An die Priester, Diakone und Laien im pastoralen Dienst zu Weihnachten 1989
[138] Liebe Schwestern und Brüder!
Ironie und Symbolkraft stecken in den zwei Versen aus dem Abschnitt des Buches Genesis über den Turmbau von Babel und seine Folge, die Verwirrung der Sprache:
„Dann sagten sie: Auf. Bauen wir uns eine Stadt und einen Turm mit einer Spitze bis zum Himmel, und machen wir uns damit einen Namen, dann werden wir uns nicht über die ganze Erde zerstreuen. Da stieg der Herr herab, um sich Stadt und Turm anzusehen, die die Menschenkinder bauten.“ (Gen 11,4 und 5)
Die Menschen machen sich groß, treiben es auf die Spitze, und die Spitze reicht zum Himmel, wie sie meinen. In ihrer selbstgemachten Größe suchen sie die Garantie der Einheit. Aber wie groß ist diese Größe? Gott steigt herab, um das winzige Menschenwerk zu gewahren. Er rührt nicht an den Turm, daß er umfällt. Nein, nicht der Turm fällt um – aber die Einheit zerbricht. Selbstgemachte Größe hält nicht zusammen, sondern treibt auseinander.
Es geht den Menschen nicht gut nach dem Turmbau zu Babel …
Die schier selbe Geschichte begegnet uns noch einmal, aber in anderer Richtung. Gott steigt nochmals ab, aber mit anderen Konsequenzen. Im „großen Credo“ ist das in schlichter Knappheit so ausgedrückt:
[139] „Für uns Menschen und zu unserem Heil ist er vom Himmel gekommen, hat Fleisch angenommen durch den Heiligen Geist von der Jungfrau Maria und ist Mensch geworden.“
Es gibt also nochmals einen göttlichen Abstieg vom Himmel, vom angestammten „Ort“ Gottes („descendit de coelis“). Doch dies ist ein Abstieg, der nicht verwirrt, sondern vereint. Es ist ein Abstieg, nicht weil menschliche Größe zum Himmel dringt, sondern weil menschliche Größe am Boden liegt. Und der Abstieg erfolgt nicht in die Größe eines herrscherlichen Palastes, sondern in die Unscheinbarkeit und Niedrigkeit der Jungfrau, der Magd des Herrn.
„Für uns Menschen und zu unserem Heil“ – „vom Himmel gekommen“ – „Mensch geworden“. Ich möchte es wagen, in jener Kindlichkeit des Bildes, die mitunter mehr enthält als die Ausdifferenziertheit des Begriffs, dies so auszudrücken:
Gott fragte den Menschen: Wie geht es dir? Und um es genau zu sehen, kam er persönlich vom Himmel herunter, dorthin, wo der Mensch ist. Er sah es und sagte: Ich bleibe da, ich werde wie du, ich werde Mensch. Ich gehe mit dir - bis in den Tod und durch den Tod bis zum Leben. So geht es dir gut!
Natürlich soll der Begriff nicht zur Seite geschoben, sondern soll die Frage zugelassen werden: Ist das nicht arg verzeichnet und verzerrt, Gott zuzutrauen, daß er „heruntersteigen“ muß, um zu wissen und zu wenden, wie es uns geht? Nein, das ist schon etwas anderes, alles zu wissen in göttlicher Allübersicht und es zu „wissen“ aus der Perspektive des Betroffenen, aus dem Teilen und Teilhaben, aus dem Mitgehen auf selbem Niveau. Es ist zumindest für uns etwas anderes. Dieses „für uns“ betrifft aber Gott selbst; denn Gott ist die Liebe, und die Liebe treibt bis dahin, daß sie, auch aus der Perspektive der anderen, der Geliebten gesehen, dort sein will, wo sie sind.
Die Weihnachtsgeschichte ist Gottes Abstiegsgeschichte, sie ist die Geschichte der Weggemeinschaft Gottes mit uns.
[140] Dann aber ist ganz klar: Die Weggemeinschaft Gottes mit uns in Jesus kann nur greifen, weitergehen, alle erreichen in unserer Weggemeinschaft mit Ihm und miteinander. Wir selber müssen absteigen von unserem Großtun, jede und jeder einzelne, um miteinander zu gehen. Und miteinander gehen können wir nur, wenn uns angeht, wie es der je anderen, dem je anderen geht. „Propter nos homines et propter nostram salutem“ („für uns Menschen und zu unserem Heil“): dies ist das Warum der Menschwerdung Gottes, das Warum der Kirche, das Warum, liebe Schwestern und Brüder, auch unseres Dienstes. Die altehrwürdige Formel aber, die weit hinauszielt über alle verkürzt verstandene bloße Befindlichkeit, diese aber unweigerlich mit betrifft, mit umfängt, ja bei ihr anfängt, sagt aus: Gott interessiert sich dafür, wie es uns geht. Wenn es aber schon Gott nicht gleichgültig ist, wie es mir geht (in meinem ewigen, aber auch in meinem alltäglichen Leben), dann darf es auch mir nicht gleichgültig sein, wie es mir geht. Es kann mir nicht gleichgültig sein, wie es denen geht, denen mein Dienst gilt. Es kann mir schließlich nicht gleichgültig sein, wie es denen geht, mit denen ich im Dienst verbunden bin.
