Leben aus der Einheit

[33] Die Botschaft von der Trinität – Botschaft unserer Zeit. Ich, Er, Du und Wir gelesen im Kontext neutestamentlicher Offenbarung

Die vor Jahrzehnten von Karl Rahner geäußerte Vermutung, wenn es das Dogma der Trinität nicht gäbe, so bräuchte man an der theologischen und spirituellen Literatur insgesamt wenig zu ändern, trifft heute Gott sei Dank für die Theologie nicht mehr zu. Das ist ein Zeichen der Zeit. Gerade in den drei letzten Jahrzehnten ist das Thema der Trinität über die orthodoxe Theologie hinaus auch im evangelischen und katholischen Raum wichtig geworden. Solches neu erwachte Interesse an diesem Thema hängt mit der Frage nach der Einheit zusammen – nach einer Einheit jedoch, die weder blockhaft ideologisch zu verstehen ist noch bloß den Mittelwert oder das Marktergebnis der Pluralität vieler Meinungen darstellt. Einheit – wie sie sich uns bereits zeigte – hat vielmehr die Frage nach lebendiger Beziehung zum Hintergrund. Vielleicht erhebt sich sofort der Einwand: Was hat das Dogma der Trinität mit lebendigen Beziehungen zu tun? Nicht selten begegne ich noch dem Eindruck, das Geheimnis der Trinität wäre das Privileg der Theologen und derer, die sich mit schwierigen Begriffen gut auskennen. Ich bin jedoch überzeugt, daß die Botschaft [34] von der Trinität eine Grundbotschaft für alle ist. Denn vom dreifaltigen Gott her läßt sich eine Antwort ertasten, wie heute Leben geht. So kann Trinität Leben und trinitarisches Leben Botschaft werden.

Kürzlich erzählte mir jemand von einem Treffen einiger Basisgemeinschaften in Brasilien. Die Teilnehmer, einfache Landarbeiter, sollten am Ende des Treffens aufschreiben, was für sie wichtig war. Viele bezeugten, für sie sei es das Wichtigste, daß sie die Einheit und die Liebe des dreifaltigen Gottes ganz persönlich erfahren hätten. Gott selbst zeigte sich ihnen nicht als einsam befehlender Herr, sondern als liebende Gemeinschaft, und das ermutigte sie, auch ihrerseits die Selbstbezogenheit und den Egoismus zu überwinden, um zu gegenseitiger Hilfe und Solidarität vorzustoßen. Dieses Beispiel zeigte mir, daß für die große und drängende Frage nach Einheit, die alle Lebensbereiche – von meinem persönlichen Leben bis hin zu den großen Herausforderungen der Gesellschaft – umfaßt, nur vom trinitarischen Gott her ein Zugang möglich werden kann.

Der springende Punkt ist uns bereits auf unserem einleitenden Gedankenweg begegnet: Der neuzeitliche Grundansatz des „Ich denke“ muß sich um das „Er“, „Du“ und „Wir“ erweitern. Dem liegen vier christlich-elementare Erfahrungen zugrunde: Ich glaube an die Liebe – „er“ liebt mich; ich frage nach dem Willen Gottes – „ich“ bin verantwortlich; „du“ bist mir so wichtig wie ich mir selbst – ich be- [35] gegne in dir dem Herrn; „wir“ wollen einander lieben, wie er uns geliebt hat – wir sind eins, und er ist in unserer Mitte. So zu leben bedeutet trinitarisch zu leben. Das möchte ich im Folgenden auslegen.

Ich: Wo bin ich? Wenn ich an diese Liebe Gottes glaube, obwohl ich vieles in meinem Leben nicht verstehe; wenn ich mich auf jenen innersten, oft verborgenen und verschütteten, gestörten Grund besinne, in dem ich sagen kann: Ich übernehme mich, ich empfange mich, ich glaube an den Ruf, der mich ins Dasein hebt, der mich begleitet und mich nicht mehr verläßt; wenn ich schließlich mein Leben als ein Gerufensein verstehe, nicht als ein „Ich kann machen, was ich will!“ oder „Ich bin dazu verdammt, der zu sein, der ich bin!“, sondern als ein „Ich bin gerufen. Ich bin ins Sein erwählt!“: dann lebe ich so, wie der Sohn mit dem Vater lebt. Dann lebe ich die Erfahrung dessen mit, der in der Taufe im Jordan und auf dem Berg Tabor hört: „Das ist mein geliebter Sohn“ (Mt 3,17; 17,5). Und wenn ich dann mit ihm „Ja“ sage, dann sage ich nicht nur „Ja“ zu einer aktuellen Verpflichtung – das gehört hinzu –, sondern ich spreche mit Jesus, vertrauend – und nicht resignativ –, aber entschlossen und bereit: „Mein Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber. Aber nicht wie ich will, sondern wie du willst.“ (Mt 26,39) Er hat dieses Ja mit seinem Leben und Sterben gesprochen und es so mitgebracht in diese [36] Welt. Genau das ist der Ursprung, aus dem Er stammt.

