Und das Wort ist Kind geworden

[28] Von der Kühnheit des Kindes lernen

Sooft ein Kind geboren wird, verwandelt sich die Welt. Jedermann ist diesem kleinen Wesen zugetan, und die Freude, die von ihm ausstrahlt, überspielt den geschäftigen Ernst, in welchem die Menschen sich voreinander verschließen. Etwas wie eine Geschwisterlichkeit aller zu allen wächst. Neidlos gönnen wir den Eltern ihr Glück, doch sein Schimmer fällt auch auf unser eigenes Leben. Das Kind, auch das Kind des Fremden, gehört uns, ja, jedes Kind gehört der Menschheit. Sie selbst, das menschliche Geschlecht im ganzen, erwacht, wenn ein Kind seine Augen aufschlägt.

Was ist geschehen? Die Geburt eines Kindes bedeutet Verheißung. Sie sagt uns, daß es mit der Welt noch nicht am Ende zu sein braucht, daß es weitergehen kann. Neue Schultern schieben sich unter die Last unserer Erde, an der wir schon müde zu werden beginnen. Wohl liegt es hilflos und sprachlos vor uns, dieses zarte Geschöpf, aber gerade deshalb steht noch alles offen, noch keine Möglichkeit ist verbraucht, noch kein Weg verbaut. Und so geht der Beginn eines Lebens [29] wahrhaft uns alle an, in der Geburt eines jeden Menschen wird die Welt zur Hoffnung wiedergeboren.

Puer natus est nobis, ein Kind ist uns geboren! – so könnte man an jeder Wiege jubeln. Doch über den Jubel breitet sich schon bald der Schatten der Enttäuschung. Denn die Verheißung des Heiles, die das Kind uns gibt, kann nicht eingehalten werden. Das Geflecht von Schuld und Not, in das die Geschichte der Menschheit verstrickt ist, scheint sich nicht entwirren zu lassen.

Wenn nicht dieses eine Kind geboren wäre, das gerade dazu berufen und gesandt wurde: die Verheißung einzulösen, welche jede Menschengeburt uns gibt. Gott selbst, der Schöpfer des Menschen, hat in die menschliche Geburt dieses Wort der Verheißung hineinverborgen. Aber dieses Wort war ohnmächtig, solange der Zusammenhang zwischen göttlichem Planen und menschlicher Wirklichkeit durch die Schuld zerbrochen war. Kein Tun und kein Planen des Menschen waren imstande, den abgerissenen Faden wieder anzuknüpfen, nur Gottes Hand konnte beide Enden ergreifen und ineins fügen. Er selbst mußte es uns sagen, daß er zu seinem anfänglichen Planen noch steht. Und er hat es uns gesagt in der Geburt, die zur Weihnacht geschah. Es ist die Geburt eines Menschen, ja Geburt des Menschen wie keine andere Geburt. Rein und ungeschwächt erklingt in ihr das Wort, in welchem Gott Geburt und Menschsein ursprunghaft erdacht und aus-[30] gesprochen hat. Und so ist der zur Weihnacht Geborene, der Mensch, der „Vater der Zukunft“, der Stammvater des neuen Menschengeschlechtes. Aber das Wort, das uns zur Weihnacht in diesem Kind von Gott gesagt ist, es ist Gottes eigenes Wort, und dieses sein Wort, in welchem wir erschaffen sind und alles erschaffen ist, nimmt Gott nicht mehr zurück, es wohnt unter uns, es selbst ist Fleisch geworden und hat sein Zelt aufgeschlagen in unserer Mitte. Dieses Kind gehört uns, es ist Mensch mit uns Menschen und für uns Menschen, aber in ihm gehört uns Gottes Wort selbst.

Gott steht zu uns, und er steht zu uns in dem letzten Ernst und in der letzten Innigkeit, mit denen er zu sich selber steht. Ein Wort ist es, in dem er sich nennt und bei uns wohnt und in dem er uns anredet und in unserer Mitte wohnt. Das Kind, unser kleiner Menschenbruder Jesus, ist der ewige Sohn des ewigen Vaters. Der Zusammenhang zwischen Gott und Mensch ist wieder hergestellt, der zur Weihnacht Geborene ist selbst der Zusammenhang. Er kommt auf uns zu aus der Geschichte des menschlichen Geschlechtes, und die Last dieser Geschichte, ihre Schuld und ihre Not liegen auf seinen Schultern. Doch zugleich kommt das Kind in der Krippe auf uns zu aus dem liebenden Willen, aus dem Plan und aus der Treue des Vaters, es ist der vom Vater in die Welt gesandte Sohn. So aber wird Jesus zur Brücke, zum Weg, der in seiner einen Spur den doppelten Gang freigibt: Gott findet den Menschen, und der Mensch findet Gott.

