Glaube ist dem Denken Freund
[109] Die Formel des Anselm von Canterbury von der fides quaerens intellectum, vom Glauben, der sein Verstehen sucht, hat gerade in unserem Jahrhundert einen vielfältigen Widerhall gefunden. Andersheit des Glaubens gegenüber der Vernunft, Wandel des Verhältnisses zwischen Glauben und Vernunft, bleibende oder neu gewonnene Nähe des Glaubens zur Vernunft, das beschäftigt in immer neuen Anläufen die Großen, die als Glaubende sensibel sind für die Gewitter der Zeit.
Glaube, der sein Verstehen, Glaube, der die Vernunft sucht – das ist auch treibende Kraft im Denken, Werk und Leben von Bernhard Welte. Fides quaerens intellectum: der Beitrag Bernhard Weltes zu der Anfrage und Aufgabe, die diese Formel heute uns stellen, gehört zum Wichtigsten, was unser Jahrhundert an Impulsen und Gedanken im Spannungsfeld zwischen Theologie und Philosophie gezeitigt hat.
Wie könnte man diesen Beitrag Weltes auf eine Formel bringen? Vielleicht durch eine neue Übersetzung des Anselm-Wortes. Sie müßte heißen: Der Glaube ist dem Denken Freund.
Die Freund-lichkeit des Denkens zum Glauben
Natürlich beginnt Freundschaft damit, daß ich den ersten Schritt tue, daß ich zum anderen sage: Ich bin dir gut, ich stehe zu dir. Aber dieser Mut zum Anfang, zum Aufbruch, zur Vorgabe hat in sich selbst eine Gegenbewegung und bestätigt sich gerade in ihr. Ich sage dir, daß ich dir gut bin und dich mag, indem ich dir sage: Du bist gut! Der erste Schritt ist schon bei dir, du gehst mir auf, ich spreche nicht von mir, sondern von dir!
Also fängt die Freundschaft des Glaubens zum Denken damit an, daß der Glaube den Mut hat, an die Freundlichkeit des Denkens zu glauben, die Kostbarkeit des Denkens zu entdecken und so die Freundschaft mit ihm zu wagen.
Genau das „passiert“ bei Bernhard Welte. Ich sage es am besten persönlich. Als wir, die ersten Semester nach dem Krieg, an der Universität in Freiburg Theologie zu studieren begannen, gab es eine leise, offiziell gar nicht in unser Studium „eingeordnete“, aber unwiderstehliche Stimme, die uns den Weg wies: eben jene des jungen Privatdozenten Bernhard Welte. Erfahrungen letzter Zusammenbrüche, tiefster Abgründe, Bewährungen und Erniedrigungen zugleich bedrängten uns, drängten uns aber auch zum neuen Anfang. Das stimmige und geschlossene Gehäuse einer davon unberührten geistigen Tradition aber schloß sich nicht auf, um uns einfach so, wie es war, und so, wie wir waren, Heimat zu geben. Glauben ja, aber Glauben wie? Glauben wie ausdrücken, Glauben wie verstehen, Glauben wie verständlich machen? Das waren keine bloß taktischen, keine bloßen Vermittlungsfragen, sondern Fragen, die uns im Innersten sprachlos machten.
Und da stand einer vor uns, der uns in unbeirrbarer Bescheidenheit ein Dreifaches erschloß:
Texte der Schule, Texte, die wir fremd und tot wähnten, begannen zu sprechen, begannen sich selbst und uns selbst uns zuzusagen, Texte der großen Tradition, eines Thomas, eines Platon, eines Bonaventura. Hör‘ unbefangen hin, dann wirst du hier die Quelle hören! Dies war das eine.
Und das andere: Schau dir die Dinge an, die Bewegungen, die Erfahrungen, den Tod und das Leben, die Liebe und die Kunst, den Leib und die innerste Regung deines Betens – und du wirst darin das Unverbrauchte des Ursprungs zu buchstabieren lernen, über alle Entstellungen und Verfremdungen hinweg. Denken als Mitgehen mit dem, was ist, mit dem, was geschieht, Denken als Weg der Freundschaft mit der Wirklichkeit und ihrem ersten und letzten Geheimnis.
