Hirtenbrief zu den Heiligtumsfahrten

[57] Liebe Schwestern und Brüder!

Da stehe ich abends in einer fremden Stadt und habe nur eine Adresse in der Hand. Wie ich sie erreiche, weiß ich nicht. Ich frage einen Unbekannten, der mir begegnet, nach dem Weg. Er gibt keine Auskunft, sondern sagt: Kommen Sie mit, ich bringe Sie selbst dorthin, wohin Sie wollen. Soll ich ablehnen? Soll ich vertrauen?

Jesus hat mit seinen Jüngern gelebt, er hat ihnen sein Herz geöffnet und sie teilhaben lassen an seinem Leben. Jetzt sagt er ihnen: Ich verlasse euch, ich gehe fort, und ihr könnt mir folgen. Sie sind schockiert, sie wissen nicht, wohin er geht. Wie sollen sie den Weg kennen? Jesus aber sagt ihnen: Ich bin der Weg.

Was heißt das? Er mutet ihnen zu, sich ganz auf ihn zu verlassen, auch wenn sie ihn nicht mehr sehen. Und er mutet ihnen zu, so zu leben, wie er lebt. Seine Worte und sein Beispiel sollen ihnen Wegweiser sein. Wir können sagen: Sein Leben soll ihr Leben, soll unser Leben werden.

Aber können wir das, so radikal uns einsmachen mit Jesus? Können wir das, so leben und so sterben wie er? Sicher, seine Worte und sein Beispiel sind faszinierend. Wir spüren, es muß mit der Menschheit in die Richtung gehen, die er zeigt. Aber ihm in allem folgen, sein Leben zum unseren machen: ist das nicht die bare Überforderung?

Er bleibt dabei: „Ich bin der Weg“. Aber ehe er fordert, daß wir uns einsmachen mit ihm, hat er sich einsgemacht mit uns. Er ist von Gott her zu uns gekommen, um dort zu leben, wo wir sind, um so zu leben, wie wir sind. Er holt uns ab, wo wir sind. Er holt uns ein, wo wir sind.

Menschwerdung Gottes heißt: Unser Weg wird zu Gottes eigenem Weg. Er hat sich uns ausgeliefert, und deshalb dürfen wir uns ihm anvertrauen.

Liebe Schwestern und Brüder! In diesem Jahr, im Monat Juni, finden wiederum die drei großen Heiligtumsfahrten in Aachen, Kornelimünster und Mönchengladbach statt. Sie stehen unter dem Leitwort: „Ich bin der Weg.“ Es geht also nicht um einen frommen Ausflug in die Vergangenheit. Es geht vielmehr darum, den Weg in die Zukunft zu suchen. Aber wie können die antiken Stoffreste aus dem Vorderen Orient, die als Heiligtümer gelten, uns Orientierung geben für die Wegsuche heute? Sie zeigen uns, bis wohin Gott uns entgegengegangen ist. Sie zeigen uns, welchen Weg er genommen hat, um sich uns zu schenken.

Ich erinnere mich, wie es mich überkommen hat, als ich während der letzten Heiligtumsfahrt in Aachen vor sieben Jahren das Lendentuch Jesu zu halten hatte: „Als Du Dein Leben für mich hingegeben hast, gehörte Dir nichts anderes mehr als ein solch erbärmliches Stück Stoff, das Deine Nacktheit verhüllte!“

Die Heiligtümer von Aachen, Kornelimünster und Mönchengladbach sind keine feinen Sachen, sie stöbern uns auf in der Banalität unserer Alltäglichkeit. Sie zeigen uns den Herrn in seiner Gemeinschaft mit den Schwächsten und Geringsten. Der Weg, der Jesus ist, setzt ganz weit unten an. Und so muß auch ich ganz weit unten ansetzen, um den Weg zu finden: in der Ehrlichkeit, mit der ich mich meinen eigenen Grenzen und meiner eigenen Armseligkeit stelle, in der Solidarität, in der ich mit den Armen und Kleinen teile. Der Weg, der Jesus ist, ist unteilbar und untrennbar Weg zum Vater, Weg zu den „anderen“, Weg zueinander.

Ich lade Sie herzlich ein, liebe Schwestern und Brüder, sich abholen und mitnehmen zu lassen auf Seinen, auf unseren Weg. Nehmen Sie teil, gehen Sie mit, beten Sie mit bei den Heiligtumsfahrten im Juni 1993 in Aachen, Kornelimünster und Mönchengladbach. Suchen wir miteinander die Umkehr zu Seinem Weg.

Ihr Bischof

+ Klaus