An die Priester, Diakone und Laien im pastoralen Dienst zu Weihnachten 1993

[188] Liebe Schwestern und Brüder, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter!

Zu dieser Weihnacht möchte ich Ihnen nochmals ein Wort des Dankes für Ihre vielfältige und herzliche Teilnahme an meinem Kranksein und meiner Genesung sagen. Wohl selten habe ich so stark das Zusammengehören mit Ihnen erfahren wie in den Wochen und Monaten, während derer ich meine dienstlichen Aufgaben nicht erfüllen konnte oder schrittweise wieder in sie hineinwuchs. Dies war und ist mir ein kostbares Geschenk, aber auch eine Ermutigung dazu, mich in all meinen Begrenzungen Ihnen aufs neue „zuzumuten“.

Die Ärzte sind recht zufrieden mit meiner gesundheitlichen Entwicklung, und ich bin es auch. Natürlich brauche ich noch Geduld und Gelassenheit, um die Kräfte wieder aufzubauen und zu stabilisieren, die mich die Krankheit gekostet hat. Und ich muß da noch lernen, einem Zuviel von Terminen und Planungen mit einem liebenden Nein gegenzusteuern. Es ist, nach dem Annehmen der Krankheit im Frühjahr, ein zweites Annehmen gefordert, ein neuer Akt des Vertrauens: Ganzer Einsatz ist keine quantitative, sondern eine qualitative Forderung. Die Überdehnung dessen, was man sich zumutet, unterbietet das geistliche Maß des „Ganzen“. Dies gilt keineswegs nur für mich, sondern genauso für Sie: Ganz bin ich nur da, ganz gebe ich mich nur, wenn ich dabei auch meine Grenzen sehe [189] und gebe. Denn gerade in ihnen grenze ich an Gott, an den, der das Entscheidende tut.

Ich habe es schon früher einmal so ähnlich formuliert, aber ich spüre es jetzt viel deutlicher in seiner Wahrheit: Nicht nur der Herr hat keine anderen Hände als die meinen; vielmehr habe auch ich keine anderen Hände als die seinen. Für einen Hoffnung gebenden, Freiheit (mir und anderen!) gewährenden Dienst ist es wichtig, nicht depressiv zu werden über dem, was wir nicht selber erfüllen und erreichen können, sondern Ihm mehr zuzutrauen. Ich weiß selber, wie schwer dies fällt, sich andauernd unter einem Erwartungsdruck von unterschiedlichen Seiten zu finden: „Es geht soviel an pastoraler Substanz verloren, du müßtest doch eigentlich und es könnte doch eigentlich …“ Nein, nur der Gott, der unendlich viel größer ist als unsere eigene Kraft, ist der lebendige und wirkende Gott.

Dieser Satz gilt, doch wird er in seiner ganzen Tiefe erst offenbar, wenn wir ihn im Sinne der Weihnachtsbotschaft umdrehen: Der je kleinere Gott, der Gott in meinen und unseren Grenzen ist der wirkende und handelnde Gott. An Weihnachten ist das Wort Fleisch, ist Gott Mensch geworden. Und das heißt: Gott in meinen Grenzen — in meinen Grenzen Gott.

Was möchte ich in dieser Doppelformel ausdrücken? Gott in meinen Grenzen: Er hat sein Gottsein geoffenbart, indem er es von der Ferne des Jenseits und der Höhe der Gedanken herein- und herunterholte, um es zu leben in unseren, in meinen Grenzen. Meine Begrenzungen, mein Scheitern, meine Unsicherheiten sind Gottes Ort in der Welt. Er hat sich alles dessen, er hat alles das angenommen. Der nach dem Galaterbrief zum „Fluch“ (3,13) und nach dem 2. Korintherbrief zur „Sünde“ (5,21) geworden ist, er ist auch Grenze, meine und unsere Grenze, geworden, will gerade so sich zeigen, gerade so die ganz andere Logik seines Seins und Wirkens offenbar machen. Wo ich an meine Grenzen stoße, da stoße ich in der Tat an ihn, da ist Grund nicht zu weniger, sondern zu mehr [190] Hoffnung. Meine Grenzen annehmen heißt ihn annehmen, Gott in meinen Grenzen.

Und zugleich in meinen Grenzen: Gott! Was ich in meinen Grenzen den anderen zu geben vermag, ist unendlich viel weniger, als was sie brauchen und was sie beanspruchen. Und doch wohnt in diesen meinen Grenzen und gibt sich in diesem meinem Mich-Geben Gott. Ich werde durch seine Menschwerdung — recht verstanden — „Sakrament“ für Ihn, wirksames Zeichen, in dem Er sich mitteilt und hineinreicht in unsere Welt.

Liebe Schwestern und Brüder, ich glaube sagen zu dürfen, daß dies für mich keine Gedankenkonstruktion, keine Ideologie, sondern durchaus schmerzlich, aber redlich gewonnene Erkenntnis ist. Im Maße, in dem ich sie innerlich annehme, macht sie mich froh und gelassen. Ich möchte sie Ihnen in Ihr Weihnachtsfest hineingeben, sozusagen als Dank und Widerhall dessen, wie Sie mich in meinen Grenzen angenommen haben und annehmen, als Dank aber auch dafür, daß ich in Ihrem Dasein und Dienst | die | Nähe und Liebe Gottes erfahren und empfangen darf.

Ihr
+ Klaus Hemmerle