Und schließlich: Da waren Stimmen, von denen man sagte, sie seien gefährlich, sie seien jene von der anderen Seite. Man müsse sie widerlegen, man müsse Gegenargumente bereit haben, damit man sie zunichte machen kann. Kant und Hegel, Nietzsche und Jaspers, vielleicht auch Heidegger und noch viele andere. Doch da sagte einer: Hab‘ doch keine Angst, denke einfach einmal mit, versuche von innen dem auf die Spur zu kommen, was solches Denken will und sieht, und du wirst sogleich an Grenzen und an Quellen rühren, an Nachbarschaften und neue Wege von einer anderen Seite ins selbe. Nicht in einem billigen Vereinnahmen oder Vereinnahmtwerden von allem und jedem, aber in einer neuen und keineswegs unbedachten Unschuld.
So haben wir die Freundlichkeit des Denkens entdeckt. Bernhard Welte hat sie uns gezeigt. Die Freundlichkeit jenes Denkens, das auch in den herben Formeln und fremden Sequenzen der großen Tradition lebendig und frisch enthalten ist, jenes Denkens, das nicht sich selber konstruiert, sondern Unbefangenheit des Empfangens und Schauens der Phänomene ist, jenes Denkens, das Verwandtschaft und Freundschaft stiftet auch zwischen solchen, die scheinbar oder auch wirklich von anderen Enden her und auf anderen Bahnen hin ihren Denkweg gehen.
Freund-liches Denken, das ist freilich ein anderes Denken als jenes, das bloß sich selber zelebriert. Denken selbst wird zum Aufgang der Wirklichkeit, zur Freundschaft mit ihr, zur Freundschaft mit dem Leben. Wenn ich einen Freund habe, dann denke ich an ihn. Solches Denken erst zeigt, was wahrhaft Denken ist. Begegnungen gehen weiter, gehen mit mir, gehen in mir auf, Licht, das mich einmal traf, bleibt in mir, schafft sich in mir einen, seinen, meinen hellen Raum. Denken selbst wird Freundschaft, Beziehung, Weg über sich hinaus. Ein solches Denken kann allem, es kann auch und zumal dem Glauben Freund sein.
Die Freund-lichkeit des Glaubens
In solchem Denken – worin denn sonst als in andenkendem, liebendem, marianisch „bewahrendem“ Denken? – entdecken wir sodann die Freundlichkeit des Glaubens. Der Glaube, der zuerst hinausgegangen ist, weg von sich, ins Hinhören auf das, was ist und gedacht wird, er begegnet sich selber neu, erfährt sich neu als den Freund des Denkens und darin als den Freund von allen und allem. Und so gingen uns schon damals in Meditationen und Predigten von Bernhard Welte Worte des Evangeliums, Zeichen und Gebärden, Gewohntes und Ungewohntes christlicher Glaubenswelt auf als Ort der Freundschaft des verborgenen Gottes mit der offenbaren Welt. Vieles, was uns nichts mehr sagte, begann neu zu sprechen. Aber unseren Glauben zur Sprache zu bringen, das ließ uns nie mehr nur unter uns, nie nur allein; Glaube selbst wurde zum Gespräch mit anderen, mit allen, zur Ansprache an andere, die in ihrem Eigenen nun besser zu sehen und zu verstehen waren. Glaube wurde Freundschaft, Freundschaft zum Denken und Freundschaft im Denken zu allen, zu allem.
Die Freund-lichkeit der Welt
In solcher neuer Unbefangenheit des Denkens und des Glaubens geschah es unversehens: Man war mit dem, der diesen Weg einem zeigte, selbst auf dem Weg, und dieser Weg öffnete die Horizonte der Welt. Man lernte in die Nähe schauen, auf die Gräser und Grenzsteine der Heimat, man lernte aber auch hinausschauen über den eigenen Zaun: das Befremdliche der Sprache und der Kunst von heute und die Zeichen versunkener Kulturen rückten gleichermaßen in die Nachbarschaft zum eigenen Leben und Erfahren. Und in allem dem gewann die Freundschaft Gottes zur Welt in Jesus eine neue Nähe und neue Weite. Die Welt selbst wurde zur Sprache dieser Freundschaft, der freundliche Gott und die freundliche Welt rückten zusammen und wahrten doch gegenseitig das je unverletzliche Geheimnis ihrer selbst. So wie Freunde sich nicht auflösen ineinander, weil eben mit der Nähe zueinander auch das Geheimnis des je Eigenen wächst.
