Fastenhirtenbrief 1980

[14] Fastenhirtenbrief 1980

Liebe Schwestern und Brüder!

Wir haben Raumnot. Daß wir in Zeitnot sind, das hört man oft sagen. Aber das andere ist genauso bedrängend: Unser Raum wird zu eng.

Zu eng? Wieso? Leben wir nicht in der Epoche der Weltraumfahrt? Gewiß. Aber nicht sie, nicht der Griff nach dem Mond und den Sternen beherrscht das Bewußtsein der Menschheit zum Anfang der achtziger Jahre. Weit eher die Angst, daß unser Lebensraum verdorben wird. Die Abfälle unseres Konsums drohen unsere Erde zur Müllhalde zu machen. Sicher gibt es da neben begründeter Sorge besinnungslose Panik. Aber daß eine Entwicklung, die sich schon lange abzeichnet, auf einmal so lähmend und erschreckend auf viele fällt, das hat tiefere Hintergründe. Und da frage ich mich, frage ich uns: Stimmt denn der Raum unseres alltäglichen Lebens? Stimmt der Raum zwischen uns, der Raum, in dem wir umgehen miteinander, unseren Alltag und Feiertag gestalten? Muß nicht dieser innere Raum, dieser menschliche Zwischenraum zuerst in Ordnung kommen, damit wir auch den Außenraum miteinander menschlich gestalten können?

Ich habe nach Erfahrungen aus unserem Alltag gesucht, die Sinnbild für unseren Lebensraum insgesamt sind. Da ist der Supermarkt, bei dem jeder auf die Regale starrt, um das günstigste Angebot zu finden. Man muß sich nur vorsehen, daß man mit seinem Einkaufswagen nicht an den des anderen stößt. Drankommen, finden, was man will, nicht zu kurz kommen - das ist alles. Raum ohne Mitte, Raum, in dem es eigentlich kaum Begegnung gibt.

Aber wie ist es in einem Betrieb, wo jeder an seiner Stelle, ziemlich isoliert, vor sich hinarbeitet? Und wie ist es daheim? Wo das, was verbindet, nur die Mattscheibe ist, entsteht dort ein wohnlicher, bergender Raum? Und um einen Kirchenraum, in dem sich jeder nur privat mit seiner Andacht, seiner Moral und seiner Kultur versorgen ließe, stände es kaum anders. Raum, der einlädt und anzieht, ist aber auch dort nicht, wo nur zwei es gut miteinander können. Raum zum Atmen wäre eine nach außen verschlossene Zelle nicht. Die Welt muß drinnen sein - dann erst entsteht Lebensraum.

Wo ist solcher Raum? Er ist nur, wo eine Mitte ist. Eine Mitte, die uns verbindet, die Gemeinschaft stiftet, eine Mitte, die uns öffnet für die Welt.

Diese Mitte gibt es. Es gibt einen, in dem wir Gott und den Menschen finden, jenen, der das Schicksal und das Herz eines jeden einzelnen von uns und von allen Milliarden Menschen in sich hineingenommen hat. Jenen, der uns liebt bis zum Äußersten und in dessen Liebe wir wirklich zusammengehören: Jesus, unser Bruder, der menschgewordene Sohn Gottes. Er hat uns versprochen: Wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind, da ist er selbst in ihrer Mitte. So miteinander leben, daß er in der Mitte sein kann, das schafft den Raum, den wir brauchen.

Liebe Schwestern und Brüder, dieser Brief soll ein Geburtstagsbrief für unser Bistum sein. 1980 wird es 50 Jahre alt. Und das Bistum, das sind doch wir, Sie und ich. Unser Bistum soll ein Raum werden, in dem wir leben können, ein Raum, in dem Jesus selbst unsere lebendige Mitte ist.

Aber wie macht man das, wie lebt man mit Jesus in unserer Mitte? Drei „Kontrollfragen“ könnten den Weg dahin abstecken. Einmal: Ist wirklich Er selbst die Mitte, kommt es uns auf sein Wort und seinen Willen mehr an als auf unsere Ideen und Ansprüche? Zum zweiten: Nehmen wir wirklich einander gegenseitig an, sind wir bereit, den ersten Schritt aufeinanderzu zu tun, immer neu miteinander anzufangen, ohne Nachtragen und ohne Vorurteile? Und zum dritten: Sind wir offen für die anderen, fürs Ganze, haben wir ein Herz so weit wie der Herr selber, ein Herz für alle?

Jesus in der Mitte unseres Bistums: Wo soll das geschehen?

Es soll geschehen in jeder Gemeinde. Gruppen und Generationen, Priester und Laien, Ehrenamtliche und Hauptberufliche sollen einander so annehmen, so miteinander umgehen, so zusammenarbeiten, daß aus der Organisationseinheit ein „Lebensraum Gemeinde“ wird. Und Maßstab dafür ist eben: Jedesmal, wenn wir zusammenkommen, soll der Herr selber es in unserer Mitte „aushalten“ können.

Dasselbe Leben soll sich auch zwischen den Gemeinden entfalten. Es gilt heute mehr denn je, über den eigenen Kirchturm hinauszuschauen, nicht nur an der eigenen Versorgung mit Priestern und Gottesdiensten und sozialen Einrichtungen interessiert zu sein, sondern für die Nachbargemeinde genauso zu denken wie für die eigene. Dann geschieht im eigentlichen Sinn Bistum: Jesus Christus inmitten der vielen Gemeinden.

[15] Und an den Grenzen des Bistums kann diese Bewegung nicht haltmachen. Wir sind Bistum in der Weltkirche. Christus soll leben können zwischen Aachen und Kolumbien, zwischen Aachen und Köln, zwischen Aachen und Rom, zwischen Aachen und unseren Nachbarn in Belgien und Holland. Ans Ganze denken, fürs Ganze Sorge tragen.

Liebe Schwestern und Brüder! Bistum Aachen: Lebensraum für Jesus, Lebensraum für uns - er immer in unserer Mitte. Das wünsche ich uns, und dazu segne uns der Vater und der Sohn und der Heilige Geist.

Aachen, im Februar 1980

+ Klaus

Bischof von Aachen