Sein Leben ist von Anfang an Antwort, ist von Anfang an „Ja“. In ihm fallen Ursprung-Sein und Antwort-Sein absolut zusammen. Er ist gefragt worden, ob er Mensch werden will. Und er hat gesagt: „Ja, ich komme, um deinen Willen zu tun.“ (Hebr 10,9) So sind wir von Anfang an hineingenommen in diese Wirklichkeit der Beziehung zwischen Sohn und Vater. Dieses Ja zwischen Vater und Sohn ist der Raum, in dem auch wir bejaht, gemeint, ermöglicht, geschaffen und erlöst sind. Das Ja zwischen Vater und Sohn gründet und umschließt in Freiheit mich und alle und alles.

Hier begegnet uns ein anderer Gott. Ein anderer Gott als jener, der einsam an der Spitze steht und bloß Befehle oder Gunsterweise austeilt. Ein anderer Gott als jener, der jenseits der Kreuzlinie aller Erfahrungen liegt, der nirgendwo faßbar ist und von dem wir nichts Genaues wissen. Ein anderer Gott als jener, der letztlich nur als eine erklärende und rechtfertigende Formel dient für alles, was geschieht. Ein anderer Gott freilich auch als jener, der als der je Größere geachtet wird, aber in seine Unsäglichkeit eingeschlossen bleibt.

Welch ein anderer Gott! Ein Gott, der mich ganz umfängt. Mein „Ich glaube an die Liebe“ und mein „Da bin ich! Ich bin bereit! Er liebt mich!“ sind eingebettet und eingelassen, ermöglicht und begründet in dem lebendigen Verhältnis von Vater und [37] Sohn. Dieser läßt solches ewige Geheimnis aufstrahlen in seinem Menschsein, in seinem Beten zum Vater und Ringen mit dem Vater.

Wenn wir diese neue Weise des Lebens und Denkens lernen, wird alles anders und neu. Aber oft ist dieses neue Leben, das eigentlich schon seit der Taufe in uns ist, verschüttet. Kennen wir diesen Gott, der Vater und Sohn ist, von innen her? Ist er wirklich unser Lebensraum? Mit der Taufe ist Gott der Raum, in den wir hineingetaucht werden: Ich taufe dich, ich tauche dich hinein in den Vater und den Sohn und den Heiligen Geist. Die Taufe macht jeder und jedem deutlich: Du wirst hineingelassen in das, was der Grund deines Lebens ist, in den göttlichen Raum von Beziehung, der immer schon da ist und der sich dir öffnet und dir zu eigen wird in Jesus Christus. Das ist der eigentliche Inhalt der Taufe.

Lassen wir uns auf dieses Leben ein, dann wird uns aufgehen, daß da noch ein anderer ist als der Vater und der Sohn. Wir tauchen in eine Lebensatmosphäre ein, die nicht von uns hergestellt werden oder nachträglich sich bilden kann. Wir tauchen ein in den Heiligen Geist und verstehen plötzlich die Schrift: „Und keiner kann sagen: Jesus ist der Herr!, wenn er nicht aus dem Heiligen Geist redet.“ (1 Kor 12,3) Und niemand kann zu Gott „Vater“ sagen außer in dem Geist, der in uns ruft: „Abba, Vater!“ (Röm 8,15)

[38] Wenn ich eintrete in diesen Raum, wo sind dann die anderen? Wo ist dann die Welt? Wo bist du? Du bist mit mir im Sohn. Der sein Ja sagt zu mir und in dem der Vater sein Ja sagt zu mir, er ist es, der unteilbar sein eines Ja auch zu dir sagt. Ich bin ganz persönlich, ganz einmalig bejaht von diesem Gott. Doch indem ich so persönlich von ihm bejaht bin, bist auch du bejaht. Mit der einen und selben Liebe, die ganz persönlich mir gilt, bist auch du geliebt. Sie gilt auch dir. Sie gilt jedem. Ich kann niemand herausoperieren aus diesem einen Ja, das der Vater zum Sohn und der Sohn zum Vater spricht. Da ist jeder mit drinnen. So kann ich entdecken, was es heißt: den Nächsten lieben wie mich selbst (vgl. Mt 22,39). Und so entdecke ich in jedem Du den Sohn, denn jede und jeder trägt sein Antlitz: Was ihr dem Geringsten meiner Schwestern und Brüder getan habt, das habt ihr mir getan (vgl. Mt 25,40).

