Im Konkurrenzkampf der Weltanschauungen

[24] Gottes persönliches Fürwort

Für jeden von uns steht heute ein Kreuz abholbereit. Es muß jedoch heute noch abgeholt werden! Denn sonst holt es uns ab, und dann fühlen wir uns schrecklich bedrückt und niedergeschlagen und merken zudem nicht einmal, daß es das Kreuz war, das uns abholte. Wenn wir aber selbst den Mut haben zum Abholen, dann ist das Kreuz die kostbarste Sache der Welt. Nur finden müssen wir eben dieses Kreuz im Gewirr und in der Hast unseres Tages. Und dazu nun einige Tips. Der erste und sicherste Name dieses Kreuzes heißt Ich. Ja, genau dieses sonderbare Ich, das uns aus dem Spiegel anstarrt, so hohl, so fremd, so glatt, so zum Aufregen langweilig, so verschlossen in sich. Dieses Ich, von dem wir nicht loskommen, das uns bei allem, was wir unternehmen möchten, an den Fingern klebt wie Öl. Dieses Ich, das vielleicht aber auch so wenig zu fassen ist, daß wir es gar nie gesammelt in der Hand halten können, daß es uns wegrinnt wie Wasser, das sich nicht formen läßt. Dieses Ich, das die anderen aufregt und das keiner zu verstehen scheint, das nicht nur mir, sondern auch denen um mich herum im Wege steht. Dieses mein Ich hat schon einmal Einer als sein Kreuz erfahren – und angenommen und in sich hineingenommen und durchgelitten. In Ihm ist es bestanden, gesammelt, verwandelt, ver-[25]schenkt. Als Sein Kreuz vermag auch ich es „abzuholen“ und zu tragen und zu lieben. Zweiter Name des Kreuzes, ungefähr genauso häufig und beinahe genauso schwierig: Du. Der neben mir, der vielgerühmte „Nächste“. Der, den ich mir vielleicht selber ausgesucht habe – und nun bist du so ganz anders, als ich dich mir vorstellte. Oder der, den ich mir gerade nicht aussuchen konnte und der mir nun auf der Pelle sitzt, aufdringlich, unumgänglich, unausstehlich. Du, den ich nicht kenne – gerade weil ich dauernd mit dir zu tun habe. Du, den ich – wenigstens vermeintlich – so glatt durchschaue, daß du mir nichts mehr zu sagen hast. Du, der sich mir immer wieder entzieht. Und bin ich endlich einmal an dich herangekommen, dann bist du wieder wie fort. Du, der mir ganz einfach auf die Nerven geht, weil du bist, wie du bist. Und ich weiß doch, daß du nichts ändern kannst. Du, der du mich suchst, und wir finden nicht den Schlüssel zueinander. Du, den ich liebe, der mir nahe ist – und in dessen innerster, verborgenster Not ich hilflos und ratlos dastehe. Du – wie auch immer --, zu dem unser beider großer Bruder ein Du gesagt hat mit seinem Blut, mit einer Liebe, die alles erträgt, alles versteht, alles vermag, du, in Ihm mir so nahe wie mein eigenes Ich. Du, das Kreuz seiner Liebe für mich. Weitere Namen des Kreuzes: Er, Sie, Es. Also zunächst einmal der Mensch in der dritten Person, der andere, zu dem es keinen Weg, mit dem es kein Gespräch, für den es keine Anrede gibt und der doch „dazwischen“ ist in meinem Leben, mit seinem Einfluß, mit seiner anonymen Macht. Er, der ferne, fremde „Vorgesetzte“, der Boß, von dem ich abhänge und der mich nicht „kennt“, keine Notiz von mir nimmt. Oder eben jener Dritte, der mir das Du verdirbt, es besetzt und abzieht von mir. Aber auch der Gott in der dritten Person, jener Schweigende, Bodenlose, in dem mein Schrei zu verhallen, an dem meine Anrede abzuprallen, an dem mein Versuch, zu vertrauen, neu anzufangen, mich festzumachen, immer wieder abzugleiten scheint. Jener Gott, vor dessen dunklem und fremdem Willen Jesus zu zittern begann, in dessen Feme er sein „Gott, mein Gott warum hast du mich verlassen?