Ich möchte Sie – im Zuge unseres Mühens im Bistum um Weggemeinschaft – um das Ernstnehmen aller drei Fragen bitten. Wenn eine der drei Fragen ausfällt, geht es im Ganzen nicht gut. Bitte, fangen Sie ruhig bei der ersten Frage an und lassen es nicht auf sich beruhen, wenn es Ihnen nicht gut geht! Bitte, bleiben Sie nicht im eigenen Kreis, sondern haben Sie den Mut und die Offenheit, nach jenen zu fragen, denen es – auch in der Kirche und mit der Kirche – nicht gut geht. Und schließlich: Lassen Sie dieses „Kernstück“ von Weggemeinschaft nicht aus: unsere Gemeinschaft, die Gemeinschaft aller im pastoralen Dienst miteinander. Liebe kann nur durch Liebe bezeugt und gefördert werden. Glaube kann nur durch Glaube bezeugt und weitergegeben werden. Weggemeinschaft kann nur durch Weggemeinschaft wachsen, [141] durch unsere Weggemeinschaft miteinander.
Liebe Schwestern und Brüder, es war für mich einer der erhellendsten Momente im vielfältigen Prozeß, der durch meinen Fastenhirtenbrief 1989 angestoßen ist, als wir in einer kritischen Situation bei einem regionalen Klausurtag nicht mehr an der Frage vorbeikamen: Interessiert es uns wirklich, wie es der und dem je anderen geht? Nehmen wir gegenseitig wahr, warum es den Ehrenamtlichen mit den Hauptamtlichen, den Sozialarbeitern und Sozialpädagogen mit den Theologen, den Diakonen mit den Laien im pastoralen Dienst, den Laien mit den Klerikern, den Laien miteinander und den Klerikern miteinander nicht immer gut geht? Interessiert es uns überhaupt, wie es wirklich dem anderen geht - oder verteidigen wir nur unsere eigene Dienstdomäne und fordern von den anderen ihre Leistung und unsere Rechte ein? Pastoraler Dienst ist kein Kuchen, den man in Stücke auseinanderschneiden oder aus Stücken zusammenfügen kann, so daß eines neben dem anderen, eines außer dem anderen liegt.
Es geht mir nicht vor allem und zuerst um einen moralischen oder auch spirituellen Appell – wobei uns allen klar ist, daß es ohne Verantwortung und Spiritualität nicht geht! Es geht mir darum, daß wir vom inneren Ansatz her Kirche als Weggemeinschaft miteinander, in welcher der Herr seine Weggemeinschaft mit uns und allen lebt und verwirklicht, sehen und uns für diese Kirche entscheiden. Das geht aber nicht, wenn es mir egal ist, wie es dir, wie es ganz konkret Ihnen geht!
Ich wünsche uns, daß jeder und jedem von uns der Herr als Weihnachtsgeschenk Schwestern und Brüder schenkt, die sich dafür interessieren, wie es ihr und ihm geht. Und ich wünsche uns, daß er uns ein Herz schenkt wie das Seine, das aufgeht und weit wird im Interesse, wie es den anderen geht.
[142] Soviel dazu auch auszuführen wäre, ich möchte es ohne Kommentar als Impulse zum Nachdenken stehenlassen, was ich aus der ernstgemeinten Frage „Wie geht es dir?“ als Grundelemente herauslese:
– Wie geht es dir?, das heißt: Ich habe das Fragen vor dem Sagen.
– Wie geht es dir?, das heißt: Ich habe Zeit nicht nur für den Dienst und für die anderen, sondern Zeit auch für dich und achte auf deine Zeit, die meine Frage und mein Interesse braucht.
– Wie geht es dir?, das heißt: Ich will mit dir gehen; ich finde mich nicht nur damit ab, sondern ich nehme an, daß du mein Partner im selben Dienst bist.
– Wie geht es dir?, das heißt: Du selbst bist mir wichtig, nicht nur, was du tust; du selbst und jene, die zu dir gehören, deine Familie, deine Welt.
– Wie geht es dir?, das heißt: Dein Dienst ist mir wichtig, nicht nur sein Resultat, nicht nur daß alles klappt, sondern daß es diesen deinen Dienst gibt mit seinem besonderen Ansatz und seiner besonderen Prägung, als Priester oder Diakon, Pastoral- oder Gemeindereferent/in, Sozialpädagoge/in, Sozialarbeiter/in, Theologe/in, als Hauptamtliche/r und als Ehrenamtliche/r.
Fragen genug zum Nachdenken, Fragen, bei denen es, wenn wir ehrlich sind, auch in uns und zwischen uns „knirschen“ wird. Ziehen wir uns davor nicht zurück, sprechen wir miteinander. Zeit füreinander ist Zeit für Ihn, Zeit für uns, Zeit für die anderen. Es ist Zeit dessen, der zu uns abgestiegen ist. Steigen wir ab zueinander!
Ihr
+ Klaus Hemmerle