In dieser trinitarischen Beziehung bin ich nicht auf einer persönlich-individuellen Einbahnstraße zur Innerlichkeit. Sondern der Raum weitet sich aus, und ich finde überall den Sohn. Der Geist trägt mich hinaus; und so wird dieser innerste Innenraum entgrenzter Welt-Raum, Raum, in dem sich Geschichte ereignen kann: Jeder ist als Person ganz in diesen Raum hineingenommen.

Der eine Geist, der uns verbindet, der uns miteinander und füreinander „Abba, Vater!“ sagen läßt, er läßt auch den Sohn in jedem Menschenantlitz auf- [39] leuchten und seine Spur in jedem Geschöpf erkennen – dieser eine Geist, diese eine göttliche Atmosphäre wird der Lebensraum, in dem ein neues „Wir“ möglich ist. Wir erkennen, daß nur in diesem Geist jene Einheit geschehen kann, die wir suchen; nur in jenem Geist, in dem wir uns gegenseitig lieben, wie der Vater und der Sohn sich lieben (vgl. Joh 14,15–21). Es ist der Geist, in dem auch ich zum anderen sage: Ich lasse dich sein, ich bin für dich da, du bist von mir geliebt. Und zugleich sage ich auch zum anderen: Du bist für mich entscheidend und maßgebend, ich höre auf dich, ich bin Ausdruck von dir. Nur so wird Einheit möglich.

Diesen trinitarischen Weg gehend, sind wir eingetreten in jene neue Wirklichkeit, die auch ein neues Denken herausfordert. Mit meinem Leben ist auch mein Denken hineingetaucht in den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Hier wird Leben wie Denken eins. Hier kann Welt einswerden. Und nur wenn wir in dieser Wirklichkeit sind, können wir in unseren vielerlei Lebensräumen der Einheit Wege bereiten.

Worauf stützt sich die Erfahrung und Deutung biblischer Einheit, die wir soeben skizzierten? Ein Blick auf die Urkunde unseres Glaubens, auf die Heilige Schrift, tut not. Dabei möchte ich weder in dem Sinne dogmatisch mit der Schrift umgehen, daß ich Schriftbeweise fürs Dogma suche, noch historisch-kritisch, um die Urgestalt des Textes zu [40] eruieren und zu ermitteln, welche Interessen und welche Erfahrungen zur Formulierung der jetzt vorliegenden Fassung geführt haben. Beides ist methodisch notwendig. Aber ich möchte einen anderen Weg gehen. Ich möchte versuchen, in den christlichen Grunderfahrungen, die im Neuen Testament vorfindbar sind, die Grundlinie ihrer trinitarischen Botschaft zu ermitteln. Dogmatik und historisch-kritische Exegese bleiben dabei im Blick.

Am augenfälligsten wird der ungeheure Umbruch des Denkens, der in Jesus Christus geschehen ist, in der letzten Gestalt der schriftlichen Offenbarung, im johanneischen Schrifttum, deutlich. Es brauchte einen langen Prozeß in vielfältiger Gestalt, ehe sich die neue Wirklichkeit in neue Worte fassen ließ. Tatsächlich ist die johanneische Theologie ein Höhepunkt in diesem Überlieferungsgeschehen – und sie ist: geronnene Trinitätslehre.

