Das Wort für uns

[31] Gottes Schweigen – unsere Berufung

Wer nur eine griffige Formel sucht, um am Ende doch alles verstehen und erklären zu können, der wird sich auf die Dauer mit solcher Antwort freilich nicht zufriedengeben. Ihr wird das lastende Warum bleiben, er wird die Botschaft des Karfreitags als einen Trick mißdeuten, um Gott die Schrecklichkeiten der Weltgeschichte nicht anlasten zu müssen. Wer aber das ganze Wort sucht, das eben nicht bloß Erklärung ist, sondern Anrede, der wird sich vom Schweigen Gottes im Schweigen Jesu angesprochen finden.

Er wird erkennen, daß Gott hier sein ganz persönliches Du zu ihm sagt. Er erfährt, daß Gott mehr ist als ein Weltingenieur. Er entdeckt aber auch, daß der Mensch, daß er selber mehr ist als einer, der alles erklärend bewältigen und bescheidwissend in seiner Hand haben kann. Er findet sich herausgefordert von der äußersten Herausforderung Gottes, herausgefordert in jene Tiefe schweigenden Daseins, in welcher allein der Mensch wahrhaft Mensch ist. Gott ist Gott, wo sein Schweigen am Karfreitag uns etwas zu sagen hat, und der Mensch ist Mensch, wo er [32] den Mut hat, vor diesem Schweigen Gottes am Karfreitag selber schweigend stehen zu bleiben.

Karfreitag ist also eine Provokation. Wir dürfen uns nicht mehr damit zufriedengeben, bloß „Lösungen“ zu suchen, Formeln zu suchen, mit dem Leben fertigwerden zu wollen. Wir müssen vielmehr den Mut haben zu dem, was wir sind, zum Leben mit all seinen Rätseln, mit all seiner Ohnmacht, mit all seiner Endlichkeit. Wir müssen uns hineinstellen in dieses Leben, wie es ist, in dieses Leben bis zum Tod, bis zum Warum, bis zum Verstummen. Aber dann lebt einer mit und stirbt einer mit, dann spricht einer mit und schweigt einer mit. Und sein Schweigen ist das Wort, das klärt und gutmacht, weil dieses Schweigen uns nicht allein läßt, sondern weil in diesem Schweigen jene Liebe ihr Wort hat, die Gott selber ist.

Aber dieses Schweigen läßt sich nicht bloß dankbar zur Kenntnis nehmen. Dieses Schweigen will in uns selber Fleisch werden. Dieses Schweigen will unser eigenes Wort, der Ausdruck unseres eigenen Daseins werden. Alles, was in unserem Leben stumm und ratlos ist, alles, was uns am Ende sein läßt, alles, bei dem [33] wir uns nicht mehr auskennen, bei dem unser Können und Mögen zerbricht, alles das will auch in uns zum schweigenden Wort der Liebe werden, zum schweigenden Wort der Liebe vor Gott und füreinander.

Alles, was unverständlich ist, was sich nicht klärt und nicht löst, alles, was keine Antwort findet, was wir nicht bestehen können, ist Anruf Jesu, ist Begegnung mit Jesus, Begegnung mit dem Wort, das Schweigen geworden ist. Wir dürfen allem dem den Namen Jesus geben, wir dürfen überall dort kommunizieren mit ihm.

Und in solcher Kommunion werden wir offen über uns selbst hinaus, offen zum Vater, offen für die Brüder. In uns wird das Schweigen der Welt und das Schweigen Gottes zum Wort. In unserem Schweigen, in unserem Annehmen, in unserem Nicht-mehr-Können wird sich das Schweigen Gottes enthüllen als die Solidarität Gottes mit den Menschen und mit der Welt. Deshalb ist der Karfreitag an Ostern nicht zu Ende, deshalb gehört der Karfreitag über Ostern hinaus in unser Leben: Wir dürfen das Schweigen Gottes sein und in solchem Schweigen sein Wort für die Welt.