[31] Kind ist Hinkehr zur Welt, es blickt offen hinaus, ist jedem Freund – und so schaut Gott uns an in seinem Kind gewordenen Sohn. Und Kind ist Hinkehr zum Vater, der Hilfe bedürfende, vertrauend zu ihm gewendete und ihm übergebene Armseligkeit –, und so schauen wir mit den Augen des Sohnes den Vater an, die Menschheit gewinnt durch ihn den Vater zurück. Jesus legt den Menschen, seine Schuld und seine Not, dem Vater ans Herz, er ist ja der am Herzen des Vaters ruhende Sohn, und wir sind von ihm angenommen für alle Ewigkeit. Das Gespräch, das uns sprachlos versagenden Wesen mit Gott zu führen aufgegeben ist, es ist in Jesus, unserem Menschenbruder, zum Gespräch Gottes mit Gott geworden.

Jesus spricht für uns, an unserer Statt mit dem Vater. Aber das war ihm noch nicht genug. Wir selbst sollten Sprechende werden, Partner des göttlichen Gespräches, und darum hat er uns den Geist des Sohnes gegeben, in dem wir rufen dürfen: „Abba! Vater!“ Das Kind in der Krippe ist nicht nur frohe Botschaft an uns, es wird zum Gebot für unser eigenes Leben: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, könnt ihr nicht in das Reich Gottes eingehen!“ Wir müssen aus dem Geist des Kindes unser Wollen und Tun verwandeln, müssen die Kühnheit des Kindes lernen, das seine Schwäche nicht verbirgt, sondern weiß, gerade weil es schwach ist, wird der Vater es tragen. Doch auch das andere fordert das Kind in der Krippe von uns: daß wir mit ihm Kinder seien unter Brüdern und Schwestern, den Menschen gegenüber. [32] Gott will auch durch uns die frohe Botschaft seiner Liebe der Welt kundtun, in uns sein Wort ihr sagen, er will uns zur Verheißung machen, zur Hoffnung für das Menschengeschlecht. Gemeinschaft soll um uns wachsen und Geschwisterlichkeit, eins werden und froh werden sollen die Menschen an uns. Allen sollen wir angehören und zu eigen sein.

Das Geheimnis des Christen ist das Geheimnis des Kindes. Wenn wir daran glauben, daß Gott uns liebend anblickt in den Augen seines zur Weihnacht geborenen Sohnes und daß dieser uns und all unsere Last übernommen hat vor dem Antlitz des Vaters, dann werden wir frei von der Verkettung an uns selbst, an den eigenen Kreis und an die eigene Not. Wir trauen Gott zu, daß er sich sorgt um die Lächerlichkeit unseres winzigen Lebens. Wir sind mit all unserem Eifer und all unserer Kunst nicht mehr als hilflose Kinder, doch gerade deshalb sind wir fähig, den Auftrag Gottes an die Welt auszurichten. Und unser kleines Dasein, das nicht mehr an sich selber klebt, sondern liebend verfügbar wird für seine Liebe, wird zum Geschenk, das Gott selbst unseren Geschwistern macht.

Der Geist der Kindheit ist indessen alles eher als harmlos. Die höchste Reife der Hingabe ist nichts anderes als solch schlichtes Kindsein vor Gott. Genau dies hat Jesus doch in seiner letzten Not am Kreuz vollbracht: Er hat sich bedingungslos, wie ein Kind, in die Hände des Vaters geworfen und so seine große Herrlichkeit, den Ratschluß seiner Gnade, der Welt verkündet und geschenkt.1


  1. Hemmerle, Klaus: Von der Kühnheit des Kindes lernen : (Klaus Hemmerle, Bischof von Aachen, gibt uns zu bedenken), in: Die Weihnachtskrippe 43. Jahrbuch (1976) 7-9. ↩︎