Wenn ich das Johannesevangelium betrachte, finde ich als erstes grundlegendes Leitmotiv die Einheit Jesu mit dem Vater. Er ruht am Herzen des Vaters (vgl. Joh 1,18). Er ist von Anfang an das Wort, das in Gott ist, das Gott selbst ist (vgl. Joh 1,1). Ihm hat der Vater sein Werk übertragen (vgl. Joh 5,36). Dafür legt Jesus Zeugnis ab. Und genau das wird ihm vorgeworfen: Warum gibst du von dir Zeugnis? Er aber sagt: Ich bin derjenige, der für sich selbst Zeugnis geben kann, weil ich nicht al- [41] lein bin. Denn in mir ist der Vater, der Zeugnis gibt (vgl. Joh 8,12–20). Jesus ist gar nicht „Jesus allein“, sondern Jesus ist „Jesus und der Vater“. Er hat seine Identität nur, insofern der Vater in ihm ist. Johannes verfolgt damit ein existentielles Interesse. Im 10. Kapitel sagt Jesus: „Ich und der Vater sind eins.“ (Joh 10,30) Dieses Wort steht im Kontext der Hirtenrede: Er ist der Gute Hirt. Er gibt sein Leben für die Schafe (vgl. Joh 10,11). Das ist der Auftrag des Vaters. Und gerade dies ist entscheidend. Denn die Rede vom Hirten ist eigentlich eine Rede von Jahwe. Nur er ist der Hirt. In diesem radikalen und totalen Sinn kann eigentlich nur Jahwe von sich sagen: Ich bin der Hirt meines Volkes. Nun aber macht dieser Jesus es sich zu eigen: Ich bin der Hirt. Und warum? Weil er aus der innersten Beziehung zum Vater „dasselbe“ ist wie der Vater und weil ihm der Vater alles anvertraut hat, was sein ist. Da gibt es keine Grenze, so daß etwas, was des Vaters ist, nicht sein eigen wäre. Darum kann er den Ausdruck wagen: „Ich und der Vater sind eins.“ (Joh 10,30) Das ist ungeheuerlich, weil es in die Ebene des göttlichen Wesens hineinragt. Und die Juden, die diese Ungeheuerlichkeit zutiefst spüren, heben Steine auf und werfen sie auf Jesus: Sie verurteilen ihn als den, der sich zu Gott macht (vgl. Joh 10,31). Das Johannesevangelium legt einen gewichtigen Akzent auf diesen Kontext. Die Grundlinie der Einheit zwi- [42] schen Vater und Sohn prägt außer dem 10. Kapitel auch breite andere Partien (bes. das 1., 5., 7. und 8. Kapitel). Im 14. Kapitel verdichtet sich dies: Wer Jesus gesehen hat, der hat den Vater gesehen (vgl. Joh 14,9).

Warum wird diese Einheit zwischen Vater und Sohn im vierten Evangelium so tief und breit ausgeführt? Ein zweites johanneisches Leitmotiv kann zur Klärung beitragen. Die Einheit von Vater und Sohn hat eine eindeutige Zielrichtung: Wir und Jesus sind eins. Er möchte in uns sein. Er möchte uns alles schenken, was er von seinem Vater hat. Er möchte in uns leben. Das wird ausdrücklich im 6. Kapitel, in der Lebensbrot-Rede: Wie der Sohn aus dem Vater und vom Vater her lebt, so lebt derjenige, der ihn ißt, aus ihm (vgl. Joh 6,57). Wie Jesus aus dem Vater lebt, so sollen wir aus Jesus leben können, um mit ihm in sein Verhältnis zum Vater hineingenommen zu werden. Das führt dann das 15. Kapitel im Kontext der Bildrede vom Weinstock und den Reben weiter aus: Wir sind die von ihm Geliebten und Erlösten. Wie er lebt, indem er im Vater bleibt, können wir nur leben, wenn er in uns ist und wir in ihm, um so hineinzugelangen in seinen Lebenskreislauf mit dem Vater im Geist (vgl. Joh 15,4–5). Eine „klassische“ Kurzformel für diese Wirklichkeit: „An jenem Tag werdet ihr erkennen: Ich bin in meinem Vater, ihr seid in mir, und ich bin in euch.“ (vgl. Joh 14,20) An vielen an- [43] deren Stellen wird greifbar, wie sich dieses Ineinander im Blick auf „Sendung“, auf „Leben“, auf „Kreuz“ darstellt und auswirkt: Wir sind durch Jesu Wort, durch seine Liebe, durch seine Hingabe, wir sind durch die Eucharistie in ihm, und er ist in uns. Und dadurch sind wir in sein Verhältnis zum Vater eingepflanzt, wir haben darin das Leben.

