An die Priester zu Weihnachten 1990
[151] Liebe Mitbrüder!
Bei der Novembersitzung des diözesanen Priesterrates führten wir ein Abendgespräch mit Diözesanbaumeister Franz Reidt und unserem Mitbruder Herbert Falken, das mir noch lange im Gedächtnis bleiben wird. Ich möchte in diesem Weihnachtsbrief an Sie freilich nicht das lohnende, ja drängende Thema „Kirche und Kunst“ aufgreifen, dem jenes Gespräch gewidmet war. Mir geht vielmehr im Blick auf Sie, auf uns alle eine beiläufige Bemerkung von Mitbruder Falken nach; er zitierte Pater Leppich. der einmal sagte, auch Seelsorge sei Kunst.
Unsere Pastoral ein Kunstwerk? Die Gründe, warum wir dies leider kaum bejahen können, sind vielfältig. Aber Kunst wäre ja wohl immer so etwas wie ausgelittene und verwandelte Unmöglichkeit, Koinzidenz von äußerster, konzentrierter Anstrengung und schlechterdings unkonstruierbarem Gelingen. Meine durch Herbert Falken heraufbeschworenen Gedanken blieben indessen nicht bei der Pastoral stehen, sondern sie gingen weiter bis zu mir, bis zu uns. Ist Pastoral „Kunst“, dann ist sie Zeugnis Gottes, das von ihm ausgeht, das er selber gibt ־ aber gibt, indem wir es geben, indem wir drinnen sind, indem es sich aus uns „gebiert“. Mir kam das Pauluswort von den Geburtswehen in den Sinn, welche er leidet, bis Christus in uns Gestalt gewinnt (vgl. Gal 4,19).
Wenn dieses Wort aber maßstäblich ist für Pastoral, dann geht es nicht ohne ein Weiteres oder besser: Früheres, Grundlegendes: Unser eigenes Leben, unser eigenes Ich sollen ein Gestaltwerden [152] Christi in uns sein und sichtbar machen. Recht verstanden: Unser eigenes Leben soll ein „Kunstwerk“ werden.
Wozu Pastoral dienen soll, das muß zuerst in uns selber geschehen. Und obschon wir durch Eigenes nie das einholen können, was uns durch Sakrament und Sendung zuerteilt ist, die repraesentatio Christi capitis, die Vergegenwärtigung Christi als Haupt seiner Kirche, so wird ihr Vollzug doch entweder blaß und abstrakt oder anmaßend und erdrückend, wenn nicht wir zuerst uns unter dasselbe Maß stellen: daß Christus in uns Gestalt gewinnt.
Pastoral ein Kunstwerk? Viele Fragen wirft ein solcher Anspruch auf. Unser Leben ein Kunstwerk? Hier stellen sich der Fragen noch mehr. Viele Mitbrüder haben das Geschenk und machen anderen das Geschenk, mit ihrem Leben zufrieden zu sein und froh ihren Dienst zu tun. Doch ich kann nicht übersehen, wie vielen solcher Anspruch große Sorge und Mühe macht ־ und hier von weniger guten oder eifrigen Priestern zu sprechen, ginge gänzlich an der Situation vorbei! Zahlreichen Menschen in unserer Gesellschaft ist dies eine der brennenden Fragen: Wo haben unser Leben und unsere Persönlichkeit ihre Einheit und ihre Identität? Diese Frage betrifft nicht nur uns Priester, aber daß sie uns auch und mit besonderer Dringlichkeit betrifft, muß uns nachdenklich machen.
Sie erinnern sich: Meinen Hirtenbrief zum 100jährigen Jubiläum des „Volksvereins für das katholische Deutschland“ stellte ich unter das Leitwort „Unterwegs zur einen Welt“. Die Welt kann weder überleben noch leben, wenn sie nicht ihr Einswerden bewältigt. Es braucht jene Gestalt der Einheit, die weder durch eine Ideologie verordnet noch dem Zufall überlassen noch auch auf die funktionalen Sachzwänge reduziert werden kann.
Doch dieses Weltproblem Einheit läßt sich nicht loslösen vom Problem des einzelnen: Wo und wie findet er in diesem Leben, in dieser Gesellschaft seine innere Einheit, die weder durch eine Ideologie vorreguliert noch in bloß eigener Regie auf Kosten anderer [153] durchgesetzt noch im bloßen Funktionieren, Leisten und Konsumieren erreicht werden kann?
