Linien des Lebens

[17] „Amor pastoralis“

Unter den vielen Fragen, die mir bei einem Treffen mit Firmlingen gestellt wurden, habe ich besonders die von Dominik im Ohr, der keineswegs zu den „Braven“ und „Frommen“ gehörte: „Was tun Sie denn, wenn Sie morgens aufwachen?“ Ich sagte ihm, daß ich mich an ein Wort Gottes erinnere, das ich jeweils einen Monat lang mit Freunden ins Leben zu übersetzen versuche, und daß ich dann mit Gott spreche über die Menschen, denen ich an diesem Tag begegnen werde; denn ich wolle nicht, daß mir jemand begegnet, ohne daß ich zuvor bereits mit Gott über ihn gesprochen habe. Dominik, sichtbar betroffen: „Dann haben Sie ja heute morgen mit Gott über uns gesprochen!“

Dieses Wort des Jungen wurde für mich wichtig, um mein eigenes Tun und meine eigene Situation besser zu verstehen.

Rücken wir scheinbar von dieser Begebenheit ab. Man bringt oft den Bischof oder Priester mit dem „Guten Hirten“ in Beziehung. Ich weiß, wie viele meiner Mitbrüder (und auch ich selbst) aus diesem biblischen Bild Kraft und Licht für ihren Einsatz gewinnen. Und doch habe ich da eine heimliche Scheu. [18] Dieses Bild macht mir nicht nur ein schlechtes Gewissen, weil ich so oft das unterbiete, was ich könnte. Es zeigt mir auch einen Maßstab, eine Erwartung auf, an denen ich scheitern muß. Ich der Gute Hirt? Diese Schuhe sind mir einfach zu groß. Sie beflügeln nicht meinen Schritt, sondern sie hemmen und beschweren ihn.

Und doch ist es gut, daß ein wichtiges Kapitel im Brief der deutschen Bischöfe an die Priester vom Dienst des Hirten handelt und daß gar das Wort amor pastoralis zum Schlüsselwort in der Bischofssynode 1990 wurde – das Nachsynodale Apostolische Schreiben „Pastores dabo vobis“ gibt da durchaus treffend den Dialog in der Synodenaula wieder.

Das 10. Kapitel des Johannesevangeliums spricht vom Guten Hirten – aber es spricht nicht von uns, sondern von Jesus. Er, nur er ist der Gute Hirt, und das heißt: Hirt im eigentlichen, im wahren Wortsinn. Damit aber stellt sich diese Aussage in die Reihe jener Provokationen, die typisch sind für das Johannesevangelium. Das, was Gott allein zukommt, beansprucht Jesus für sich, es ist ihm vom Vater zugewiesen und überantwortet. Mehr noch, es kommt ihm zu aus seiner innersten Verbindung mit dem Vater. Und die drängt gerade an dieser Stelle so hart und kühn zur Sprache wie nirgends sonst: „Ich und der Vater sind eins!“ (Joh 10,30).

[19] Jahwe ist der Hirt seines Volkes, und auch wenn er Menschen hineinnimmt in seinen Hirtendienst, so eben nur, damit er als der einzige Hirt seines Volkes aufscheint und sich erweist in der Geschichte. Jesus aber steht nicht einfach in der Reihe jener, die von Jahwe für seinen eigenen Hirtendienst in Pflicht genommen werden. Jesu Hirtesein ist vielmehr Ausdruck der vor aller Geschichte, vor aller Schöpfung gründenden Zusammengehörigkeit zwischen Vater und Sohn. Es kann gar nicht anders sein: Die Sorge Gottes um sein Volk ist die Sorge Jesu; die Stimme Gottes, der sein Volk führt, klingt in der Stimme Jesu; die Liebe Gottes für sein Volk wirkt in der Lebenshingabe Jesu.

Jesus der Gute Hirt: Darin wird aber nicht nur sichtbar, wer er ist, sondern auch, wer wir sind. Spitz gefragt: Was tun in alle Ewigkeit Vater und Sohn miteinander? Es geht in diesem Dialog, der Gott selber ist, um uns, wir sind Gottes ureigenste und urinnerste Sache. Wir sind sein Interesse, wir sein „Gesprächsgegenstand“.

„Meine Schafe hören auf meine Stimme; ich kenne sie, und sie folgen mir. Ich gebe ihnen mein ewiges Leben. Sie werden niemals zugrunde gehen, und niemand wird sie meiner Hand entreißen. Mein Vater, der sie mir gab, ist größer als alle, und niemand kann sie der Hand meines Vaters entreißen“ (Joh 10,27–29). Weil der Vater größer ist als alle, weil er [20] dem Sohn „alles“ ist, deshalb sind diesem auch jene „alles“, die der Vater ihm gegeben hat und denen die Liebe des Vaters gilt. Innergöttliche, trinitarische Lebendigkeit und Gottes Heilssorge um den Menschen sind nicht zwei Realitäten, sondern eine und dieselbe. So ist es denn auch bedeutsam, daß es zwei schier gleich stark überlieferte Lesarten des Verses 29 gibt: „Mein Vater, der sie mir gab, ist größer als alle“ – „Was mein Vater mir gegeben hat, ist größer als alles“. Wir selber haben teil an der Größe des Vaters, sind in seinem Herzen und darum in dem des Sohnes geborgen.

Hier erreichen wir den befreienden Punkt, der es uns möglich macht, ohne Krampf und Überforderung, wenn auch freilich mit ganzer Hingabe den amor pastoralis zu leben. Wir können nicht mit unserer Liebe die unendliche Liebe Gottes zu jedem einzelnen und zu allen insgesamt einholen. Aber wir dürfen an diese jeweils ganz persönliche und zugleich universale Liebe Gottes in Jesus glauben. Aus diesem Glauben werden unsere Beziehungen zu den Menschen, auch wenn sie nur bruchstückhaft und punktuell zu sein vermögen, doch Verweis auf die Liebe Gottes, Ermutigung zum Glauben an die Liebe Gottes. Unser Hirtendienst wird zum sakramentalen Zeichen für den, der wahrhaft der Gute Hirt ist. Dabei ist die Aktion, ist der Einsatz ganz wichtig. Aber [21] er ist nicht alles und nicht das erste. Ich komme auf den Firmling Dominik zurück.

Gott spricht in alle Ewigkeit mit Gott über uns, über jeden von uns. Wir dürfen die Menschen, denen wir begegnen, in dieses Gespräch hineinheben und an ihm teilhaben.

Und noch eines kommt hinzu, ist entscheidend: Das Einssein von Vater und Sohn will gegenwärtig werden, will glaubhaft werden für die Welt in unserem Einssein miteinander (vgl. Joh 17,20–23).

Was heißt das? Was sagt das für „unseren“ amor pastoralis? Vielleicht, in Kurzform, dies: Mit Gott über die Menschen sprechen – so miteinander sprechen, daß Gott dabei und darin ist – Leben geben, seines und unseres dazu.