Das dritte Leitmotiv, das sich bei Johannes findet: Wenn wir aus ihm leben, dann sind wir nicht einsame Satelliten, die um ihn kreisen, dann sind wir nicht einsame „Ich“-Monaden, die ihn in sich aufgesogen haben und fensterlos gegeneinander abgeschottet sind. Nein, dieses Verhältnis zwischen dem Vater und dem Sohn, das durch unser Verhältnis zu Jesus unser Verhältnis zum Vater geworden ist, wird nun auch zu unserem gegenseitigen Verhältnis. Wenn die Welt glauben soll, wenn alle an diesem Leben Anteil haben sollen, dann kann das nur dadurch geschehen, daß das, was zwischen Jesus und uns lebt, auch zwischen uns und unseren Nächsten lebt (Joh 17,21–23). Nur so kann diese Wirklichkeit in die Geschichte hineinwachsen. Jene Einheit mit Jesus und in Jesus mit dem Vater ist also erst dann in ihr volles Maß gelangt, wenn wir eins sind miteinander: Erst wenn wir so leben, daß „du“ mein Leben in mir bist und „ich“ dein Leben in dir bin, erst wenn Trinität sich zwischen uns ereignet, ist der Sinn der Sendung Jesu erfüllt und ist das Leben Gottes Leben der Welt geworden.

Unser Einssein miteinander ist der entscheidende [44] Punkt, an dem für die Welt „Trinität“ sichtbar wird. Eine Trinität, die nur über uns schwebt, kann kaum mehr als lebensrelevant verstanden werden. Sie öffnet sich uns erst dann wieder, wenn wir bereit sind, zwischen uns Trinität zu leben. So ist die Verknüpfung der drei Ebenen von Einheit im Johannesevangelium entscheidend: Die Einheit Jesu mit dem Vater wird zur Einheit zwischen Jesus und uns, und wir werden darin eins miteinander. Diese Ebenen bilden die Grundstruktur des Johannesevangeliums.

In und zwischen ihnen herrscht eine Dynamik, die sich in drei weiteren Stichworten darstellt und erschließt. Johannes spricht immer wieder – erstes Stichwort – von einem gegenseitigen „Innesein“ der Personen: du in mir – ich in dir; ich im Vater – der Vater in mir; ihr in mir – ich in euch; einer im anderen – der andere im einen. Dieses vielgestaltige gegenseitige Innesein wird mit einem klassischen Ausdruck der Theologie „Perichorese“ genannt. „Perichorese“ ist ursprünglich der Name für einen Tanz: Einer umtanzt den anderen, der andere umtanzt den einen, und so fließt alles ineinander. Und in der Tat, so geht Leben in der Dynamik jener Liebe, die Jesus lehrt und schenkt: Der andere wird die Achse meines Lebens, ich bin die Achse seines Lebens. Gott ist die Achse meines Lebens, ich bin die Achse seines Lebens. Alles entfaltet sich in diesem „achsialen Umspielen“. Wir können mit der großen griechischen Theologie der ersten Jahrhunderte sagen, daß die Perichorese der göttlichen Personen sich offenbart und mitteilt in der Perichorese von [45] Göttlichem und Menschlichem in Jesus Christus. Und wir müssen ergänzen, daß diese Wirklichkeit sich eben in unserer gegenseitigen Perichorese ereignet. Bis wir diese sich gegenseitig „umtanzende“, sich gegenseitig – in jeder Gabe und jedem Auftrag des anderen – umspielende und ernstnehmende Liebe als Kirche entfaltet haben, muß noch eine große „Tanzschule“ absolviert werden. Aber von ihr gibt es keine Dispens.

Ein zweites Stichwort heißt Gütergemeinschaft: „Alles, was mein ist, ist dein, und was dein ist, ist mein“ (Joh 17,10). Unsere gegenseitige Beziehung zueinander heißt nicht nur: gegenseitig nett sein zueinander, sondern sie heißt: alles miteinander gemeinsam haben. Sie heißt im Grunde: ein einziges unteilbares Leben leben. Absolut gesehen ist das nur in Gott so, der das eine und einzige unteilbare Wesen in einem „Plural“ von Personen ist. Das drückt sich aus und vollendet sich, gewinnt personale Gestalt in der Gabe – donum – schlechthin, im Heiligen Geist. Dieser Geist Gottes geht als der eine Geist vom Vater zum Sohn und vom Sohn zum Vater. Er ist gleichsam der eine Kuß der einen Liebe, den sich beide geben, und nicht zwei gleichzeitige Küsse. Doch diese innergöttliche Wesensgemeinschaft setzt auch das Maß und zeigt auch den Rhythmus unseres Lebens als Anteilnahme am Leben Gottes. Das Einssein, das hier in den Blick kommt, drängt zur konkreten Gestalt. Nur dann leben wir trinitarisch, wenn es uns dabei an den inneren und äuße- [46] ren Geldbeutel geht. Das heißt: lernen, Gottes und der Welt Güter gemeinsam zu haben; lernen, miteinander so umzugehen, daß wir uns nicht nur Almosen geben, sondern wirklich teilen. Es geht nicht darum, den persönlichen Anteil an Arbeit und Gütern zu nivellieren, doch dieser persönliche Anteil ist Anteil an dem, was Leben für das Ganze, Leben für alle bringt und gewährleistet. Mein Persönliches gestaltet das Ganze, lebt vom Ganzen, prägt das Ganze. Unser Leben und mein Leben, unsere Güter und meine Güter, das sind nicht einander ausschließende Gegensätze, sondern sich gegenseitig enthaltende und prägende Wirklichkeiten.