Das Leben ein Kunstwerk – wie weit sind wir davon entfernt, und wie wenig können wir doch darauf verzichten, daß unser Leben Gestalt gewinnt, Gestalt, die in sich ein Ganzes ist und zugleich ins Ganze sich einfügt.
Wo liegen die Schwierigkeiten? Es gibt ein Weniger und es gibt zugleich ein Mehr an Notwendigkeit und Möglichkeit persönlichen Gestaltens in unserer Welt gegenüber früheren Epochen. Wir sind in unserer Wahrnehmung der Wirklichkeit und in unseren Einflußmöglichkeiten auf sie reicher und weiter als früher: Moderne Kommunikation setzt uns mit schier allem, was in der Welt geschieht, in Kontakt, und Wege der Technik wie auch der gesellschaftlichen Kooperation und Partizipation geben uns einen breiteren Spielraum, uns selber einzubringen in das, was geschieht. Anderseits sind wir von den Systemen, die solche Kommunikation und Kooperation ermöglichen, abhängig, von ihnen gewissermaßen „vorgenormt“; es gibt weniger an unmittelbarer, nicht medialisierter Berührung mit der Wirklichkeit. Unsere Freiheit, unsere personale Entscheidung ist in viel mehr Fragen und angesichts von viel mehr Problemen herausgefordert. Der Anspruch an unsere Entscheidung wird also größer -zum andern geraten wir durch die zivilisatorischen Bedingungen, die uns in den Stand zu soviel Kommunikation und Partizipation setzen, in eine vielfältige und weltweite Abhängigkeit.
Zugleich sind viele früher selbstverständlich tragende Ordnungen relativiert. Einverständnisse zwischen allen sind zu Fraglichkeiten mit unterschiedlichen Lösungsmöglichkeiten geworden, so daß auf der Spitze des eigenen Ich eine ungeheure Last der Verantwortung lastet. Dies führt dazu, daß man entweder sich treiben läßt und anpaßt oder daß man sich in Skepsis und Protest zurückzieht oder aber daß man sich fundamentalistischen Strömungen anvertraut, [154] die eine sichere Lösung aus wenigen Prinzipien, eine neue „Einfachheit“ von Welt und Wahrheit vorgeben.
In dieser Welt gibt es soviel zwischenmenschlichen Kontakt wie kaum zuvor, und er ist durch fixe Konventionen und Regeln nicht wie früher kanalisiert. Andere Schutzmechanismen gegeneinander werden statt dessen aufgebaut. Zugleich wird ein hoher Anspruch an Beziehungen zum Nächsten gestellt, der freilich im Wechsel der Situationen und in der Vielheit der Anforderungen an den einzelnen kaum durchzutragen ist, was zu einer bedrohlichen Brüchigkeit dauerhafter Beziehungen und Lebensentscheidungen überhaupt führt.
Der Hunger nach einem Mehr gegenüber dem bloß funktionalen Zusammenhang läßt sich nicht ersticken, er bricht oft elementar auf. Doch wo er mit Normen und Institutionen, mit Forderungen nach verbindlicher und exklusiver Entscheidung konfrontiert wird, da sucht er sich heute kaum die Antwort. Wenigstens im persönlichen und innersten Bereich ersehnt der Mensch einen unbesetzten Freiraum, Begegnung und Gemeinschaft, die erfüllen, aber nicht in Beschlag nehmen, ein Angenommensein, das nicht sofort wieder in die Übernahme von Verpflichtungen umschlägt. Unmittelbares, auch großzügiges Engagement: ja; auf Dauer angelegte Verbindlichkeit, Anerkenntnis von nicht aus unmittelbarer Plausibilität gedeckten Normen und Formen: nein. Welche Hypothek das für die Akzeptanz „der Kirche“ mit sich bringt, brauche ich nicht auszuführen.
