Im Konkurrenzkampf der Weltanschauungen
[30] Der Mensch der totalen Entscheidung
Es gibt heute eine unheimliche Flucht in die Gleichheit. Es gibt ein Aufgebenwollen von allem was zum Beispiel Priester und Volk unterscheidet. Eine Gleichheit, die Frucht der Angst ist, der Angst, aufzufallen, der Angst, irgendwie ungeschützt an einer Stelle allein zu stehen, ich selber sein zu müssen. Ich möchte mich hineinkuscheln in das Es, in die Funktion, in den Apparat, in das, was abgesichert ist, durch Argumente, durch allgemeine Meinung. Eine Konformität, die sich zurücknimmt und nicht mehr den Mut zur Unterscheidung und zur Entscheidung hat. Genau dasselbe, was uns aber diese Unterscheidung schwer macht, macht auf der anderen Seite auch die Sehnsucht aus nach einer fixen Rolle. Ich möchte mich wenigstens in meine umschriebene Rolle, in meinen geistigen Dienstvertrag verkriechen können, in mein Recht und meine Kompetenz, die mir so zugemessen sind, daß sie die Schale sind, die mich objektiv sozusagen, versteinert, ins Schneckenhaus aufnimmt, in dem ich nicht mehr bloßgestellt bin. Aber das ist nicht alles. Ich meine, daß es einen wirklichen Impuls zur Gleichheit heute gibt: Wir sind Menschheit. Wir sind als einzelne so sehr Fragment und leben so sehr als Fragment, daß wir ohne das Wort des Ganzen, zu dem wir gehören, nur mehr eine sinnlose Silbe sind. Und so ist die Sehnsucht nach der Gleichheit zugleich eben die Sehnsucht nach dem Ganzen, das wir sein wollen, in dem wir Fragment sind. Denn als bloßes Fragment, das nicht zugleich das Ganze ist, sind wir nichts. Und auch in jedem Sich-profilieren-Wollen liegt eine Sehnsucht, eben die Sehnsucht nach dem Sich-entscheiden-Können und danach, daß wir nicht nur Außengesteuerte sind, sondern selber unser Leben leben. Wir wollen für uns selber nichts sein, sondern für das Ganze, und zugleich spüren wir die Sehnsucht, uns selber zu entscheiden. Genau das ist Maria, die Mutter Jesu, der Mensch der totalen Entschiedenheit. Und der Inhalt dieser totalen Entschiedenheit ist es, so radikal nichts zu sein, daß Gott alles ist und daß alle in Gott sind. Sie ist für mich das „Nichts“ der Schöpfung, das Nichts aber, das ausgespart ist als Raum, damit Gott darin sei. Bei Maria fängt es damit an, daß sie das, was sie hatte und zu Recht hatte, verlieren mußte, ihre Pläne, die Voraussehbarkeit des Lebens. Gott kommt in sie, das Wort Gottes kommt in sie, und es führt sie zu einem ganz alltäglichen Dienst an ihrer Base Elisabeth. Und dann von der Geburt an ist ihr ganzes Leben nichts anderes als ein fortgesetztes Verlieren dessen, für den sie da ist. Denn [32] Jesus kommt nicht nur in sie, sondern Jesus geht aus ihr hervor und das heißt, von ihr weg. Dann dieses letzte und äußerste Hergeben unter dem Kreuz, in ein Wort gefaßt: stabat ... ein einfaches Stehen und nichts haben. Dann dieser Tausch zwischen dem Sohn Gottes und Johannes, dem Sohn des Zebedäus, dann die „Nivellierung“ in die Mitte der Pfingstgemeinde hinein. Das ist der äußerliche Weg Mariens, ein andauerndes Verlieren: Das erste, was ich damit sagen will, heißt theologisch: Sie ist der ganz verfügte Mensch, ist der Mensch, der vollkommen in der Gnade ist. Ihre Entscheidung ist nicht die Entscheidung zu einer spektakulären Tat, sondern die Entscheidung zum eigenen Nichts, damit Gott sei. Ihr ganzes Sein ist Beschenktsein. Unsere Entscheidung ist ebenso die doppelte Entscheidung: sich wegzugeben und beschenkt zu sein. Ich weiß nicht, was von beiden uns schwerer fällt, die Entscheidung zum Nichts oder die Entscheidung zum Geschenk. Aber nur in dieser doppelten Entscheidung werden wir – und das ist noch größer und höher – selber Geschenk. Maria wird Geschenk. Sie ist der geschenkte Mensch. Ein zweiter Aspekt auf diesem Weg: Maria macht eine einzigartige, leibhaftige Erfahrung Gottes: daß sich im Schoß Leben regt, das Gott gehört. [33] Und so hat Maria dieses Charisma der Leibhaftigkeit mit Gott, dieses leibhaftigen Daseins mit ihm. Auch das ist unser Charisma. Wir haben es mit dem Leib des Herrn zu tun, haben wirklich eine lebendige Beziehung zu dem Leib des Herrn, zum eucharistischen Leib des Herrn, wir haben auch eine lebendige Beziehung zum Mystischen Leib, dessen Glieder wir sind, in denen Er uns begegnet. Ein