Linien des Lebens
[33] Durst und Quelle
Welches ist das Menschenbild, welches ist das Gottesbild des vierten Evangeliums?
Es mag merkwürdig klingen: Bei Johannes ist der Mensch das Wesen, das Durst hat. Der Mensch definiert sich durch seinen Durst. Er sehnt sich nach je mehr Leben, und er will diesen Durst aus sich selber stillen können. Er „braucht“ mehr als nur sich selbst, er selbst ist sich nie genug. Zugleich aber möchte er nicht auf etwas anderes angewiesen sein, über das er nicht verfügen kann. Je mehr suchend als nur sich selbst, sucht er doch dieses „Je-Mehr“ in sich selbst.
An drei Stellen bei Johannes stoßen wir auf das Motiv von Durst und Quelle.
Zunächst im Gespräch Jesu mit der Samariterin am Jakobsbrunnen (Joh 4,1–42). Hier begegnet das elementare Mißverständnis des Menschen, der seinen Durst als Durst nach etwas, nach Verfügbarem versteht. Jesus setzt hier an und weist auf die wahre Dimension des Durstes hin: Ausgestrecktsein nach Gott, nach Gemeinschaft mit ihm. Von diesem Durst ist auch die Rede im 7. Johanneskapitel. Am Schlußtag des großen Festes ruft Je- [34] sus aus: „Wer Durst hat, komme zu mir, und es trinke, wer an mich glaubt“ (Joh 7,37).
Dann aber die geheimnisvollen Aussagen der Leidensgeschichte im 19. Kapitel: Der alle Dürstenden zu sich rief, er ruft nun selber seinen Durst in den Himmel hinein, er wird der Dürstende (19,28–30).
Diese Aussagen über den Durst des Menschen haben allesamt mit der Botschaft vom Heiligen Geist zu tun. Das Wasser des Lebens, das Jesus der Samariterin verheißt, wird in dem, der dieses Wasser trinkt, zur Quelle (vgl. Joh 4,14). Die Gabe, die dem, der empfängt, zum neuen Ursprung wird, ist der Geist. Jesu Ruf im 7. Kapitel ist Verheißung des Geistes, der nach der Erhöhung des Herrn ausgegossen wird (vgl. Joh 7,38f.). Und aus dem Gottesdurst des Gekreuzigten entspringt jene Quelle, die aus seiner geöffneten Seite Blut und Wasser und in ihnen den Geist hervorgehen läßt (vgl. Joh 19,34).
Der Mensch: das Wesen, das Durst hat nach dem Unendlichen, nach Gott, nach der Quelle. Durst nach Gott aber legt sich aus als Durst nach dem Geist.
Wer ist nun in dieser Sicht Gott selbst? Es ist eindeutig: Gott ist allem inneren Dualismus enthoben. Er ist Licht, und Finsternis ist nicht in ihm (vgl. 1 Joh 1,5). Er „braucht“ nichts anderes als sich selbst, ist [35] nicht auf einen Prozeß mit seinem Geschöpf angewiesen.
Aber ist Gott wirklich nur der Selbstgenügsame? Ist er jener Einsame, der seinen grenzenlosen Lebensvorrat in sich selber hält und so nur in sich selber kreist? Ist er jener Gott Kants, der in der „Kritik der reinen Vernunft“ vor seiner eigenen Ewigkeit erschrickt, wissend, daß alles von ihm und zu ihm ist – aber es bleibt ihm die einsame Frage: Woher bin ich selbst? Nein, so wenig Gott der Gott des Werdens und des Bedürfnisses ist, so wenig ist er der in sich verschlossene und so gerade sich fremde Gott. Er ist der Gott, der schenkt. Sich mitteilen, dies gehört zu ihm selbst, dies ist er selbst.