Diese Situation ist eine Herausforderung nicht nur für unseren Dienst, sondern auch für unser Sein. Niemand von uns dürfte sagen, daß er dem „gewachsen“ sei. Geschichte abschütteln? Ordnungen bloß konservieren? Nach einem rasch handhabbaren Kriterium suchen, was notwendig sei und was nicht? Ich traue den glatten Antworten nicht. Ich glaube nicht, daß es einfach am Zölibat, daß es einfach an Papst und Bischöfen, daß es einfach an Normen und Institutionen liegt. Ich glaube aber auch nicht daran, daß es genügt, [155] das, was nicht aufzugeben ist, nur zu „verteidigen“, ohne Argumentation und Dialog. Wie oft stellen wir Menschen, die uns bloße Klischees vorzuhalten scheinen, unsererseits in eine Ecke, machen uns ein Klischee von ihnen. Erst wenn wir länger und tiefer auf sie eingehen, entdecken wir, was wahrhaft hinter ihrer Position steht. Es braucht das Horchen in Gründe hinein, die mehr erfahren und erlebt werden müssen, als daß sie in wenigen griffigen Formeln zu vermitteln wären.
Es stimmt: nicht nur von der äußeren Quantität, sondern auch von der inneren Vielschichtigkeit unserer Aufgaben her stehen wir unter einem Anspruch, der einen langen Atem, einen ruhigen Schritt, einen nüchternen Blick und vor allem die Fähigkeit fordert. Spannungen auszuhalten und auf vielerlei Weisen zu denken und zu sehen uns einzulassen. Die Persönlichkeit, das Leben, die solches „vermögen“, sind wahrhaft ein Kunstwerk. Doch wie soll dieses Kunstwerk gelingen?
Liebe Mitbrüder, bis hierher ist mir der Text dieses Briefes zwar keineswegs leicht aus der Feder geflossen, aber es war mir einigermaßen möglich, das, was mich bewegt, zum Ausdruck zu bringen. Doch wie soll ich hier fortfahren? Viele von Ihnen standen mir vor Augen, mit zum Teil sehr verschiedenen pastoralen und spirituellen Ansätzen, mit kostbaren und auch belastenden Erfahrungen in Leben und Dienst. Noch kaum einmal habe ich so viele Anläufe genommen, um Ihnen etwas mitzuteilen, was mir wichtig ist und mir auch für Sie als wichtig erscheint.
In dieser Spannung ging ich zum Regionaltag nach Heinsberg. Dort nahm ich am Gespräch der Kleingruppe über die „Identität des Priesters“ teil: Wir waren bunt gemischt, und daß ein so offenes und nachdenkliches Gespräch zustande kam, haben auch die anderen als ein Geschenk erfahren.
Das Zerrissenwerden zwischen den Ansprüchen mehrerer Gemeinden, die von anderen oder von uns her überbeanspruchenden [156] Priesterbilder, die „Unsynchronisiertheit“ unseres zölibatären Lebens mit einer Tiefe und Dichte von Gemeinschaft, die seinen zeugnishaften Inhalt plausibel, erlebbar und lebbar werden läßt – aber auch die Anfrage einer Frau, warum es uns so schwerfalle, aus der eindeutigen Mitte und Sendung, aus jenem Kreuz her zu leben, unter dessen Geheimnis in der Weihe unser Leben gestellt wurde, beschäftigten uns nachhaltig. Was der eine als glückhafte Sendung erfuhr, wurde dem anderen zum überfordernden Anspruch: das paulinische Ideal, „allen alles zu sein“ (vgl. 1 Kor 9,22). Ein junger Mitbruder, sehr sensibel für die Last, die in diesem Wort steckt, ließ uns ein wenig sehen, wie dieses Wort sich für ihn von der Überforderung zur Ermutigung verwandelt.
Sicher will dieses Wort des Apostels Paulus ohnehin nicht den Streß einer universalen Bedeutsamkeit und Verantwortlichkeit entfesseln, sondern er zeigt seinen – freilich am Maß des Herrn selbst abgelesenen – Stil missionarischen Einsatzes: das Sich-Einsmachen mit dem anderen, um so den zu bezeugen, der jeden einzelnen unendlich liebt und sich für jeden einzelnen hingegeben hat. Der Mitbruder in unserem Gesprächskreis machte, für mich sehr eindrücklich, den grundlegenden Gedanken fest an den drei Worten „alles“ - „allen“ ־ „sein“.
[„Alles“: das sind nicht wir, „alles“ können wir den anderen nicht geben. Nur einer vermag alles, nur in einem ist alles gut und gelöst. Transparenz für Ihn, Leben mit Ihm, Zeugnis für Ihn, daraufkommt es an. Er ist alles, nicht ich, und gerade das gilt es zu „sein“.