Besonders eindrücklich sehen wir dies an einem dritten Stichwort bei Johannes: „doxa“ – „Herrlichkeit“ und „doxazein“ – „Verherrlichen“. Gerade im 17. Kapitel zeigt sich als die Lebensbewegung von Vater und Sohn das gegenseitige Verherrlichen, das gegenseitige Sein im anderen, das ihn aufgehen läßt, ihn ins Licht und sich in den Schatten stellt und so gerade selber ins Licht kommt. Die Herrlichkeit aber, die Vater und Sohn einander schenken, kann wiederum nicht ein Etwas sein, das zu den Personen in Gott hinzukäme, sondern es ist jene personale Gabe, die uns bereits als der Geist aufging. Wie – im ursächlichen Sinne verstanden – Geist und Herrlichkeit identisch sind, darauf hat gerade Gregor von Nyssa hingewiesen, indem er das Wort „doxa“ mit „Geist“ übersetzt.1 Dieses gegenseitige Sein im anderen ist die Lebensbewegung Gottes: [47] Ich bin, daß du bist – und gerade dies ist mein Sein. Und so dürfen wir in einem gewissen, analogen Sinne sagen: Trinitarisch leben heißt für uns so leben, daß der eine Geist in uns aufgeht und zum Leuchten kommt – und gerade er wird uns in unserer Einheit und Unterschiedenheit ebenfalls zum Leuchten bringen.

Nicht ohne Grund haben wir uns so lange beim Johannesevangelium aufgehalten – und es sprengte den Sinn und Rahmen des hier zu Sagenden, wollten wir die eigenständige und unabhängige „Vorgeschichte“ dieser johanneischen Theologie in anderen Theologien innerhalb des Neuen Testamentes genauso breit entfalten. Dennoch soll auf einige Hinweise nicht verzichtet werden, die den latenten trinitarischen Hintergrund der neutestamentlichen Theologien anvisieren helfen und uns zeigen, daß das Wort zu leben im Ansatz immer auch heißt, die Trinität zu leben.

Die wohl griffigste Formel, um uns die Botschaft Jesu Christi nach Markus und vielleicht in den Synoptikern überhaupt zu verdeutlichen, heißt: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium.“ (Mk 1,15) Es geht hier um eine neue Präsenz Gottes in der Geschichte, um ein erfüllendes Dasein Gottes in unserem Lebensraum, das alle Maßstäbe und unser ganzes Leben „umkehrt“. Gott ist alles, der Vater ist alles. Und daß er alles ist, ereignet sich im Sohn. „Folge mir nach!“ ist die Konsequenz aus diesem [48] „Gott allein“. Noch an anderen Stellen, etwa in der Begegnung zwischen Jesus und dem reichen jungen Mann (vgl. Mk 10,17–31), zeigt sich als die paradoxe Grundformel: „Gott allein“ heißt „Gott und Jesus“. Dieser Jesus ist nicht bloß ein Instrument Gottes, um sein Reich heraufzuführen, sondern der Ort Gottes, an dem dieser Gott lebt und sich mitteilt in unsere Welt hinein, an dem aber auch wir eintreten in das Leben Gottes, in seinen neuen und einzigartigen Macht- und Lebensbereich. Leben mit dem lebendigen Gott heißt leben in der Gemeinschaft zwischen Vater und Sohn, die unausweichlich den Geist mit einschließt.

Blicken wir von hier aus auf einen anderen synoptischen Text, einen Schlüsseltext des Matthäusevangeliums, der wiederum das Leben in der Jüngerschaft Jesu von diesem her als Leben miteinander und als Leben mit dem Vater eröffnet. „Alles, was zwei von euch auf Erden gemeinsam erbitten, werden sie von meinem himmlischen Vater erhalten. Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ (Mt 18,19–20) Was also zwei einmütig – symphonisch – vom Vater erbitten, wird dieser ihnen geben. Und warum geschieht dies? Weil dort, wo im Namen Jesu, in seiner Wirklichkeit, zwei oder drei versammelt und geeint sind, er selber da ist. Wo aber er da ist, da ist sein Verhältnis zum Vater da, da tritt er für uns beim Vater ein, und da ist diese Gemeinschaft zwi- [49] schen Vater und Sohn unweigerlich der „Erfüllungsraum“ unseres Lebens und Bittens. Unsere Gemeinschaft miteinander in Jesus nimmt teil an der Gemeinschaft Jesu mit dem Vater, und in solcher Gemeinschaft Jesu mit dem Vater haben wir teil an der alles vermögenden Einheit des Sohnes mit dem Vater.