“ hineinrief: Sein Kreuz ist das Meine. Und schließlich das Es, dieses unbestimmte und doch so drückende Etwas: Wozu überhaupt? Ist das nicht alles sinnlos? Was soll mein Leben? Die Umstände, das Schicksal, der Schmerz, vom banalen Kopf weh bis zum zehrenden, lähmenden Leiden des Innersten, die Versuchung, die Traurigkeit, die Langeweile, der Streß, die Last des Versagens, die mir selbst verbor-[27]gene und doch mich quälende oder aber die offene Schuld. Doch all dieses Es ist nicht mehr namenlos, seit sich die Liebe dieses Einen so weit geöffnet hat, daß aller Schutt der Menschheitsgeschichte auf Ihn und in Ihn hineingefallen ist, aufgefangen vom grenzenlosen Erbarmen. Der Namen des Kreuzes ist noch kein Ende: Wir heißt oft das Kreuz. Wir, diese Freunde, wir, diese Familie, wir, diese Arbeitskameraden, diese Wohngemeinschaft, diese Gruppe, dieser „Kreis von Gleichgesinnten“, wir, diese Gemeinde, wir, diese Kirche. Es drückt mich, nicht mehr allein sein zu können, es verwirrt mich, angebunden zu sein an diese anderen, es beschämt mich und macht mich ratlos, nicht ausscheren, mich nicht entfernen zu können. Vielleicht war ich so froh, endlich Gemeinschaft gefunden zu haben – und jetzt ist ihr Anspruch mir schier unerträgliche Last. Vielleicht dachte ich: Ja, da gehöre ich hin! Und nun bin ich dabei – und doch heimatlos. Aber habe ich schon an den gedacht, der ganz verlassen und zugleich ganz eingetaucht in die Solidarität mit dem großen, umgreifenden Wir aller Menschen am Kreuz hing? An den, dessen Einsamkeit uns alle in sich trug und so zum neuen, unlöslichen Wir hat werden lassen? Ihr, auch so heißt das Kreuz. Ich allein, abgeschnit-[28]ten, fremd, außerhalb, wie durch eine unsichtbare, aber auch undurchdringbare Glasscheibe von den anderen isoliert, von jenen, die mit sich selbst beschäftigt, die unter sich sind, als ob ich nicht da wäre. Jene anderen, mit denen kein Gespräch gelingt, die kein Interesse an mir haben, zu denen ich nicht Wir sagen kann, zu denen ich Ihr sagen muß. Doch wer war so abgeschnitten, so gegenüber, so abseits, so „vor der Tür“ wie Der am Kreuz? An meinem Kreuz! Sie – die ganze Menschheit. Ja, auch was irgendeiner leidet, noch so weit weg, mein eigenes Dasein nur durch eine flüchtige Information am Bildschirm streifend, was irgendeinen bewegt und angeht auf der Welt, ist mein. Denn es ist Sein, Er hat es sich zu eigen gemacht, der alle Last der Welt als die Seine getragen hat. Auen dieses Kreuz gilt es heute zu finden für mich: das Kreuz der Menschheit. Nun, wir haben es längst gemerkt: Das Kreuz, das sind die persönlichen Fürwörter, durchdekliniert durch alle Situationen des Tages. Jedes Für-Wort, das für jemand oder etwas über meine Lippen kommt und durch meinen Sinn geht, ist Fürwort für das Kreuz, das heute auf mich wartet; denn es ist Fürwort für Ihn, in dem ich jeden und alle und alles finde, weil Er alle und alles „gefunden“ hat in der Liebe bis zum Letzten, in der Solidarität bis zum [29] Kreuz. Und dieses Kreuz, Jesu Kreuz und mein Kreuz, das in seinem enthalten ist, ist Gottes persönliches Fürwort für mich. Gerade in dem, was mein Kreuz ist, sagt er mir: Ich bin da für dich. Das sagt er mir, ganz persönlich – aber auch dir, ihm, uns, euch, ihnen ... Von ihm her wird mein Kreuz, wird jedes Kreuz unser göttliches Fürwort füreinander. Wenn wir uns einlassen auf unser Kreuz, lassen wir uns ein auf Ihn, aufeinander, läßt Er sich ein in unsere Mitte.