An Schülerinnen und Schüler der 9. Klasse einer Realschule

[167] Aachen, den 12. 2. 1987

Liebe Ulrike, liebe Schülerinnen und Schüler der Klasse 9!

Habt vielen Dank für euren freundlichen Brief; vielleicht habt ihr in der Zeitung gelesen, dass ich in der Zwischenzeit in der Region Kempen-Viersen Regionaltag hielt und dabei auch einen Abend miterlebte und mitgestaltete, der dem Thema Ökumene gewidmet war und der mir als ein heimlicher Höhepunkt des Regionaltages erschien. Gerne versuche ich, auf eure Fragen einzugehen. [168]

  1. Mit dem Wort „Reformation“ verbinden sich für mich eine Bewunderung und ein Schmerz. Eine Bewunderung dafür, dass unsere Vorfahren vor 400 bis 500 Jahren mit einer solchen Leidenschaft und mit einem solchen Ernst sich den Fragen des Glaubens gestellt und klar erkannt haben, dass in ihnen nicht nur eine Spezialität für besonders Fromme begraben ist, sondern dass in ihnen die Lebensfragen des Menschen überhaupt zur Debatte stehen. Ein Schmerz, oder mehr als nur ein Schmerz: Schmerz darüber, dass es nicht gelang, trotz guten Willens auf vielen Seiten die Einheit zu wahren und neu zu gewinnen, die Jesus so sehr als die Glaubwürdigkeit seiner Jünger vor der Welt von uns verlangt; Schmerz darüber, dass auf den verschiedenen Seiten wichtige Anliegen der je anderen Seite nicht hinreichend gesehen und verstanden wurden; Schmerz darüber, dass Missstände in der katholischen Kirche mit ein Anlass waren, dass es zum Bruch in der Einheit der Kirche kam.

  2. Bei großen geschichtlichen Ereignissen gibt es immer eine Fülle von Ursachen; man kann da an einen großen Strom denken, der zwar irgendwo eine Quelle hat, aber er wäre nie dieser große Strom ohne die vielen Nebenflüsse, die in ihn münden. Ein paar der Ursachen, die für die Kirchenspaltung des 16. Jahrhunderts mitverantwortlich sind, habe ich in der ersten Antwort genannt. Aber nicht nur menschliches Versagen, Missverständnisse und Unverständnis und mangelndes Hören auf den Partner waren an der Entwicklung von damals schuld, es spielten auch große geistige und gesellschaftliche Umwälzungen eine Rolle; denn zur selben Zeit, zu welcher die Reformation entstand, ist auch in der Gesellschaft, in der Wissenschaft und Kultur vieles von Grund auf anders gewor- [169] den. Man kann nicht so einfach im Nachhinein darüber urteilen, ob eine Entwicklung hätte vermieden werden können oder nicht. Wir sollten den Blick jetzt vielmehr nach vorwärts richten und, freilich aus einer genauen Kenntnis der Geschichte und ihrer Hintergründe, den Auftrag Jesu ernst nehmen, „dass alle eins seien“. Als einen wichtigen Schritt auf dem Weg dahin erachte ich ein schwieriges, aber dringend notwendiges Buch, das eine Kommission aus evangelischen und katholischen Theologen im Auftrag der gemeinsamen ökumenischen Kommission der beiden Kirchen in Deutschland erarbeitet hat und das die Frage prüft, ob die gegenseitigen Verwerfungen (Verurteilungen der Lehre) von damals die Partner von heute noch treffen. Das Resultat dieses Buches ist, dass viele dieser damaligen Verwerfungen den heutigen Partner nicht mehr treffen, dass aber doch noch ein großes Stück aufzuarbeiten ist, ehe eine verantwortliche Einheit der Kirche erreicht werden kann.

  3. Die Kirche, jede Kirche muss immer neu zu Jesus Christus hin umkehren. Ich glaube nicht, dass ein paar äußere Änderungen bei der evangelischen und bei der katholischen Kirche die Einheit herbeiführen würden. Ich glaube vielmehr, dass wir auf den entgegengesetzten Seiten eines Kreises stehen, der eine einzige Mitte hat: Jesus Christus. Und je mehr wir, jede Kirche, diese eine Mitte suchen und auf diese eine Mitte schauen, desto näher kommen wir auch zueinander. Der Weg, der wahrhaft zueinander führt, geht allein durch diese Mitte.

  4. Ich habe schon den Auftrag Jesu, den er im Abendmahlssaal sprach, erwähnt: „Lass alle eins sein, damit die Welt glaube!“ Wir können gar nicht anders, wir haben von Jesus her die [170] Pflicht, alles nur Mögliche zu tun, um zur Fülle dieser Einheit zu finden. Aber das erfordert noch viel Arbeit. Es ist da wie mit einem Haus: Im Endeffekt baut man es nur dann wahrhaft schnell, wenn man es gut und gediegen baut, sonst fällt es, ehe man einzieht, wieder zusammen.

  5. Ich bin ein überzeugter Katholik, aber gerade als solcher bin ich froh und dankbar für die Freundschaft mit vielen evangelischen – aber auch anglikanischen, orthodoxen und einer anderen Konfession zugehörenden – Christen. Ich stelle fest, dass in anderen Kirchen und Gemeinschaften kostbare Formen von Frömmigkeit gewachsen sind, die erhalten bleiben sollen. Wir alle haben Schätze, die wir einander schenken könnten. Aber ich wünsche mir, und ich bin sicher, dass Jesus sich wünscht, dass wir uns diese Schätze in einer Kirche gegenseitig schenken, dass wir bis zu jener Einheit des Glaubens und der Liebe kommen, in welcher wir gemeinsam unseren Glauben bekennen und Eucharistie feiern können. Besonders aus diesem Grund habe ich mir als Bischof das Leitwort gewählt, das ich schon genannt habe: „Lass alle eins sein, damit die Welt glaube!“ (Joh 17,21).

Mit herzlichen Grüßen und Wünschen

euer

Klaus Hemmerle