Dein Herz an Gottes Ohr

[23] Sammlung

I

Ein Jünger fragt den Meister: „Wohin muß ich gehen, um mich zu sammeln?“ Der Meister fragt zurück: „Wo sammeln sich die Wasser?“ Der Jünger erwidert: „Am tiefsten Punkt.“

Der Meister: „Du hast gut geantwortet. Zur Sammlung kommst du, wenn du dich klein machst. Ganz unten, nur dort kannst du, leer von dir selbst, Gottes Fülle fassen. Erniedrige dich, demütige dich – dann bist du gesammelt vor Gott.“

Der Jünger blickt erstaunt: „Gestern war ein anderer Jünger bei dir, und du hast ihm gesagt, Sammlung heiße auf den Berg steigen, Sammlung geschehe an der Spitze unseres Geistes.“

Der Meister lächelt: „Wenn du Gottes Leben in dir aufnehmen willst, dann mußt du an den untersten Punkt. Wenn du Gottes Licht ungetrübt sehen willst, dann mußt du an den obersten Punkt. Du mußt alles hinter dir lassen, bis du selbst und die Welt dir nicht mehr den Blick verbauen.“

Der Jünger wird unruhig: „Aber wie soll ich es nun wirklich halten? Soll ich zur Tiefe streben oder zur Höhe?“

Der Meister: „Es gibt einen Punkt, der ist ganz unten und ganz oben zugleich. Es ist der gegenwärtige Augenblick. Lebe nur in ihm, dann bist du klein wie [24] ein Kind und groß wie die Ewigkeit. Sammlung geschieht im Augenblick.“

II

Ein Jünger kommt aus dem Chor der Mönche. Der Meister sagt zu ihm: „War das nicht eine herrliche Liturgie?“ Der Jünger antwortet: „Gewiß, Meister. Aber ich selbst konnte mich einfach nicht sammeln, ich versuchte, jedes Wort wach mitzuvollziehen; und da war ich am Schluß erschöpft wie jemand, der hinter einem fahrenden Wagen einherkeucht und ihn doch nicht erreicht.“ Der Meister sagt: „Die Texte und Gesänge, die Psalmen und Lesungen sind nicht ein fahrender Wagen, sondern ein Garten voller Blüten. Sei du der Schmetterling, der in diesem Garten einherfliegt und sich einmal auf diese, einmal auf jene Blüte setzt und verweilt. Das ist genug. Nur wer den Mut hat, nicht alles zu haben, hat das Ganze.“