Fastenhirtenbrief 1976*

[9] Liebe Brüder und Schwestern!

„Wie ist es denn die Woche gewesen?“ Wenn ich Ihnen diese Frage persönlich stellen würde und Sie sollten mir persönlich antworten, was würden Sie dann sagen? Der eine meint wohl: „Was wird schon gewesen sein? Immer dasselbe: aufstehen, ins Geschäft gehen, nach Hause kommen, Familie, Fernsehen, Verpflichtungen.“ Bei einem anderen hätte dasselbe einen fröhlicheren Unterton: „Alles gut gelaufen, alles gesund und munter.“ Wenn Sie aber vor die seltsame Aufgabe gestellt würden: Suchen Sie [10] eine Überschrift, die über Ihre vergangene Woche paßt!, dann wären Sie wahrscheinlich ein wenig ratlos.

In der Tat, etwas seltsam: Eine Überschrift suchen, ein Wort, das meinen Tag, ein Wort, das meine Woche, ein Wort gar, das mein Leben zusammenfaßt und unter ein Thema stellt. Aber haben wir nicht so oft das Gefühl: die Zeit, das Leben rinnt uns wie Wasser durch die Finger, und in unseren Händen bleibt nichts zurück? Kreislauf des immer Selben und am Ende Leerlauf − vielerlei Eindrücke, aber nichts Bleibendes? Wir brauchten eine Überschrift, wir brauchten einen Inhalt.

Freilich, es könnte der Fall sein, daß andere eine Überschrift für unser Leben wissen. Es könnte sein, daß man mir nachsagt: dieser Spaßvogel, dieser Pechvogel. Oder: der fällt immer auf die Füße; der Hansdampf in allen Gassen. Aber sagen solche Sprüche viel? Fühlen wir nicht unser Inneres oft sogar verfehlt und verkannt in derlei Überschriften, mit denen man von außen unser Leben etikettiert? Es ist manchmal erschütternd, mit einem Menschen zu sprechen und dann festzustellen, daß es inwendig in ihm ganz anders aussieht, als sein Image nach außen es vermuten ließe.

Die wahre Überschrift unseres Lebens zu finden, ist also nicht so einfach.

II.

Liebe Brüder und Schwestern!

Dieselbe Schwierigkeit, die wir mit uns und unserem Leben haben, haben wir auch mit Gott. Wir haben zwar viele Sätze von Gott in unseren Religionsbüchern gelernt − aber könnten wir mit einem Satz, mit einem Wort sagen, wer Gott ist? Wir haben vielleicht manche Erfahrungen mit Gott gemacht − aber gleichen diese Erfahrungen nicht einzelnen Versen eines Gedichtes, das wir nicht zum Ganzen zusammengereimt bekommen, dessen Überschrift wir nicht kennen?

Doch das gerade ist unser Glaube, das gerade die Frohe Botschaft, das Evangelium: Es gibt ein Wort, das Gott beim Namen nennt, es gibt ein Wort, das uns sein innerstes Geheimnis aufschließt, es gibt ein Wort, in dem er uns ganz und gar mitgeteilt hat, wer er ist und wie er ist. Dieses Wort ist Jesus. Er wird im Johannesevangelium das Wort genannt, das Wort, das am Anfang bei Gott war, das Wort, das Gott selber ist.

Und von diesem Wort heißt es: „Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.“ (Joh 1,14) Gott hat gewußt: Wenn wir ihn nicht kennen, wenn wir ihn nicht verstehen, dann kennen und verstehen wir auch uns selber, unser Leben nicht. Deswegen hat er sein eigenes Wort genommen und in unsere Welt hineingesandt. Er hat sein Wort als Überschrift über unser Leben gesetzt. Und diese Überschrift hat er nicht irgendwo in die Wolken geschrieben, sondern mitten hinein in unser Leben, dorthin, wo wir sind. Das Wort hat unser Fleisch angenommen, der Sohn Gottes hat unser Menschenleben mit uns gelebt. Er hat unseren Alltag, unsere Enttäuschungen und Hoffnungen, unsere Ängste und Freuden mit uns geteilt bis hin zum einsamen Tod am Kreuz. Dadurch aber hat jedes Leben, jede Erfahrung eine neue Überschrift bekommen.

