Das Wort für uns
[27] Gottes Wort wird Schweigen – Gottes Schweigen wird Wort
Doch nun wird er, das Wort, selbst zum Schweigen. Hat die Macht, die vernichtet, also doch mehr Recht als die Liebe, die er uns gelehrt hat? Ist die Endlichkeit, ist der Verfall doch stärker als jenes Leben, von dem er kündet? Hat Gott die Zeichen selber ausgelöscht, die er als Lichter der Hoffnung angesteckt hat in Jesu Beispiel, in seinen Worten, in seinen Machttaten? Bricht nicht alles Warum für den wieder auf, der den Warum-Schrei Jesu am Kreuz hören muß? Alles ist eingetaucht in ein letztes Schweigen, und jedes deutende Wort muß verstummen.
Das Schweigen dieses Wortes ist nicht nur das Schweigen eines Menschen. Es ist nicht nur das Schweigen Jesu, über dem und in das Gott doch sprechen, sein Wort verlauten lassen könnte. Nein, Gott selber schweigt im Schweigen Jesu. Karfreitag ist die Stunde des Schweigens Gottes, jene Stunde, in welcher das Schweigen Gottes aus allen Jahrtausenden sich verdichtet und wie zur letzten, endgültigen Aussage über ihn zu werden droht: er ist das Entzogene, er gibt keine Antwort.
[28] Für Jesus selbst ist das Schweigen des Vaters die letzte Erfahrung, die er mit Gott macht in seinem Leben. Er trat seinen Weg an im Gehorsam gegen den Vater. Er ging diesen Weg in der Zuversicht, daß der ihn nicht verläßt, der ihm das Äußerste zumutet. Und doch, von ihm muß er den Kelch annehmen und ihn bis zur Neige trinken, von ihm muß er es annehmen, daß jene, die der Vater ihm gegeben hat, ihn verlassen in der entscheidenden Stunde, von ihm muß er annehmen, daß er selbst in der letzten Stunde der Verlassene, der Warum-Rufende ist. Der Vater, den er verkündet, den er den anderen schenkt, läßt ihn im Schweigen und schweigt über ihm.
Das Schweigen Gottes am Karfreitag überbietet noch die schweren Stunden der Propheten, der Gottestreuen des Alten Bundes. Auch sie wurden durch die Krise hindurchgeführt; aber die Krise blieb Durchgang. Jesus aber wird nicht vom Kreuz geholt, Jesus stirbt. Das Schweigen Gottes bleibt, und dieses Schweigen wird auch durch Ostern nicht ausradiert. Gottes Schweigen ist nicht eine Episode für nur drei Tage, und dann kommen die Jahrtausende, in denen Gottes Wort wieder klar, deutlich und selbstver- [29]ständlich klänge. In Ostern ist zwar der Karfreitag überholt, aber zu Ostern, in Ostern hinein gehört für immer das Schweigen des Karfreitags. Das Wort ist Schweigen geworden. Und nur wer dieses Schweigen versteht, versteht das Wort.
Das Wort ist Schweigen geworden. Aber dieses Schweigen ist „gesagt“ vom Wort. Es ist die Daseinsweise des Wortes, es ist der Zusammenklang zwischen dem, wie Gott ist, und dem, wie Jesus ist, und dem, wie wir sind, wie die Welt ist. In diesem Schweigen geht das Innerste Gottes, das Innerste Jesu, und geht zugleich unser Innerstes und das Innerste der Welt auf. Hier allein klingen Gott und Welt, Himmel und Erde zusammen. Aus dem Geist, den Jesus sterbend dahingibt, dürfen wir erkennen: Nicht nur ist das Wort Schweigen geworden, sondern auch umgekehrt ist das Schweigen Wort geworden.
Gott hat sein Wort nicht deshalb ins Fleisch gesandt, daß wir dieses Wort ein bißchen näher hätten, um es besser hören und verstehen zu können. Die Menschwerdung ist keine Verringerung der Distanz zwischen Gott und dem Menschen auf erträgliche, freundliche Rufweite. Gott macht nicht einen Freundschaftsbesuch auf [30] Erden, um sich nachher wieder in seinen eigenen Bereich zurückzuziehen. Die Fleischwerdung des Wortes meint etwas anderes: Gott selbst ist so, daß er Sich-Geben, Sich-Entäußern, Sich-Verschenken ist. Und weil Gott so ist, deswegen ist sein Wort so, daß es sich bis ganz dorthin begibt, wo wir sind, daß es sich ganz auf das einläßt, was wir sind. Gott operiert nicht die Dunkelheiten und Unverständlichkeiten unseres eigenen Daseins hinweg, er teilt sie, er macht sie sich zu eigen bis zum letzten.
Und das ist nur glaubhaft, weil das Wort selbst Schweigen geworden ist. Gott spricht sich in den äußersten Gegensatz, in die äußerste Entfernung zu sich selbst hinein – und aus dieser äußersten Entfernung, aus diesem äußersten Gegensatz antwortet Gott selber Gott. Alle Erfahrungen, die wir machen können, alle Abgründe, in die wir versinken können, alles Dunkel, das wir erleiden können, alle Schuld gar, die wir auf uns laden können, sind umfangen von der Liebe Gottes, die sich ganz uns zuspricht bis ins tiefste Schweigen und die in diesem Schweigen zur Antwort wird, zur Antwort Gottes an uns und zu unserer Antwort an Gott.