dritter Aspekt, der mir sehr wichtig erscheint: Maria hat nicht verstanden, sondern geliebt. Ich glaube, das Sehen und Sehenwollen ist vielleicht eine unserer größten Krankheiten. Wir wollen verstehen. Wir wollen das tun, was wir verstanden haben. Wenn wir es aber verstehen, dann haben wir es, dann sind wir bei uns geblieben. Daraus wächst die ganze Unsicherheit, der ganze Zweifel, weil wir ständig alles verstehen wollen und dadurch immer wieder nur uns begegnen. Gerade weil wir verstehen wollen, begegnen wir nur uns. Was wir verstanden haben, das haben wir dann ganz, und damit umarmen wir uns selber. Wer sich nicht so leer macht von seinem Sehenwollen, der sieht nicht, daß es nur auf eines ankommt, nicht daß ich sehe, sondern daß Gott sieht. Daß ich gesehen werde, nicht daß ich sehen will. Wenn ich alles von meinem Sehen abhängig mache, dann setze [34] ich mich absolut, dann bin ich das höchste Ziel. Wenn nun aber Gott ist, dann ist Er das letzte Ziel, dann muß Er sehen und nicht ich. Dann kann es mir genügen, „Du siehst“, und wenn mir das genügt, gerade dann sehe ich ja. Dann wird mir ein Sehen geschenkt, das nicht mehr von mir gemacht ist. Ein vierter Aspekt von Maria, vielleicht der wichtigste: Maria ist der Mensch, der dafür da ist, daß Jesus da sein kann, doch dann wird ihr das aus der Mitte „geschnitten“, wofür sie da ist, nämlich Jesus. Sie verliert ihn, sie hat ihn nicht mehr, sie ist ganz leer von ihm. Sie ist das Fragment, das keinen Sinn mehr hat, die Mutter unter dem Kreuz, die wirklich nichts ist. Jene Verlassenheit, die die Verlassenheit Jesu aufnimmt. Jener leere Raum, in dem der von Gott verlassene Gott sie verläßt. Ich glaube, eine tiefere Leere, ein tieferes Nichts gibt es nicht. Ich denke an viele, denen das, wofür sie da sind, herausgeschnitten ist, die Christus nicht mehr sehen, die keinen Sinn mehr sehen, die nur noch das völlig hilflose Fragment ihrer selbst sind. Und ich sehe eine Kirche vor mir, in der manche Anzeichen dafür sprechen, daß dieses Bild ihr Bild ist. Ich bitte uns, daß wir in dieser Kirche die Mutter unterm Kreuz sehen. Wir haben selber keine Angst mehr, wenn es uns so geht. Vielleicht müßten wir [35] alle dahin kommen. Vor allem müßten wir dorthin kommen, wo sie steht. Noch zwei Dinge hängen eng damit zusammen: Ich habe jetzt von Maria als Modell für uns gesprochen. Maria ist ein Mensch, wie wir sein müßten. Aber ich glaube daran, daß Maria auch wirklich war. Maria war so, daß sie ist. Sie ist da. Wir haben eine Mutter. Wenn man Familie ist, und wenn da Menschen leben, kann ich an keinem vorbeilaufen. Wie kann ich da an ihr vorbeilaufen? Wir stehen in der radikalen Kommunikation miteinander und müßten auch mit ihr reden. Wir dürfen ihr auch sagen, was uns auf dem Herzen drückt. Wir haben eine Mutter: „Siehe da, deine Mutter“, das hat uns Christus gesagt. Und sie ist da. Und dieses Vertrauen ist nicht mehr Devotion, es ist einfach Familie, es ist Vertrauen, daß wir miteinander leben. Chiara Lubich wurde einmal gefragt, ob sie denn in ein Kloster eintreten wolle. Sie hat gesagt: „Nein.“ Sie wurde gefragt, ob sie als jungfräulicher Mensch in der Welt leben wolle. Da sagte sie: „Nein.“ Sie wurde gefragt: „Ja willst Du heiraten?“ Und sie hat wiederum gesagt: „Nein.“ Denn sie wollte nicht das eine oder das andere, sondern alles, den vierten Weg. Und dieser vierte Weg – das hat sich dann nachher gezeigt – ist der Weg [36] Mariens. Es gibt keine strengere Klausur als das Leben total mit Ihm allein, in dieser Verborgenheit des Nur-Ihn-Liebens und nicht einmal Verstehens, in dieser dichtesten Verbindung mit Ihm. Es gibt kein Hinein-getaucht-Sein in die Welt und in die Verborgenheit mitten in der Welt wie das Ihre. Und sie war die Mutter des Sohnes Gottes, als galiläische Frau unter anderen. Es gibt keine Familie, die mehr Familie ist als jene, in der die gegenseitige Liebe Jesus wirklich in der Mitte hat. Und alle drei Berufungen lebt sie zugleich. Es ist ein Leben, das uns gerade heute angeboten ist, ein Leben mit Gott allein, ein Leben in der höchsten Entschiedenheit, ein Leben im höchsten Sich-Verlieren, ein Leben in der Gemeinsamkeit. Und es liegt wirklich nur daran, daß wir die Stunde erkennen und daß Maria uns sagen darf: „Was er Euch sagt, das tut.“