Fastenhirtenbrief 1987
[2] Liebe Schwestern und Brüder!
Wenn ich irgendwo im Bistum einen festlichen Gottesdienst halte, dann richten sich oftmals fragende Kinderaugen auf meinen Bischofsstab. Was ist das für eine merkwürdige Darstellung da oben in der Krümme, diese übergroße und diese ganz kleine Gestalt? Es ist die kleine Maria ganz groß, und es ist der große Kaiser Karl ganz klein. Ich habe den Bischofsstab übernommen vom ersten Bischof des 1930 wiedererrichteten Bistums Aachen, Joseph Vogt. Es ist mir, als ob mich jedesmal diese Szene, der kleine Kaiser Karl vor der großen Jungfrau Maria, zur Umkehr mahnen wolle: Schau mit den Augen Gottes! Laß die bloß menschlichen Maßstäbe! Sei selber klein und sieh die Kleinen so groß, wie Gott sie sieht!
Das ist die Grundbotschaft Mariens, der Schutzpatronin unseres Bistums. Eine Botschaft gerade für dieses Jahr, in dem der Heilige Vater Maria unserem Glauben und Beten näherbringen will.
Wir sind von zwei Versuchungen heute besonders bedrängt. Von der einen berichten uns die Lesungen des ersten Fastensonntags: Der Mensch will aus sich selber groß sein, er will sein wie Gott. Das ist die Grundversuchung des Menschen. Aber da gibt es auch die entgegengesetzte Versuchung: Der Mensch hat nicht mehr den Mut zu jener Größe, die Gott in sein Wesen hineingelegt hat. Der Mensch wagt nicht mehr, seine Verantwortung für sich und die Welt wahrzunehmen; er wird mißtrauisch gegen sich selbst; er mag sich nicht mehr, er zieht sich zurück, er wirft sich weg. Mut zum Kleinsein und Mut zum Großsein gehören zum Menschen. Anderenfalls verdirbt er sich und die Welt.
Und da ist eben Maria das Zeichen, das Gott uns an den Himmel und in die Herzen schreibt. Sie ist der ganz kleine und zugleich der ganz große Mensch.
Sie ist ganz klein, sie steht am Rand, sie bleibt im Verborgenen. Sie vollbringt keine aufsehenerregenden Taten. Die Worte, die sie uns sagt und die wir in den Evangelien lesen, sind nicht originell, sondern Wiederholungen des Wortes Gottes, das uns bereits im Alten Testament gegeben ist. Aber gerade hier ist der Angelpunkt. Nicht ihr Wort, sondern sein Wort, nicht ihr Plan und Wille, sondern sein Plan und Wille haben Vorrang für sie. Sie bleibt Schale, Hintergrund, Widerhall.
Daher aber hat Gottes Wort, das uns geschaffen hat und das uns erlöst, in ihr eine einzigartige Chance. Sie selber wird zum reinen Spiegel dieses Wortes. Sie, ihr Wesen und ihr Leben werden: gelebtes Wort. Betrachten wir Maria von hier aus, dann ist sie nicht Stolperstein auf dem Weg der Christen zur Einheit, sondern Brücke.
Maria, gelebtes Wort, setzt dem Schöpfer- und Erlöserwort kein Hindernis entgegen, und so erscheint in ihr das reine Bild des Menschen. Ich bin lieber und leichter Mensch, weil es Maria gibt. Ich bin dankbar, daß ich in der kleinen und unscheinbaren Magd des Herrn erahnen darf, was Gott sich bei der Erschaffung des Menschen gedacht hat. Ich bin froh, daß ich die Erlösung anschauen darf in einem Geschenk ohne Makel, in einem bis in die Wurzel hinein geheilten Menschsein. Auch wenn in mir Schatten und Brüche sind, die der Heilung be- [3] dürfen, so habe ich mehr Mut zu meinem Menschsein, weil es den Menschen ohne Schatten und Bruch, den Menschen im ganzen Heil Gottes gibt: Maria, voll der Gnade. Wiederum: Mariens Größe ist allein die Größe Gottes; er allein ist in ihr mächtig - so verdunkelt sie nicht Gott, sondern Gott als der Alleingroße tritt in ihr ans Licht.
Die größte Größe des Menschen freilich ist dies: daß er Gott nicht nur in sich tragen, sondern daß er Gott weiterschenken kann. Maria ist gerufen vom Wort und erfüllt von der Gnade, um Weg Gottes in die Welt zu sein. Ihr Herz und ihr Schoß werden der Weg, auf dem Gottes Reich kommt. Vor den großen Spaltungen der Christenheit, auf dem Konzil von Ephesos 431 wurde das Bekenntnis zu Maria als Mutter Gottes, als Gottesgebärerin formuliert, und die Christenheit hat dieses Bekenntnis als gemeinsames Gut bis heute durchgetragen. Gott in sich tragen, um Gott schenken zu können: das ist wahrhaft die höchste Berufung des Menschen. Nicht das Amt, sondern die Mutter, nicht Petrus, sondern Maria setzt in der Logik des Evangeliums den Maßstab des Menschen.
Liebe Schwestern und Brüder! Das Kleinsein und das Großsein Mariens in knappen Strichen zeichnend, sind wir schier unbemerkt in der Spur jener Vaterunserbitte gegangen, die unseren Aachener Katholikentag 1986 prägte: „Dein Reich komme!“ Maria spricht mit ihrem Wesen das Wort „dein“: nicht mein Wort, sondern dein Wort, nicht mein Wille, sondern dein Wille. In ihr wohnt Gottes Reich: Gott ist wirklicher, wichtiger und mächtiger in ihr als alles, und so strahlt Gottes Herrlichkeit in einem Menschen auf und gibt uns Hoffnung und Mut, Mensch zu sein. Maria kann aber dieses Reich nicht machen, sondern es kommt, es kommt zu ihr und durch sie. Sie kann nur eines: sich öffnen, sich hinhalten, Raum und Weg dieses Kommens werden. Dein – Reich – komme! Ich habe beim Katholikentag den Vorschlag gemacht, wir möchten beim täglichen Vaterunsergebet je einen Atemzug bei jedem dieser drei Worte einhalten. Beten und leben wir in diesem Jahr wach und bedacht täglich diese Bitte, beten und leben wir sie mit Maria, und es wird sich etwas ändern in unserem Leben und um uns herum: Dein – Reich – komme!
Ihr Bischof
+ Klaus