Und wie heißt diese Überschrift? Sie heißt: Gott teilt mein Leben, Gott geht mit mir bis zum Äußersten, er ist für mich da, er sagt ja zu mir, er liebt mich. Im 1. Johannesbrief wird das ganze Evangelium zusammengefaßt in dem einen Satz: „Wir haben geglaubt an die Liebe, die Gott zu uns hat.“ (1 Joh 4,16)

Wenn wir uns selbst nach der Überschrift unseres Lebens fragen, dann sind wir ratlos. Wenn wir Gott nach der Überschrift für unser Leben fragen, dann erhalten wir Antwort. Diese Antwort ist Jesus. Er ist das Wort, das uns sagt, wer Gott ist − Gott ist Liebe. Er ist zugleich das Wort, das uns sagt, wer wir sind − wir sind von ihm geliebt, und wir sind dazu da, seine Liebe weiterzugeben.

III.

Liebe Brüder und Schwestern!

Vielleicht ist es jetzt ein bißchen deutlicher geworden, was ich mit dem Kernsatz meines ersten Hirtenbriefes meinte: Ich will kein anderes Programm haben als das Evangelium. Genau das wollte ich sagen: Die Überschrift für meinen Dienst als Bischof, auch die Überschrift für jeden, dem ich Bischof bin, soll hei- [11] ßen: ich habe geglaubt an die Liebe, und ich möchte die Liebe weitergeben. Nichts anderes ist die Botschaft des Evangeliums.

Aber was nützt es, die Überschrift zu kennen, wenn wir den Text unseres Lebens nicht mit dieser Überschrift zusammenbringen? Ihnen hierfür Wege zu zeigen, das bin ich Ihnen schuldig. Für heute möchte ich Ihnen einfach einmal sagen, wie ich persönlich es versuche, das Wort Gottes, die Liebe Gottes, zur Überschrift über mein Leben zu machen.

Mit ein paar Mitbrüdern vereinbare ich für jeden Monat ein bestimmtes Wort der Heiligen Schrift. Von diesem Wort lassen wir uns sagen, wie jeder seine Predigt, seinen Unterricht, seine seelsorglichen Besuche und Gespräche angehen soll. Wir versuchen, durch dieses Wort herauszufinden, was Gott uns schenken will und was Gott von uns verlangt; in den vielen Situationen eines jeden Tages, in den Schwierigkeiten und Dunkelheiten, in den Erfolgen und Mißerfolgen. Möglichst oft, wenigstens einmal die Woche, erzählen wir uns gegenseitig, welche Erfahrungen und Entdeckungen wir mit dem Wort der Schrift gemacht haben. Wir stellen fest, dieses Wort hat die Kraft, ganz allmählich unser Leben zu durchdringen und zu verwandeln. Und es hat die Kraft, zwischen uns Gemeinschaft wachsen zu lassen, die auf die Dauer tiefer bindet als bloß Sympathie und Freundschaft. Und weiter: Jeder Monat bekommt zwar durch sein Wort ein besonderes Gesicht, aber die Monate erhalten auch ihren Zusammenhang. In den verschiedenen Worten der Schrift entdecken wir immer mehr das eine Wort: Jesus selbst, die Liebe, die Gott uns schenkt, damit wir an sie glauben und damit wir sie weitergeben. Unser Leben bekommt seine Überschrift.

Ich könnte mir denken, daß sich auch für Sie ein ähnlicher Weg nahelegt. Und das einfach deshalb, weil uns Jesus seine Worte nicht nur gegeben hat zum Nachdenken oder Diskutieren, sondern zum Leben. Wodurch sonst entsteht erneuerte Gemeinde als durch gemeinsames Leben aus dem Wort Gottes? Sollte sich nicht ein einzelner, ein Kreis von Freunden, eine Familie, eine Gemeinde jeden Sonntag aus den Lesungen ein bestimmtes Wort mitnehmen, um es die Woche über in allen Situationen in Szene zu setzen, es zum Programm, zur Überschrift für die ganze Woche werden zu lassen? Ich würde mich freuen, gelegentlich von solchen Erfahrungen etwas zu hören.

Ich grüße und segne sie alle im Namen des   Vaters und des   Sohnes und des   Heiligen Geistes. Amen.

Aachen, den 6. Februar 1976

+ Klaus

Bischof von Aachen