Fragen nach Gott

[21] Das Geschick der Gottesfrage in der Neuzeit

3.1 Pascals Argumentation, die Unabweislichkeit der Gottesfrage betreffend, ist geschichtlich nicht oder wenigstens nicht in seinem Sinn zum Zug gekommen. Daß alles anders ist, wenn Gott ist, und daß gerade darum die primäre Frage nicht lautet, ob Gott ist, sondern daß alles darauf ankommt, sich ins Verhältnis hörender Offenheit freizugeben, damit Gott von sich aus aufgehen und den Menschen angehen kann – das ist keine „systembildende“ Prämisse geworden für das Bewußtsein der Neuzeit. An ihrem Ende wenigstens begegnet es weithin barem Unverständnis, wenn um des Menschseins des Menschen willen, wenn um des Sinnes menschlicher Existenz willen die Frage nach Gott als das alles Entscheidende beschworen wird. Dieses Menschsein scheint geschlossen in sich selbst oder zurückgeworfen auf sich selbst zu sein; der Bezug zu Gott, um dessentwillen es von Interesse ist, ob es diesen Gott gibt, prägt menschliches Selbstverständnis nicht mehr.

Einem anderen Zug in Pascals Argument von der Wette – allerdings entgegen der inneren Struktur des Pascalschen Gedankens – war ein kräftigerer Nachhall beschieden. Um seinen Partner „abzuholen“, hat Pascal bei dessen Bedürfnis, sicher zu gehen, angeknüpft. Leben mit der Hypothese Gott wurde ihm im ersten Verhandlungsgang als vorteilhafter, als sicherer dargetan als jenes Sichergehen, das Hypothesen auf sich beruhen läßt. Gott im Interesse der Sicherung menschlichen Selbstandes und menschlicher Erkenntnis – das wurde zur eigentlichen „Funktion“ des Gottes neuzeitlichen Denkens.

Wie konnte solches geschehen? Und wie ist von solchem Geschehen unsere heutige Situation bestimmt?

3.2 Im folgenden sei eine vereinfachende „Idealkonstruktion“ neuzeitlichen Bewußtseins versucht, die den Untertönen und Unterströmen der Entwicklung nicht voll Rechnung trägt, ja die nicht einmal die Intentionen und Motive der großen Denker der Neuzeit durchgehend integriert, die aber nichtsdestoweniger die Tendenzen und Prämissen des allgemeinen Bewußtseins kennzeich- [22] net, in dem heute aufgrund der neuzeitlichen Geschichte die Gottesfrage einen veränderten Stellenwert erhalten hat.

Der methodische Ansatz neuzeitlicher Wissenschaft ist es, die Dinge so zu sehen und so zu erklären, wie sie sich ohne die Prämisse Gott fassen lassen. Das „etiam si deus non daretur“ des Hugo Grotius[9] kann, von seinem unmittelbaren Anlaß gelöst, wie eine Devise über den Gang neuzeitlicher Wissenschaft geschrieben werden. Es wäre falsch, dieses methodische Absehen von Gott als gottwidrig, als glaubensgefährdend abzutun. Zwei Dinge müssen jedoch gesehen werden: Einmal kommt Gott innerhalb der neuzeitlichen Wissenschaften nicht vor; er darf es gar nicht, denn so entspricht es dem methodischen Ansatz. Zum anderen aber werden – und auch das ist legitim – immer mehr Lebensbereiche in immer umfassenderer Weise von der neuzeitlichen Wissenschaft geprägt, das ganze Dasein wird zunehmend rationalisiert, technisiert, funktionalisiert. Auch der Konsum, auch die Alltäglichkeiten, auch Krankheit, Tod und seelische Konflikte sind Größen, denen man mit Mitteln der Wissenschaft beikommen kann. Immer mehr von dem, was mir in meinem Alltag begegnet, fällt unter die Reichweite der methodischen Prämisse: etiam si deus non daretur. Man erklärt und steuert die Dinge, wie sie sich aus sich selber erklären und steuern lassen, und so entsteht ein Geflecht des Lebens, in dem keine Lücke mehr offen ist, daß Gott darin vorkäme. Das Interesse, das alltägliche, durchschnittliche Interesse an Gott wird geringer.