Bei Lukas steht das Wirken des Geistes in Jesus selbst im Vordergrund. Die an die Person Jesu gebundene, von ihm ausgehende, sich den Glaubenden mitteilende und sie einende neue göttliche Wirklichkeit rückt zusammen mit dem Geist, der Jesus und durch Jesus uns gegeben ist. In diesem Geist aber sind es zwei Dimensionen, die sich als das Neue und Kennzeichnende dessen herausdestillieren lassen, was Jesus in seiner Sendung uns gebracht hat. Einmal ist es der Gott, der durch diesen Geist als der Gott Jesu aufstrahlt: Gott als der barmherzige Vater. Und zum anderen ist es die Universalität dieses Erbarmens, das alle, die ganze Menschheit umfaßt und das gerade die Kleinen und Schwachen, die Sünder und Gescheiterten ans Herz Gottes und in das Herz der Gemeinde hineinzieht. Beide Dimensionen, Gott als der Barmherzige, Gott, als dessen Wesen geradezu das Erbarmen erscheint, und der offene Horizont von Kirche als vom Erbarmen Gottes her lebende und es bezeugende Gemeinschaft, entsprechen einander, sind zwei Seiten einer und derselben Medaille. Dabei aber ist Jesus nicht einfach Bote eines von ihm nur unterschiedenen Vatergottes und Bringer eines wiederum von ihm unterschiedenen Geistes. In aller Unterschei- [50] dung von Vater, Sohn und Geist fällt doch auf, wie Jesus in jenem berühmten Gleichnis vom barmherzigen Vater (vgl. Lk 15,11–32) sein Verhalten gegenüber der Kritik der Pharisäer ineins faßt mit dem Verhalten Gottes; vom Vater sprechend, spricht er von sich, und von sich sprechend, spricht er vom Vater. Der Vater gehört in sein Geheimnis, und er gehört in das Geheimnis des Vaters hinein. So wird gerade alles neu, so ereignet sich die durch die Dynamik des Geistes heraufgeführte und sich in der gesamten Welt und Geschichte ausbreitende Heilswirklichkeit Gottes.

Von diesem Grundduktus führt ein direkter Weg zu den Aussagen der Apostelgeschichte über die Glaubens-, Lebens- und Gütergemeinschaft der Urgemeinde. Die neue Gottesverehrung hängt mit dem Zeugnis der Auferstehung Jesu und dem Zeugnis der neuen umfassenden Gemeinsamkeit zusammen, die im gegenseitigen Austausch aller Gaben geschieht. Es ist wie eine Besiegelung dieser Sicht, wenn der Diakon Stephanus bei seinem Martyrium vom Geist erfüllt den Sohn zur Rechten Gottes – also in der Position der Gottgleichheit – schaut und in dieser trinitarischen Erfahrung das Erbarmen Gottes auf jene herabruft, die ihn töten (vgl. Apg 7,55–60).