„Allen“: Können wir wirklich allen Ihn nahebringen? Er selbst hat keine universale Erfassungspastoral betrieben, hat nicht alle seine Zeitgenossen in Judäa und Galiläa angesprochen und erreicht. Sicher, Er hat uns gesandt zu allen, um allen das Evangelium zu bezeugen, und gerade die Kiemen, Benachteiligten, Fernen hat er uns auf die Seele gebunden. Doch diese universale Offenheit können nicht wir bewerkstelligen, sondern wir können nur seine Leiden- [157] schaff für alle im Herzen tragen und die selbstgenügsame Fixierung auf eine Gruppe oder einen Kreis je neu aufsprengen. Alle, das meint bei Paulus die „Verschiedenen“, die Menschen in je ihrem Denken, ihrer Herkunft, ihrer Erfahrung. Allen: das ist ein Wegweiser; aber den Weg bis zum Ziel ausgehen und aushalten, das kann allein wiederum der, der „alle“ in sich trägt und „alles“ in sich heilt und löst.
„Sein“: Auf dieses Wort legte unser Mitbruder besonderen Wert. Es heißt nicht: alles leisten und alle erreichen, sondern uns offenhalten für den, der allein alles ist und vermag, und zugleich sich offenhalten für die, für welche er sich ohne Grenze hingegeben hat. Das ist Maß des Seins, Maß des Lebens, nicht einlösbares Handlungsprogramm. Identität, Einheit wächst, indem wir uns überschreiten zum Herrn und zu allen hin, so daß etwas von dem Wort des verstorbenen anglikanischen Primas Ramsey in Erfüllung geht: „Der Priester ist es, der mit Gott am Herzen zu den Menschen, der mit den Menschen am Herzen zu Gott geht.“
Fazit: Nicht ich bin allen alles, sondern Er ist allen alles, und ich „bin“, daß Er allen alles ist.
„Allen alles sein“ – verwandelte Unmöglichkeit, Hinweis, wie unser Leben Kunstwerk werden und Einheit gewinnen kann. Und doch bleibt die Frage: Wie geht das? Sie hat auch uns bei diesem Gesprächskreis beschäftigt, und ein anderer Mitbruder hat ein kostbares Zeugnis aus seinem eigenen Leben dazu beigetragen, wie im gemeinsamen betenden Abgeben der eigenen Begrenztheiten und „Unmöglichkeiten“ erst nach Jahrzehnten ein Ja zum eigenen Dienst und Leben gelang. Es miteinander „hinüberheben“ zu Ihm, so hat er uns diese Bewegung seines Daseins nahegebracht.
Wir mußten an diesem Punkt abbrechen, weil unsere Gesprächszeit um war. Wir hätten hier erst anfangen können, Schritte zu seelsorglichen Prioritäten und Strukturen, zur Selbstbescheidung auf den wesenhaft eigenen Dienst im Geflecht vieler Dienste, Konsequenzen für unsere Lebensform ins Visier zu nehmen. Dieses Ge- [158] spräch muß weitergehen und braucht Zeit. Das konkrete Ergebnis war für uns in der Gesprächsgruppe aber die Erkenntnis und der Wille, daß an vielen, vielen Stellen das Gespräch, das Nachdenken, das Gebet weitergehen müssen. In ihnen können wir uns gegenseitig Leben schenken, damit Er uns die Einheit stiftende Kraft seines Lebens in unserer Mitte, in der Mitte unseres eigenen Daseins und in der Mitte unserer Gemeinschaft, schenken kann: Geburtswehen, bis Christus in uns und durch uns Gestalt gewinnt. In der Sprache von Herbert Falken an jenem Abend im Priesterrat: Wir kommen nicht am Scheitern vorbei, aber dieses Scheitern „erscheitert“ Seine Gestalt.
Ist dieses Ergebnis zu „schmal“? Kann man nicht mehr zur Sache sagen? Doch, man kann es. Aber ich gebe den Vorzug Dem, der uns dieses Mehr sagt, wenn wir Ihn in unsere Mitte hereinlassen. Und so wünsche ich Ihnen und mir viele Gespräche in vielen kleinen Begegnungen zwischen vielen, bei denen das weitergeht, was ich an jenem Abend im Priesterrat oder an jenem Vormittag in Heinsberg erfahren habe. Ich glaube daran, daß es für jeden von uns Partner für dieses Gespräch gibt und daß jeder von uns Partner solchen Gesprächs für andere sein kann.
Ihr
+ Klaus Hemmerle