Dies hat eine doppelte Konsequenz: Zum einen rückt Gott aus dem Blickfeld des Menschen, es kommt zu einem – überspitzt gesagt – methodischen Atheismus. Gott braucht keineswegs theoretisch geleugnet zu werden, doch findet eine eigentümliche Trennung zwischen Leben und Glauben, zwischen den Fragen des Daseins und der Frage nach Gott statt. Man fragt die Automaten, die Tabellen, die Experimente, aber man fragt nicht Gott. Gott mag existieren, aber er rückt vor die Klammer, innerhalb deren das Leben abläuft. Der Gott vor der Klammer und die Klammer, [23] die, zusammengehalten durch die Methodik neuzeitlicher Wissenschaft und nach ihr konstruierter Systematik der Gesellschaft, Welt und Dasein in sich trägt, treten auseinander.

Das hat aber – und dies ist die zweite Konsequenz – auch seine Rückwirkung für den Gott, der allenfalls vor dieser Klammer steht. Dieser Gott verhält sich nämlich nicht mehr zu den einzelnen Daten und zu den einzelnen Augenblicken meines Lebens, zu den einzelnen Beziehungen, Aufgaben und Schwierigkeiten, die mich beschäftigen, sondern nur noch zur Klammer im ganzen. Gott wird der Garant dafür, daß es in der Klammer klappt, aber was in der Klammer steht, klappt kraft des immanenten Gesetzes, das die Klammer bestimmt, und nur dieses Gesetz selbst steht in Bezug zu Gott, in einem Bezug, der indessen nicht mehr auf existentielle Weise mich betrifft, meine Sache ist. Es ist typisch, daß der Deismus weithin das Gottesbild der Neuzeit bestimmt hat und in mannigfacher Abwandlung auch heute noch, bis tief ins scheinbar unangefochten Christliche hinein, das Gottesverhältnis bestimmt.

Um es nochmals zu betonen: Deismus, Trennung des Lebens von Gott, das ist nicht eine notwendige Folge neuzeitlicher Wissenschaft, nicht ein unentrinnbares Geschick, erst recht nicht eine Schuld, die dieser Wissenschaft anzulasten wäre – aber es ist eine Konsequenz, die sich geschichtlich im Vollzug des Ansatzes neuzeitlicher Wissenschaft durchgesetzt hat. Gerade ein Umstand, der deutlich macht, daß neuzeitliche Wissenschaft nicht von ihrer Intention her Atheismus sein wollte, bestätigt und trägt die gezeichnete Entwicklung: Es kam am Anfang der Neuzeit zu einer Art Arbeitsteilung zwischen den exakten Wissenschaften, die sich darum kümmern, wie die Dinge an sich selber und in sich selber sind, und der Metaphysik, die die Prämissen sicherstellt, und unter diesen Prämissen spielt gerade Gott die entscheidende Rolle. Ein Denken, das aus sich selber eine „mathesis universalis“, eine allumgreifende und systematische lückenlose Wissenschaft begründen will, ist von sich selbst, von seiner Kraft und seinem Anspruch beunruhigt, und es will seiner selbst, seiner Entsprechung zur Wirklichkeit sicher, es will bei seinem ungeheuerlichen Unterfangen gerechtfertigt sein. Die Siche- [24] rung des Denkens und seines Zusammenhangs mit der Wirklichkeit wird nun aber vorgenommen durch die Sicherung Gottes – und gerade so wird dieser Gott zum Vorzeichen vor der Klammer, von der die Rede war. Die Stellung Gottes im System läßt sich von Descartes bis Kant hin in solchem Sinn interpretieren, und es liegt in der – wiederum nicht notwendigen, aber naheliegenden faktischen – Konsequenz dieser Position Gottes, daß die zu sich selbst entschiedene Subjektivität, die alles aus sich selber setzt, in der Folge daran geht, ihre Voraussetzung „ab extra“ ins „intra“ zu verlagern, den Gott vor der Klammer in sich selbst hineinzuziehen. Das führt zwar zu Augenblicken des religiösen Pathos, aber dieses Pathos wird in der Regel zum Pathos der Vernunft für sich selbst. Fazit dieser Entwicklung heute: Gott wird weithin nicht mehr „gebraucht“, die Lücke für den „Lückenbüßer“ Gott ist unerheblich geworden; es scheinen eher die Schwachen, die nicht ganz mit dem Gang des Geistes und der Zeit Mitgekommenen zu sein, die noch nach Gründen und Anlässen suchen, warum und wofür sich dieser Gott doch noch brauchen läßt.