Bei Paulus ist der Zusammenhang zwischen dem trinitarischen Gott, der in Jesus Christus aufgeht, und dem Leben des einzelnen Glaubenden wie der Gemeinde ein vielfältig zu beobachtendes Motiv. [51] Die Leidenschaft für die Einheit durchzieht alle Schichten des Corpus Paulinum, also des unter dem Namen von Paulus überlieferten Briefwerkes. Und nie ist dabei ein bloß pragmatischer Gedanke im Spiel, etwa derart: „Einigkeit macht stark“, „Uneinigkeit macht unglaubwürdig“. In der Verkündigung des Paulus wird immer wieder deutlich, daß die Einheit der Gemeinde, ihre Weise, miteinander zu leben, verankert ist in der neuen Botschaft und dem neuen Sein. Dafür ist gerade das 12. Kapitel des 1. Korintherbriefes erhellend. Dort heißt es: „Und keiner kann sagen: Jesus ist der Herr!, wenn er nicht aus dem Heiligen Geist redet.“ (1 Kor 12,3) Der Geist also, der das Innere Gottes kennt, kennt das Geheimnis Jesu in solcher Tiefe, daß der für Gott reservierte Name des Kyrios – des Herrn – das entscheidende Prädikat für Jesus selber wird. Im Geist wird die Einheit von Vater und Sohn und so die neue Sicht des einen Gottes offenbar. So werden die vielen Geistesgaben, die in der Kirche leben, als Ausdruck des einen und einzigen Geistes, die vielen Dienstleistungen, aus denen Gemeinde sich aufbaut, als die vielen Ausprägungen des einen zum Diener aller gewordenen Herrn und die vielen Gotteswirksamkeiten, die zu konstatieren sind, als Zeugnis und Ausfluß des einen Ursprungs, des einen alles wirkenden Gottes gekennzeichnet. Nur in ihrer Einheit miteinander sind diese Gaben, Dienste und Machterweise Gottes nicht bloß interessante Phänomene, die über das Normale und Erklärbare [52] hinausweisen, sondern Wirksamkeit und Präsenz des einen Geistes, Sohnes und Vaters. Und indem sie dieses sind, gehören sie zusammen, bauen sie miteinander den einen Leib der Kirche auf, in welchem Jesus Christus und der in ihm wirkende und wohnende Gott sich in die Geschichte hinein mitteilen.

Am eindrücklichsten und von der inneren Ordnung des Gedankens her am nächsten bei der johanneischen Sichtweise ist im paulinischen Briefwerk der Anfang des 2. Kapitels im Philipperbrief. Da wird zunächst in beschwörender Dichte die Notwendigkeit der Einheit im Leben der Gemeinde vor Augen gestellt: Alle sollen die Gabe, die Würde und das Wohl des je anderen über die eigenen stellen (vgl. Phil 2,1–4). Nur so wird jene Gesonnenheit, jene Denk- und Lebensart der Gemeinde präsent, die Jesus Christus eignet. Diese seine Lebensart, dieses sein ihn kennzeichnendes „Sein“, besteht darin, daß er sich selbst entäußert, daß er den Vater größer sein läßt als sich selbst und daß er, ihn verherrlichend – so aber zugleich vom Vater verherrlicht –, vom Vater her aufgeht in seiner göttlichen Macht und Würde. Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn im Verherrlichen und Verherrlichtwerden ist die „Partitur“, an die sich die Gemeinde zu halten hat, damit die Botschaft von Jesus Christus in ihr zum Klingen kommt und so in ihrer Unverwechselbarkeit identifizierbar wird.

[53] Was sollen in unserem Zusammenhang diese biblischen Hinweise? Sie sollen uns einfach vor Augen stellen: Die Einheit und Einzigkeit Gottes zeigt sich auf eine unerhört neue Weise, indem dieser Gott selber in seiner Einheit und Einzigkeit die Einheit von Vater, Sohn und Geist ist. Damit aber scheint die Liebe – das gegenseitige Einssein – als das innerste Geheimnis des dreifaltigen Gottes auf.

Aber es bleibt nicht allein bei dieser neuen Sicht und bei diesem neuen Sein Gottes, sondern darin sind auch unser eigenes Sein und das Sein überhaupt verwandelt. Unser persönliches Sein ist hineingenommen in die Lebens- und Liebesgemeinschaft zwischen Vater, Sohn und Geist; damit aber kann gar nicht mehr ich selbst und ich allein den einzigen Ausgangs-, Mittel- und Zielpunkt meines Seins darstellen, ich kann das trinitarische Sein nur leben im Miteinander, im Wir, das jedoch das Ich und Du nicht auslöscht, sondern konstituiert.

Auf ein weiteres darf hingewiesen werden: Es genügt nicht, neue Akzente, Kombinationen und Verbindungen in ein gängiges Seinsverständnis einzutragen, sondern das Seinsverständnis selbst wird neu, wenn das Sein neu wird. Sein ist Liebe, ist Beziehung. Dann aber ist Sein Sich-Schenken und – recht verstanden – Sich-Verlieren im je anderen, um so freilich gerade aufzugehen und zu „sein“. Die innere Dynamik der Liebe ist das Bleibende, das Stabile des Seins. Dynamik und Statik schließen einander nicht mehr aus, werden auch nicht nur dialek- [54] tisch miteinander vermittelt, sondern sind der unlösbar eine und doppelte Ausdruck des Ereignisses „Gott“, des Ereignisses „Sein“, des Ereignisses „Mensch“.


  1. Gregor von Nyssa: Hom 15 in Cant (PG 44, 1117A). ↩︎