Grundwort Freundschaft
Freundlichkeit des Denkens, Freundlichkeit des Glaubens, Freundlichkeit der Welt: das sind Erfahrungen nicht nur einzelner, sondern Ungezählter, die dann in den fünfziger und sechziger und auch siebziger Jahren zu Füßen von Bernhard Welte gesessen sind, um Plätze in Hörsälen und Übungsräumen rangen, mit ihm auf einem Seminarausflug oder einer Exkursion waren, zu ihm durch seine Bücher Kontakt fanden, ihn auf Tagungen erlebten, nicht zuletzt: zu seiner Gottesdienstgemeinde in der [110] Freiburger Universitätskirche gehörten. Die Ansätze der ersten Nachkriegsjahre wurden zur tragenden Struktur eines Lebenswerkes, von dem gerade in den letzten Jahrzehnten sich viele Fäden hinausspinnen in alle Welt, zumal nach Lateinamerika, nach Israel und zum Libanon, aber auch in den Fernen Osten.
Glaube, der dem Denken Freund ist, dieses Programm und dieses Werk können nur gedeihen in einem Menschen, der den Menschen Freund ist. Und so muß in diesem Kontext eben auch der Freund Bernhard Welte zur Sprache kommen.
Viele bedeutsame Menschen haben gute Freunde. Der Wesenszug der Freundschaft ist für Bernhard Welte aber geradezu konstitutiv. Gerade weil er nicht jemand ist, der sich schnell äußerlich in Kontakte hinein verliert. Er bleibt in ihnen zögernd, behutsam, unaufdringlich, in gewisser Weise scheu. Die Freundlichkeit Gottes, die er erschließt, wird von ihm ertastet in der Ehrfurcht vor seinem Geheimnis, die Freundlichkeit des Denkens erschließt sich ihm in der behutsamen Mühe des Mitgehens mit dem Gedanken, des Ablesens der Phänomene. Bis Bernhard Welte mit der Welt bekannt und weltbekannt wurde, hat es eine lange Anlaufzeit gebraucht. So ist auch seine Freundschaft mit den Menschen stets Frucht eines bedächtigen Weges der Annäherung, die frei geschieht und frei läßt. Doch gerade so wird der andere entdeckt und das Selbst eingebracht, wächst Freundschaft, die bleibt.
Große Freunde, die zunächst wie ein fremdes Gebirge erschienen sein mochten, setzen die Vorzeichen vor Bernhard Weltes Lebensbahn: die beiden Meßkircher Landsleute Conrad Gröber und Martin Heidegger, der Erzbischof und der Philosoph. Dann wuchs der Kreis jener, die in einem beständigen und tiefen und erregenden Gespräch mit Bernhard Welte tragend wurden für vieles, was in der Kirche und Gesellschaft nach dem Zusammenbruch 1945 geschah. Es ist schwer, sich nur auf einen Namen hier zu beschränken – doch der Ort, an dem diese Gedanken stehen, aber auch die besondere Tiefe der Beziehung, welche die beiden aneinander band, rechtfertigt es: Karl Färber.
Schließlich ist es kennzeichnend, daß der Horizont der Freunde sich in jeder Lebensphase Weltes neu öffnete, um eine neue Generation mit einzubeziehen. Aus seinen Schülern wurden Freunde, und auch die Schüler der Schüler wuchsen hinein in den Freundeskreis. Was jung ist, was aufbricht, was Hoffnung gibt, aber auch was der Stärkung und des Schutzes bedarf, das darf der Nähe, der Zuwendung Bernhard Weltes sicher sein, tritt ein in jenes Kraftfeld vielfältiger Beziehungen mit ihm und um ihn, in welchem Freundschaft wächst.
Aber nicht nur der jungen Freunde, auch der alten Freunde werden mehr. Der Blick auf die Gestalten der Geistes- und Glaubensgeschichte hat sich für Bernhard Welte nicht auf wenige festgemacht. Er ist unterwegs, er hält nach wie vor Ausschau, neue Begegnungen wachsen ihm zu. Seine Geschichte, die nun 75 Jahre dauert, ist im Gang, ist auf dem Weg.
Bernhard Welte, geb. 31. März 1906 in Meßkirch/Baden, war von 1951 bis 1973 Professor für Religionsphilosophie an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Freiburg i. Br. Er wurde 1929 zum Priester geweiht und war später vierzehn Jahre Sekretär des Freiburger Erzbischofs Gröber. Nach dem Zweiten Weltkrieg wandte er sich der theologischen Wissenschaft zu, habilitierte sich 1946 mit einer Arbeit über Karl Jaspers. Zahlreiche Bücher über philosophische und theologische Fragen, darunter seine „Religionsphilosophie“ (1978), die Aufsatzsammlung „Zeit und Geheimnis“, ein Buch über „Meister Eckart“ und kürzlich „Der Ernstfall der Hoffnung“ (Gedanken über den Tod).