Gottes Ohr

[150] Rufen und gerufen werden

I

Ein junger Mensch kommt zum Meister und fragt: „Verehrter Meister, ich habe eine innere Unruhe in mir. Ich habe den Eindruck, Gott ruft mich. Wie kann ich da zur Klarheit kommen?“

Der Meister blickt ihn an und sagt: „Höre auf die kleinen Rufe eines jeden Tages. Achte zart und genau auf die Stimme, die dich einlädt, hier etwas zu lassen, dort etwas zu tun, jetzt dem Herrn in der Stille oder dem Nächsten neben dir ein Zeichen besonderer Liebe zu schenken. Und in den vielen kleinen Rufen buchstabiert sich Gottes großer Ruf.“

Der junge Mensch entgegnet: „Meister, so versuche ich das schon seit geraumer Zeit. Aber die Unsicherheit bleibt. Was soll ich weiter tun?“

Der Meister setzt von neuem an: „Rufst du auch immer zu Gott? Nur wer darin geübt ist, ihn zu rufen, wird auch seine rufende Stimme erkennen und entziffern.“

Der junge Mensch zögert: „In der Tat, ich weiß nicht, ob ich innig und vertrauend genug gerufen habe. Aber ich versuche es ebenfalls bereits seit längerem. Könnte es noch an etwas anderem liegen, wenn ich noch immer keine innere Gewißheit habe?“

Der Meister antwortet: „Vielleicht hast du Angst davor, daß er dich ruft, weil heimlich dein Herz an [151] einem anderen Weg hängt. Oder auch deshalb, weil du dir nicht zutraust, das zu vermögen, was er von dir verlangen könnte. Oder es ist genau umgekehrt: Du sehnst dich nach einem Ruf, aber es ist nicht Gott allein, der dich anzieht, und heimlich spürst du das – und so mißtraust du dir, ob du rein und lauter seinen Ruf gelebt hast.“

Der junge Mensch: „Ja, Meister, ich fühle, ich muß mich prüfen, ob das eine oder das andere oder das dritte auf mich zutrifft. Aber wie soll ich mich selbst erkennen? Und wenn ich mich erkenne, wie soll ich dann erkennen, was Gott von mir will?“

„Gott ruft dich auf jeden Fall“, erwidert der Meister. „Nur eines ist ungewiß: wohin er dich ruft, welches der Weg seines Rufes ist. Gott ist der immer Größere. Und um zu erkennen, was dieser größere Gott nun von dir will, überlaß dich einfach dem Weg, der nur geht, wenn die Kraft des größeren Gottes dich trägt. Du wirst bestimmt erfahren, wie klein du bist. Aber wenn es dir gelingt, diese Kleinheit auszuhalten und lauteren Herzens froh zu sein, wenn du trotz Kleinheit und Fall weitergehen darfst, dann bist du auf dem rechten Weg. Gott will, daß du alles schenkst, und das darf auch bluten. Gott will aber nicht, daß du verblutest. Gott will, daß er ganz groß ist in dir, er will aber nicht, daß du dich selber groß fühlst und groß machst. Gott will, daß er in dir seine Kraft zeigen kann, daß du aber auch deine Ohnmacht anzunehmen bereit bist.

Wenn du den schwereren Weg froh gehen kannst, dann ist es dein Weg. Wenn du ihn nicht gehen kannst, dann gehe den kleineren, den stilleren Weg als seinen Weg – und bleibe in seiner Freude.“

II

[152] „Bittet also den Herrn der Ernte, daß er Arbeiter für seine Ernte sende“ (Mk 9,38).

Wir sind es gewohnt, daß dieser Satz mit dem Gebet um „geistliche Berufe“ verknüpft wird. Und das ist gut so.

Aber manchmal kommt vielleicht das Gefühl in uns auf, dieses Gebet sei nur die Verbrämung dafür, daß uns nichts Besseres einfällt, um geistlichen Berufen den Weg zu ebnen. Wenn nichts anderes mehr geht, dann wird eben gebetet. Oder wir haben das Unbehagen, hier werde Gebet mißbraucht, um notwendige Kräfte für die Kirche zu „mobilisieren“. Und wir denken, so zum „Instrument“ machen lasse sich Gebet eben nicht.

Gewiß, Gebet ist kein Alibi und Gebet ist keine Wunderwaffe, um irgendein selbstgemachtes Ziel durchzudrücken. Aber nichtsdestoweniger sind in der Tat die geistlichen Berufe, deren die Kirche bedarf, in ganz besonderer Weise gebunden an das Gebet.

Gott ruft, und er ruft auch heute. Aber diese Rufe verhallen im Leeren, wenn wir nicht die „Leitung“ finden, den Strang und Strahl, in denen sie zum Menschen hin ergehen. Und diese „Leitung“, dieser Strang und Strahl, sie werden eröffnet, wo Menschen einmütig miteinander rufen, zu Gott hin rufen. Wer diesem Rufen nichts zutraut, kann der im Ernst damit rechnen, daß Gott ruft? Und wer nur ruft, um zu haben, und nicht, um zu begegnen, ruft der wirklich? Wartet er auf einen Ruf oder nur auf „Arbeitskräfte“ für pastorale Bedürfnisse? Arbeiter [153] in der Ernte, ja, wir brauchen sie. Aber die Ernte wächst aus dem Samen des Wortes Gottes. Und nur im Spiel von Wort und Antwort, von gerufenem und gelebtem Wort und von gelebter Antwort auf Gottes Ruf bildet sich das Klima, in welchem die Ernte gedeiht und der Ruf gedeiht. „Ruft mich an, und ich werde Menschen rufen.“