Er ist der Gott, der so sehr die Welt liebt, daß er für sie seinen einzigen Sohn – also sich selbst – verschenkt (vgl. Joh 3,16). Er ist der Gott, der seine Gabe – den Geist – ohne Maß, ohne Grenze mitteilt (vgl. Joh 3,34). Und schließlich ist er jener, der im Rhythmus des Verherrlichens und Verherrlichtwerdens dreifaltige Gemeinschaft ist, Vater und Sohn und Heiliger Geist (vgl. Joh 17). Der springende Punkt, an welchem Gott als der Gebende, Sich-Verschenkende aufgeht, ist der Geist.
Der Mensch wird definiert durch seinen Durst, der sich zu verstehen gibt als Durst nach jenem Geist Gottes. Gott ist definiert durch sein Sich-Schenken, [36] und die Gabe, die er als grenzenlose Teilgabe am göttlichen Leben verschenkt, ist sein Geist. Nur in diesem Sich-Verschenken ist Gott über alle Bedürftigkeit und über alle Einsamkeit des Nichtbedürfens zugleich emporgehoben. Nur in dem Auslangen nach dem Geist ist der Mensch erfüllt von dem, was größer ist als er, und wird zugleich zur Quelle, die wie Gott Leben hat, indem sie Leben schenkt.
Im Brennpunkt des Johannesevangeliums steht also der Geist.
Daß er auf Jesus herabkommt und über ihm bleibt, ist für den Täufer das Zeichen, an dem er jenen erkennt, der kommen soll, jenen, der mit dem Geist taufen und so die ganze Fülle Gottes in das Leben der Welt einbringen wird (vgl. Joh 1,32f.).
Auch die Propheten waren Geistträger. Doch der Geist war in ihnen als Wirkkraft, um eine Sendung auszuführen, um ein Werk zu vollbringen. Die Sendung und das Werk Jesu aber erschöpfen sich nicht in einer begrenzten Funktion, sondern der Geist ist gewissermaßen ihr „Selbstzweck“, er ist die Fülle Gottes schlechthin, die ein ganzes, grenzenloses, göttliches Leben, ein Leben mit Gott, in der Gemeinschaft zwischen dem Sohn und dem Vater erschließt. Das Einzigartige, Neue an Jesus ist sein grenzenloser Geistbesitz und die aus ihm hervorquellende grenzenlose Geistgabe. Den höchsten Erweis dafür entdecken wir in der spezifisch johanneischen Osterer- [37] zählung vom Kommen Jesu am Ostertag in den Jüngerkreis (vgl. Joh 20,19–23). Er haucht die Seinen an und sagt ihnen: „Empfanget den Heiligen Geist!“ Was dieser Geist in ihnen wirken soll, ist das schlechterdings Gott Vorbehaltene, die Vollmacht zur Vergebung der Sünden.
Wie aber öffnet sich der Geistbesitz Jesu, die göttliche Fülle in ihm, um göttliche Fülle für uns und in uns zu werden? Eben im Gottesdurst des Gekreuzigten. In ihm übernimmt Gott selber unseren menschlichen Durst, unsere menschliche Angewiesenheit auf Gott, in ihm geht er dorthin, wo wir sind, wir, die wir uns den Geist nicht geben können. In solcher Liebe gibt er den Geist dahin, der ihm zu eigen ist. Weil dieser Geist göttliche Gabe und, mehr noch, göttliches Sich-Geben ist, wird er, weggeschenkt an uns, zugleich zur Herrlichkeit, zum göttlichen Glanz des Sohnes.
Es ist gut, daß der Blick der Theologie und der Spiritualität wieder mehr auf den Geist fällt. Er scheint nicht mehr so ganz und allein der „unbekannte Gott“ zu bleiben. Wir werden diesem Geist aber nur dann gerecht, wenn wir uns nicht auf seine einzelnen Gaben beschränken, sondern ihn selbst suchen: mit dem abgründigen Durst unseres Herzens nach dem einen und einzigen Leben, im Einstimmen unseres Daseins in jene Grundbewegung Gottes: Sich-Schenken, Liebe, Communio.