An die Verantwortlichen für die Jugendarbeit in den Pfarrgemeinden, März 1988

An die Verantwortlichen in den Pfarrgemeinden

5100 Aachen, im März 1988

Liebe Mitarbeiterinnen, liebe Mitarbeiter!

„Da sah ihn Jesus an, und weil er ihn liebte, sagte er …“ Der Abschnitt des Evangeliums, aus dem dieser Halbsatz (Mk 10,21a) genommen ist, trägt traditionell die Überschrift: „Der reiche Jüngling“. Der Text sagt nicht ausdrücklich, daß es sich um einen jungen Mann handelte. Aber er hatte offenbar den Weg seines Lebens noch vor sich, eine weittragende Entscheidung wartete auf ihn. Er stand, wo junge Menschen stehen, in ihren Chancen, Gefährdungen, Herausforderungen. Und Jesus hatte ihn im Blick. Den Menschen anblicken – ihn lieben – zu ihm sprechen; ich glaube, wir müssen diesen Rhythmus Jesu wieder lernen.

Wir bestimmen oft Schwerpunkte, starten Aktionen, ergreifen Initiativen. Viele aber, die diese in sich begründeten, oft notwendigen Planungen mittragen sollen, ziehen sich davor zurück, nicht weil sie zu träge oder zu eng sind, sondern weil sie nicht mehr können; es läuft eh schon so viel, noch etwas dazu geht einfach nicht mehr. Aber geht nicht doch immer neu das eine: jemand in den Blick nehmen? Nicht mit dem [2] andern dies und jenes anfangen, nicht ihn zu dem und jenem bringen wollen, nicht dieses und jenes Programm abwickeln, sondern einfach ihn wahrnehmen, ihn ernst nehmen, ihn an sich heranlassen? Das ist anspruchsvoller – und doch leichter, befreiender, menschlicher. Den anderen in den Blick nehmen, das Ja der Liebe sagen, und dann erst sprechen.

Das ist kein sicheres Erfolgsrezept. Jesus selbst hatte bei dem genannten Gespräch, unmittelbar und zunächst wenigstens, keinen Erfolg. Aber wo diese Situation gar nicht erst entsteht, die durch den Blick-Kontakt eröffnet wird, da kann nichts wachsen, da findet die Begegnung nicht statt, aus der die Entscheidung wächst.

Schier jeder von uns sieht heute wesentlich mehr Menschen, als man früher je hat sehen können. Die Medien transportieren uns Entlegenstes und Intimstes vom Menschen. Und oft ist das in der Tat aufrüttelnd, erweitert es den Horizont, weckt es Nachdenken. Aber nicht selten ist es doch auch ein Alibi, wirklich unmittelbar den anderen in den Blick zu nehmen.

So heißt eine der bedrängendsten Fragen für mich in der Tat: Haben wir die Jugend im Blick? Wir vermeinen, vieles von ihrem Leben mitzubekommen. Und doch, wie oft werden wir aus einer abgründigen Ahnungslosigkeit aufgeschreckt, wenn plötzlich da oder dort das herausbricht, was wirklich in diesen jungen Menschen lebt, wozu sie negativ oder positiv fähig sind. Sie persönlich, er in ihrem Innern waren uns nicht in den Blick gekommen.

Schule, Ausbildung, Stellensuche, der Stil des Umgangs mit dem Nächsten und mit den eigenen Empfindungen – all das hat sich im Verlauf von 10 oder gar 20 Jahren so tiefgreifend gewandelt, daß unsere eigenen Vorstellungen und Erfahrungen, wenn wir sie auf junge Menschen heute übertragen, mehr Vorurteil als Verstehenshilfe bedeuten. Wir müssen die Welt und das Leben junger Menschen heute neu buchstabieren lernen.

[3] Ich rede nicht einem Psychologisieren, einem grenzenlosen Einfühlen, gar einer Anpassung das Wort, die alles das für gut und richtig erachtet, was junge Menschen heute denken, fühlen und tun. Wäre dem so, dann hätte ich mich nicht auf die Begegnung mit dem „reichen Jüngling“ berufen dürfen. Aber gerade wenn wir auch nicht vor der Herausforderung und Entscheidung zurückschrecken, die zum Ernstnehmen des Evangeliums, aber auch zum Ernstnehmen junger Menschen gehören, können wir uns um so weniger das ersparen, was Jesus getan hat: Er blickte ihn an, liebte ihn, sprach zu ihm.

Lassen Sie mich dasselbe noch von einem anderen „Augenblick“ des Evangeliums her zur Sprache bringen. Als die ersten Jünger, von Johannes auf Jesus hingewiesen, es riskierten, ihn anzusprechen, stellten sie an ihn die Frage: „Meister, wo wohnst du?“ Und er sagte: „Kommt und seht!“ (vgl. Joh 1,35–39). Müßten nicht wir, die Gemeinden, die Erwachsenen, die Aktiven in Pfarrgemeinderäten, Kirchenvorständen, Verbänden und Gruppen, jene Frage, welche die Jünger an Jesus richteten, an die jungen Menschen richten? – „Wo wohnst du?“ Nehmen wir es andernfalls nicht ungewollt in Kauf, daß die junge Generation „wegwächst“ aus unseren Gemeinden und wir uns als Gemeinde davon ausschließen, Gemeinde für junge Menschen und mit ihnen zu sein? Ist es nicht zum Teil schon so, daß junge Menschen in unseren Gemeinden ein Eigenleben führen, das nur dann und wann auf schmalen Bahnen mit dem, was Gemeinde als ganze tut, verknüpft ist? Greift das Leben und Denken junger Leute wirklich in das ein, was Gemeinde als ganze denkt, tut, will?

Ich möchte betonen: Worum es mir bei dieser Bitte geht, die Jugend in den Blick zu nehmen, ist nicht eine bloße strategische Nützlichkeitserwägung im Hinblick auf eine Pastoral an jungen Menschen. Es ist vielmehr ganz einfach der Versuch, es so zu tun, wie Jesus es tut: Ich schaue dich an, weil du mich angehst – ich sage von innen her ein liebendes Ja zu dir – und deswegen habe ich den Mut, dich anzusprechen, mit dir ins Gespräch zu kommen, mich auf dich einzulassen.

[4] Natürlich weiß ich selbst nur zu gut, wie oft auch mir dies mit jungen Menschen nicht gelingt. Und doch darf ich sagen: Bei jeder Firmung, bei jedem Gemeindebesuch und eigentlich überall, wo ich unterwegs bin unter Menschen, trifft mich kaum etwas anderes so tief wie Blick und Anblick junger Menschen. Ich möchte diesen Blick und Anblick nicht vergessen bei meinem Leben und Tun. Und ich möchte Sie einladen, liebe Mitglaubende und Mitwirkende in den Gemeinden, mit mir gemeinsam junge Menschen in den Blick zu nehmen, sie zu fragen, wie sie leben und wo sie wohnen, und aufs neue, näher und tiefer das Gespräch mit der Jugend zu beginnen.

Mit einem herzlichen Gruß

Ihr
+ Klaus Hemmerle