Das Wort für uns
[17] Gott ist der unter uns
Ein zweiter Anlauf: Der Atem der Jahrtausende, der hinweggeht über das winzige einzelne und seine Spuren verweht, dagegen die unersetzbare Kostbarkeit dieses einzelnen und seiner uns über Jahrtausende hin anschauenden Spur — das sind die beiden Dimensionen, deren Spannung man erfährt, wo man Geschichte erfährt wie in Israel und wo man im Horizont dieser Geschichte den Anspruch des Christlichen erfährt. Der Sinn des Ganzen, die Wahrheit des Ganzen, jenes, was hinter den ungezählten Figuren, Andeutungen und Versuchen der Menschheitsgeschichte steckt, soll hier, soll in diesem konkreten Leben Jesu eingelöst, zusammengefaßt, in seine Antwort und in seinen Sinn eingeborgen sein? Die Ausdrücke „Wort“ und „Fleisch“, die in unserer Formel spielen, verlieren hier ihre abstrakte Dürre, sie gewinnen die Kontur unseres gelebten Lebens.
Wort und Fleisch sind Signale für die beiden Richtungen, in welche unser Leben drängt und die dieses Leben zusammenzubinden versucht, ohne daß wir die Synthese schaffen. Wort und [18] Fleisch, das meint nicht eigentlich Geist und Leib. Wort meint Sinn, Tiefe, Überblick; Fleisch meint handgreifliche Wirklichkeit, unmittelbare Erfahrbarkeit, Macht und Nähe des Konkreten. Wir wollen verstehen, wir wollen Einsicht, wir wollen Sammlung, kurzum: wir suchen das Wort, das die vielen Buchstaben eint in den einen Sinn. Aber zugleich wollen wir Realität; wir sind in die Welt gewiesen und wollen die Welt gestalten, wollen in ihr uns bewähren und erfüllen. Sinnfindung und Weltbewältigung stehen in Konkurrenz zueinander. Wir wollen beides, aber das eine zieht uns immer wieder vom anderen hinweg.
Wie beides zusammengehört, das dürfen wir ablesen an der Botschaft, daß das Wort Fleisch geworden ist. Christentum ist nicht Rückzug in die Welt des Wortes, in ein Darüber, das sich von der Wirklichkeit nicht anfechten ließe, in einen Ideenhimmel, der sich sorglos über die Einzelheiten und Alltäglichkeiten spannt. Christentum ist aber auch nicht Aufgehen in Praxis, Geschichte, Gesellschaft, weder Macht und Erfolg mit allen Mitteln, noch Verherrlichung der Machtlosigkeit und Erfolglosigkeit.
[19] Wort und Fleisch treten in Beziehung zueinander, haben miteinander zu tun — und dies nicht im Sinn eines bloßen Aufstiegs, als ob Welt und Geschichte sich von innen her zum immer Höheren und Besseren, zum Wort entwickelten, oder umgekehrt im Sinn eines Abstiegs, in welchem ein innergöttliches Gesetz notwendig von der Idee zu deren Realisierung und Vollendung führte.
Nein, in einer Tat, in einem Willen, in einem Entschluß geschieht diese Beziehung: das Wort wird Fleisch. Das Wort, das in Gott ist und das Gott selber ist, wird vom Vater gesandt, entschließt sich, aus Liebe, zum Dasein mit uns und unter uns, nimmt die Wirklichkeit dieser Welt in allen ihren Schichten und Dimensionen an, erniedrigt und entäußert sich bis zum letzten.
Wer das Wort, wer den Sinn, wer die Wahrheit, wer die Tiefe sucht, der muß sich nicht zurückziehen von der Wirklichkeit. Es genügt aber auch nicht, sie bloß zu analysieren. Wer das Wort sucht, der trifft es an in unserem Fleisch, er trifft es an im liebenden, leidenden, geschundenen, getöteten und verklärten Antlitz Jesu. Das Wort, der Sinn von allem ist dies: daß Liebe [20] ist und daß Liebe recht hat, mehr recht hat als alles, Liebe, die sich entäußert, Liebe, der nichts zuviel ist.
Mitten in unserer Alltäglichkeit, mitten in unserer Welt begegnet uns der, welcher das Wort ist. Gott kommt dort auf mich zu, Gott gibt mir dort die Sinnantwort, wo ich stehe, wo ich lebe. Das Interesse Gottes für mich ist keine bloße Theorie. Es ist ein Leben in meinem Leben und für mein Leben. Deswegen sind die Schwierigkeiten, die mir in meinem Leben begegnen: sein Kreuz. Deswegen ist der Nächste, der neben mir steht: er selbst; ihm begegne ich im geringsten Bruder. Deswegen ist die menschlich-allzumenschliche Gemeinschaft von Kirche seine Gemeinschaft, in der trotz allem er selber lebt und durch die Geschichte geht. Und deswegen ist das armselige Wort, das uns verkündet wird, dennoch sein Wort. Mitten in unserem Leben begegnen wir ihm, können wir uns einlassen auf ihn, weil er dort sich auf uns eingelassen hat.