An die Aachener Patinnen und Paten der kolumbianischen Priesteramtskandidaten zu Weihnachten 1993

[199] Liebe Patinnen und Paten!

Als ich im Oktober 1992 zum letzten Mal in Kolumbien weilte, erlebte ich einen Gottesdienst, den ich mein Leben lang nie vergessen werde. Während meiner Predigt entstand eine mir zunächst unbegreifliche Unruhe unter den zahlreichen Teilnehmern. Doch als ich die Augen erhob und zur Decke schaute, sah ich das Schwanken der Leuchter. Ein starkes Erdbeben brach aus. Ich stand ratlos am Altar, während der Pfarrer mit großer Gelassenheit und Entschiedenheit die Gläubigen aufforderte, in Ruhe die Kirche zu verlassen und sich auf dem Platz nebenan zu versammeln. Die kaum zwei Minuten des Erdbebens dauerten für mich so lange wie kaum einmal andere Zeiten dieser Größenordnung. Doch die Seminaristen, welche die Eucharistiefeier gestalteten, trugen währenddessen den Altar, die heiligen Gaben und Geräte und die Instrumente der Band, die die Liturgie begleitete, ins Freie. Wir konnten in Betroffenheit, Dankbarkeit und Sammlung den Gottesdienst fortsetzen, und ich sagte zuvor: „Wir erleben hier wohl ein kleines Pfingsten: die Erde bebte, alle waren an einem Ort versammelt, und der Geist Gottes kam auf alle hernieder!“ Diese drei Motive der Pfingstgeschichte sind für mich ein Symbol für die Kirche Kolumbiens. Wahrhaft, dort bebt die Erde, und dies nicht nur, wenn äußerlich die Landschaft gewissermaßen aus den Fugen gerät. Erdbeben: Unsicherheit, Wegbrechen von Ordnungen, unberechenbare, immer neu aufbrechende Gewalt, das entzieht rein äußerlich gesehen die Grundlagen für ein geordnetes Leben. [200] Hier kann nur der Glaube bestehen. Und dieser Glaube führt zusammen, versammelt die Kirche, schafft Einheit, Communio. So aber kann Pfingsten geschehen, kann der Geist wirken und neues Leben in der Kirche stiften unter Bischöfen und Priestern, aber auch in vielen Initiativen und Aktivitäten, die im Volk Gottes aufbrechen.

Was ich in jener Sonntagsmesse während des Erdbebens erlebte, erscheint mir zugleich aber auch wie ein Symbol für das, was in der Kirche unseres Landes geschieht und geschehen soll. Die scheinbare Festigkeit und ruhige Entwicklung kirchlichen Lebens ist erheblichen Erschütterungen, schier können wir sagen einem Erdbeben, gewichen. Viele verlassen die Kirche, andere ziehen sich innerhalb der Kirche skeptisch und enttäuscht zurück, die Zahl der priesterlichen und anderen pastoralen Berufungen sinkt. Haben nicht auch wir es notwendig, in dieser Situation aufzubrechen und zugleich das Unveräußerliche mit uns zu nehmen? Brauchen wir nicht jene Einheit, die gegenseitige Liebe und Solidarität mit den Kleinen und Armen zugleich bedeutet? Wird nicht von unserem eigenen Mut und der Bereitschaft zur gelebten Communio Entscheidendes abhängen? Dürfen nicht aber auch wir dann, wenn wir in noch so kleinen Schritten dazu bereit sind, uns dem Anspruch und Antrieb des Geistes zu öffnen, auf sein pfingstliches Wehen und seine erneuernde Kraft vertrauen? Wir werden diese fälligen Schritte aber nicht vermögen, wenn wir nicht über unsere eigenen Probleme hinausschauen und die Weltweite des Geistes uns zu eigen machen, dem Glaube, Leben und Zukunft der anderen genauso wichtig sind wie die eigenen. Sie, liebe Patinnen und Paten unserer kolumbianischen Priesteramtskandidaten, stehen so in einem Zusammenhang, an dem sich der Weg unserer Kirche entscheidet. Ich danke Ihnen für Ihren Mut und Einsatz und bitte Sie darum, mit Ihrem Herzen und mit Ihrem Tun das weiterzutragen, was Sie begonnen haben.

Gerade dieses Jahr war besonders reich und kostbar in der Beziehung zwischen Kolumbien und dem Bistum Aachen. An unse- [201] rer Heiligtumsfahrt haben kolumbianische Bischöfe in großer Zahl teilgenommen, und an ihren Briefen, die mich im Krankenhaus und bei meiner Rekonvaleszenz erreichten, konnte ich ermessen, wie kostbar ihnen der gegenseitige Austausch war und wie deutlich sie auch hier bei uns im Zusammenhang dieser Heiligtumsfahrt Lebenszeichen unserer Kirche, Zeichen des hier wirkenden Geistes wahrnahmen. Begleiten wir uns gegenseitig weiter, auf daß die Gemeinschaft des Glaubens und der Liebe und die Offenheit für Gottes pfingstlichen Geist in Kolumbien wie in Aachen wachsen!

Ihr
+ Klaus Hemmerle